Erwartungen

Geht es um übertriebene Erwartungen, bin ich ganz vorne mit dabei. Ich erwarte grundsätzlich Großes. Dass dieser Wunsch vermessen ist, meistens nicht realisierbar und fast immer in die Hose geht, ist mir dabei egal. Wüsste ich morgens schon, dass mich ein absolut durchschnittlicher Tag erwartet, hätte  ich keine Lust aufstehen. Großes zu erwarten  ist bei mir normal. Ebenso wie die fast immer darauf folgende Ernüchterung. Ich kann gut damit leben. Einen kleinen Rückschlag stecke ich leicht weg. Der nächste Tag verspricht schließlich erneut Großes. Sehr entspannt bin ich dagegen wenn es um Silvester geht. Nach etwa 30 bewusst erlebter Silvesterabende weiß ich, dass die Erwartungen hier schon aus reinem Selbstschutz etwas weiter unten – am besten ganz unten – angesiedelt werden sollten.

Mit dreizehn – und die folgenden zehn Jahre – war ich überzeugt, dass ich in der Silvesternacht küssen musste um im neuen Jahr in Liebesbelangen erfolgreich zu sein.  Zwischen dreizehn und fünfzehn musste ich die Definition der Nacht etwas ausdehnen, da ich noch nicht bis Mitternacht ausgehen durfte. Romantisch waren die Küsse nicht, aber ich habe jedes Jahr ein bereitwilliges Opfer gefunden. Einmal musste ich neben der Nacht auch den Kuss anders definieren. Aber wer so abergläubisch wie ich war, durfte nicht kleinlich sein. Danach wurde es leichter. Ohne arrogant klingen zu wollen – einen Kuss an Silvester abzustauben ist mir danach nie wieder schwer gefallen. Meistens natürlich von meinem damaligen Freund. Das waren die schönsten Küsse und sicher auch diejenigen die am meisten Glück für das kommende Jahr gebracht haben. Nur einmal musste ich notgedrungen einen anderen Jungen küssen. Mein Freund und ich hatten uns so gestritten, dass wir mitten in der Stadt in andere Richtungen gelaufen waren. Wir hatten damals noch kein Handy und verloren uns aus den Augen. Dummerweise fand er mich, als ich den Ersatz-Kuss-Jungen gerade umarmte. Es war nur ein Küsschen, brachte mir aber dennoch jede Menge Ärger ein. Gerettet hat mich vermutlich nur, dass er mich gut genug kannte um zu ahnen, dass ich damals auch eine Straßenlaterne abgeleckt hätte, wenn es als Glücksbringer gegolten hätte.

Der Kuss-Aberglaube verschwand irgendwann. Die Erwartungen an Silvester nicht. Ich habe Schiss vor allzu lauten Böllern, liebe aber die Feuerwerke. Zur Jahrtausendwende schenkte mir mein Freund, der nach dem Fremdküssen lieber auf Nummer sicher ging, eine Reise nach Amsterdam um dort für einen unvergesslichen Jahreswechsel zu sorgen.  Wir platzierten uns in der Amsterdamer Innenstadt zwischen dem Rotlichtviertel und dem Nieuwmarkt und wussten nicht, dass wir in Chinatown waren. Der denkbar schlechteste Platz, wenn man Angst vor lauten Böllern hat. Der Begriff Chinaböller ist kein Zufall. Es war laut. Sehr laut. Und ich hatte Angst. Große Angst. Und vorallem verpasste ich das Feuerwerk zum Millennium. Es war da, aber vor lauter Schwaden an Schwarzpulver sah ich es nicht.   Silvester 2000 war ein Reinfall. Um ein Uhr nachts saßen wir bei McDonalds, tranken einen Kaffee und ich zitterte noch immer. Erst wegen dem Schock der Böller, später wegen der schönsten Liebeserklärung die ich je in einer Silvesternacht bekommen habe. Der Reinfall war vergessen.

Gezittert habe ich Jahre später auch in Italien. Mein Freund lebte damals schon dort und wir fuhren  an die Amalfiküste zu Freunden um den Jahreswechsel  gemeinsam zu feiern. Mein kleines, glitzerndes Kleidchen und die hohen Schuhe mit den dünnen Ledersohlen waren wunderschön. Der Betonbunker in dem die Feier stattfand war es nicht. Er wäre es vielleicht gewesen, wenn ich wie die anderen Gäste einen dicken Daunenmantel und gefütterte Stiefel angehabt hätte. Hatte ich aber nicht. Nasskalte 5 Grad im kleinen Schwarzen sind um einiges kälter als minus 15 Grad in passender Kleidung.  Ich habe stundenlang gefroren. Man hatte Mitleid mit mir und flößte mir ein heißes Getränk ein. Grappa mit irgendeinem Likör gemischt. Mir wurde warm. Und schlecht. In dieser Silvesternacht hielten wir an all den Parkbuchten entlang der Amalfiküste an. Nicht um uns zu küssen und auch nicht um auf die Lichter, die sich im Meer spiegelten zu blicken. Wir hielten an, damit ich mich übergeben konnte. Mein Freund hielt mir aber dabei, sehr romantisch, die langen Haare zurück.

