Es gibt Menschen, die präventiv Dankesreden üben. Falls sie unerwartet den Oskar gewinnen, den Schlüssel der Stadt überreicht bekommen oder zum Elternsprecher der örtlichen Vorschule gewählt werden. All das ist in meinem Fall unwahrscheinlich. Punkt eins und drei sogar gänzlich auszuschließen. Eine Rede – oder in meinem Fall – letzte Worte habe ich dennoch parat. Wer so viel und so gerne wie ich spricht, dem widerstrebt es zu sterben ohne das letzte Wort zu haben. Meine letzten Worte sitzen. Ich weiß auch ganz genau an wen ich sie richten würde und heute morgen habe ich sie per WhatsApp geschickt. Sprachnachricht – zum Tippen war ich bereits zu schwach. Fast wäre ich nämlich in der Zwischenwelt der Münchner Verkehrsbetriebe verschwunden. Bevor ich es vergesse – die befindet sich am Harras und nein, es ist keine urbane Legende, dass an den Gleisen immer wieder Menschen auf unerklärliche Art verschwinden. Es ist eine Tatsache und heute morgen hat es mich fast erwischt.
In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag hat es wieder zu schneien begonnen. Dicke, schwere Flocken, die sich über die Stadt legten, als wollten sie all den Dreck und Lärm endgültig unter sich begraben. Den ganzen Sonntag und die ganze Nacht schneite es weiter. Wunderschön, wie Sie rechts sehen. Schnee macht glücklich, wenn er um kurz nach sechs Uhr morgens so wunderschön den Montag begrüßt. Glücklich macht es auch, dass die S-Bahn nur zehn Minuten Verspätung haben soll und der Schienenersatzverkehr erst hinter Schäftlarn und weit von meinem Arbeitsplatz entfernt beginnen soll. Zehn Minuten sind nichts. Zeit genug das Foto an Familie und Freunde zu schicken und sich über die tollen Winterstiefel zu freuen, die Zehen und Knöchel warmhalten, selbst wenn die nur in dünnen Strümpfen stecken. Aus zehn Minuten können fünfzehn werden. Absolut ok. Wir sprechen hier von den Münchner Verkehrsbetrieben, wenn die sich um fünf Minuten verschätzen, applaudieren wir. Zwanzig sind ein Witz, weil dann nix später kommt, sondern schlicht und einfach ausgefallen ist. Ein Witz sind auch die neuen Stiefel, die zwar warm, aber leider nicht wasserdicht sind. 
Trotzdem ist es schön, so früh am Morgen die Stadt beim Aufwachen zu beobachten. Schöner wäre es freilich mit warmen Füßen. Oder wenigstens trockenen. Meine sind jetzt nass und kalt. Das Leder hat nach einer Dreiviertelstunde die Umgebungstemperatur (-2 Grad) angenommen und dünne, nasse Strümpfe nerven. Irgendwann so sehr, dass mir der Schnee auf den Senkel geht. Nur mir, denn keiner meiner Kollegen steht am Bahnsteig. An anderen Tagen flüchte ich vor ihnen, weil ich noch zu müde zum Reden bin, aber heute….niemand da. Überhaupt ist es leer. Dafür, dass ich bereits 65 Minuten hier rum stehe, ist es gespenstisch leer. Mein Handy hat noch Empfang. Das ist beruhigend, so lässt sich ein schwerwiegendes, die Menschheit womöglich auslöschendes und mich vergessene habendes Unglück ausschließen. Man weiß ja aus Filmen, dass in solchen Fällen die Telefone grundsätzlich kein Netz mehr haben. Netz habe ich noch und beschwere mich bei meinen Eltern via SMS, über die Kälte und das Warten. Papa schickt mir einen Nikolaus Smiley und Mama ein Foto der verschneiten Tanne vor dem Wohnzimmerfenster. Danke. Ich werde erfrieren, aber wenigstens im Wissen, dass sie ihre Telefone im Griff haben.
Seit 90 Minuten stehe ich jetzt hier und bin mir sicher, dass die wenigen Menschen, die apathisch und bewegungslos am Bahnsteig stehen, nicht real sind. Keiner schimpft, keiner wundert sich und niemand spricht. Verstummt sind auch die Lautsprecher Durchsagen. Schon vor langer Zeit. Seit 85 Minuten herrscht Stille. Einen Moment noch möchte ich glauben, dass die MVG einfach aufgegeben haben, es für sinnlos erachten immer und immer wieder die gleiche Ansage laufen zu lassen und….aber nein, das gehört zu ihrem Programm. Auch wenn nichts mehr geht, die scheppernden Ansagen laufen immer. Um 08:30 Uhr geht das Licht am Bahnsteig aus und ich bin mir sicher, dass etwas ganz schlimmes passiert ist. Ich schreibs meinem Lieblingskollegen und er antwortet prompt: „Bahn kommt gleich. Ich bin schon drin.“ Ja, sie kam und ich wusste jetzt sicher, dass ich im Nimbus der Verkehrsbetriebe feststeckte. Sie fuhr auf einem Gleis an dem sonst nie etwas fährt. Ein Gleis, das nicht mal einen Bahnsteig hat.
Zeit für die letzten Worte. Ich schrieb sie einer auf die Verlass ist: „Vernichte meine Tagebücher bevor sie irgendeiner aus meiner Familie in die Finger bekommt. Und nicht in die Papiertonne werfen. Ganz wichtig – nicht in die Papiertonne (Frau Obst!!!!)“
Ich war gerade dabei mir aus den Resten von Wegwerfkaffeebechern eine Isolierung für meine Füße zu basteln, als die beste Kollegin der Welt anrief. Sie würde mich jetzt holen, sagte sie. Zu spät hauchte ich schwach. Ich bin im Nimbus. Ein Lachen. Ja wirklich zu spät. Kurz nach neun und sie hätte keine Lust den ganzen Tag mein Telefon im Büro zu betreuen.
Ich habs überlebt. Nur meine Tagebücher sind jetzt weg.
P.S. Wo zum Henker waren Sie alle heute früh?