Silvestererwartungen erfüllen sich selten. Vor einigen Jahren war ich mit einer Freundin auf einer unglaublich schicken und hippen Feier in einem Club. Es war so langweilig und unerträglich, dass wir noch während des Feuerwerks in ein Taxi sprangen und zu einem Freund fuhren. Als wir ankamen stand er inmitten von Freunden und Nachbarn auf der Straße und blickte auf die letzten Raketen am Himmel. Die restliche Nacht saßen wir in einer kleinen WG-Küche und wärmten uns bei einem großen Teller selbstgemachter Nudeln und Palm-Schnaps auf. Erwartet hatte ich anderes. Gefunden etwas viel besseres.

Vorgestern saß der, der mir vor Jahren die Haare zurück gehalten hatte, auf meinem Sofa und fragte, was ich an Silvester machen würde. Ich sah das Grinsen in seinen Augen, als ich mit den Schultern zuckte und betont gleichgültig behauptete, dass ich dieses Jahr vielleicht einmal  nichts besonderes machen würde. Er glaubte mir nicht. Egal wie oft ich ihm versicherte, wirklich noch keine Pläne zu haben – er lachte nur. Ich weiß es tatsächlich noch nicht.  Ich habe keine besonderen Erwartungen. Solange es eine fantastische Nacht wird, ich den Mann kennenlerne mit dem ich den Rest meines Lebens verbringe, einen Baum pflanze, im Kreis meiner engsten Freunde bin oder das schönste Feuerwerk der Stadt sehe, bin ich ganz entspannt. Falls Sie noch nicht wissen was Sie an Silvester machen, bleiben Sie München fern – eine Blondine könnte sie hinterrücks anspringen und zu küssen versuchen.

 

27 Gedanken zu “Erwartungen

  1. Hochherzige Frauen haben hohe Erwartungen. Hab sehr gelacht bei der Stelle, wo du eine Straßenlaterne abgeleckt hättest, um deinen Kussaberglauben zu genügen. Und nochmal beim letzten Satz. O Gott, was bist du doch eine herrlich Verrückte, liebe Mitzi. Mich fasziniert auch dein Erinnerungsvermögen. Erstraunlich, was du noch alles zu erzählen weißt. Ich hab nach deinem Text mal versucht, mich zu erinnern und kam gerade auf fünf Silvestererinnerungen Dabei habe ich doch schon ein paar mehr erlebt. Guten Rutsch, meine Liebe!

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  2. Silvester ist magisch……das sehe ich auch so………und zu Silvester und Blondinnen……mit 15 war ich unsterblich verliebt, besagter gab mir den wundervollsten Kuss kurz vor Silvster, um mir als Brünette dann zu erklären, dass er nur auf Blondinen steht ;-)….der Kuss war es trotzdem wert 😉

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      1. stimmt…und wie….;-)….und zu seiner Verteidigung muss ich gestehen, ausser diesen einen Kuss habe ich ihn immer nur mit echten Blondinen gesehen vorher und nachher……ich hätte bestimmt nie mehr daran gedacht, hättest Du nicht eine so coole Silvester Story geschrieben……;-)

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      2. als 15 Jährige fand ich es nicht lustig, ich fühlte mich eher ohnmächtig und dachte über die Macht einer Haarfarbe nach……heute finde ich es amüsant, auch, dass er ein Doktor der Psychologie ist und ob seine Frauen immer noch blond sind 😉

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  3. in der Menge gebadet, einenKranken betreut, ein Kind bespaßt, Karaoke gesungen, singend im Schnee nach Hause gelaufen… auf der Küstenstraße von Amalfi ebenfalls gekotz aber nicht an Sylvester sondern wegen des Fahrstils der Italiener… aber so schön erzählen wie du es tust werde ich es nie können… liebe Grüße vom Blumenmädchen liebe Mitzi 😀

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  4. „Wüsste ich morgens schon, dass mich ein absolut durchschnittlicher Tag erwartet, hätte ich keine Lust aufstehen. “
    Ach, wie köstlich zu lesen, liebe Mitzi! 🙂

    Ob geküsst oder ungeküsst, gefeiert oder nicht,
    wird uns der Zeiger auch dieses Jahr wieder hinüber begleiten.

    Liebe Grüße aus der Silbenkemenate,
    Silbia

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  5. Liebe Silbia, du hast recht – egal wie, wir werden ins neue Jahr rutschen. Ich hoffe für uns, dass ein schöner Abend wird. Vor dem Fernseher, mit Freunden oder auf der Straße ganz alleine das Feuerwerk bewundern…egal, solange wir uns damit wohlfühlen.

    Grüße zurück.
    Mitzi

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