Bist du glücklich, erkundigt sich Nora am Bahnsteig und ich nicke ungefragt. Nora telefoniert und dass sie Nora heißt, weiß ich nur, weil sie sich gerade eben so am Telefon gemeldet hat. Doch ja, ich bin glücklich, denke ich und sage es nicht laut, weil Nora mit einer mir unbekannten Person telefoniert und sich vermutlich nicht für das Glück fremder Leute interessiert. Das kann ich natürlich nicht wissen, aber ich vermute es. Wenn eine im Berufsverkehr am Bahnsteig mittig auf einer Bank sitzt und die Plätze neben sich Hand- und Sporttaschen blockiert, dann vermute ich ein klein wenig Egoismus. Glücklich bin ich gerade trotzdem. Das habe ich festgestellt, weil Nora die Frage noch einmal ins Telefon gesprochen hat. Ja, doch…ich bin relativ glücklich, weil mir in diesem Moment – außer einem Sitzplatz – nichts fehlt.
Der Bahnsteig-Nora dagegen fehlt etwas. Nämlich die Lust zu einem Abendessen zu fahren, zu dem sie vor über einer Woche eingeladen wurde und das in wenigen Stunden stattfinden wird. So etwas kenne ich. Gerade an einem Montag. Meistens wird es dann aber doch ganz nett. Soweit meine Erfahrung, die ich nicht teilen kann, weil ich nicht gefragt wurde. Ich stehe ja nur neben der Sporttasche und höre einem Gespräch zu, das nicht mit mir geführt wird. Sie müsse auf sich selbst hören, erfahre ich und dass sie – Nora – sich künftig an die erste Stellen wird. Für das eigene Glück muss man schließlich etwas tun. In Gedanken frage ich mich ob dieses eigene Glück dann bedeutet, dass die einladenden Freunde auf ihren Einkäufen sitzen bleiben werden. Die Frage wird beantwortet und ich erfahre, dass Nora in sich reingehört hat und bemerkte, dass sie lieber zu Hause bleiben möchte. Entsprechendes Verständnis setzt sie voraus. Sagt sie. Und dass sie künftig spontan entscheiden möchte, wonach ihr gerade ist. Ich kanns verstehen. Mir wäre gerade auch wirklich danach mich hinzusetzen. Und das signalisiere ich auch mit einem freundlichen Lächeln und einem Deuten auf die beiden Taschen. Als Antwort erhalte ich ein Kopfnicken, in Richtung einer freien Bank am anderen Ende des Bahnsteigs – ohne Lächeln. Danke, aber nein Danke. Telefon-Nora ist genervt. Von mir und von ihrem Gesprächspartner, der sie anscheinend daran erinnert hat, dass sie in letzter Zeit etwas zu oft und etwas zu spontan Verabredungen abgesagt hat. Auch das kenne ich. Meistens bin ich aber in der Position vor einem gedeckten Tisch zu stehen oder an ihm zu sitzen und festzustellen, dass ein Drittel der eingeladenen Personen dem Gastgeber kurzfristig abgesagt haben. Gut für mich, ich bekomme dann oft eine Tupperdose mit den Resten mit. Weniger gut für die, die versetzt wurden.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Es kann immer etwas dazwischen kommen und es gibt Abende, da ist es gesund und wichtig für das eigene Wohlbefinden auch kurzfristig etwas abzusagen. Auch kann, darf und muss man sogar ehrlich sagen, wenn man etwas nicht möchte. Selbst dann, wenn es sich um einen Gefallen oder Freundschaftsdienst handelt. Meinem Nachbarn Paul zum Beispiel habe ich erst gestern ein Glas Milch verweigert. Purer Egoismus, weil ich auf meinen Sonntagmorgenkaffee nicht verzichten wollte. Ein zugegeben blödes Beispiel. Viel wichtiger ist es, im Job zu lernen auch mal nein zu sagen oder als Mutter dafür zu sorgen, nicht komplett unter zu gehen. Seelische Gesundheit und eigenes Wohlbefinden sind wichtig. Dennoch habe ich zunehmend das Gefühl immer öfter von einer Horde egoistischer Self-Care Fanatikern umgeben zu sein. Ich! Erst mal ich, dann lange nichts und dann der Rest, der zu doof ist, für sich selbst zu sorgen. Neulich im Büro machte ich einen Scherz und sagte einem lachend, dass sich dort unter der Arbeitsfläche, auf die er gerade seine Tasse stellt, der Geschirrspüler befindet. Fand er nicht lustig und erklärte mir todernst, dass er dafür nicht bezahlt wird. Ich auch nicht. Und wir beide vermutlich auch nicht dafür, dass wir nach dem Toilettengang die Spülung betätigen und das trotzdem machen. Seit die Lösung für das persönlich Glück mit kompromissloser Selbstfürsorge gleichgesetzt wird, trampeln kleine Teile der Gesellschaft derart rücksichtslos durch den Alltag, dass es nicht einmal Spaß macht über sie zu schreiben.
Darauf habe ich am Bahnsteig auch gar keine Lust mehr, ahne aber, dass ich trotzdem tun werde. Viel mehr Lust habe ich mich jetzt endlich hinzusetzen. Und deshalb sorge ich dann auch für mich selbst, nehme die Sporttasche dieser Nora, stelle sie ihr auf den Schoß und setze mich. Mir war danach, sage ich noch und stecke mir Kopfhörer in die Ohren. Nach Musik ist mir nämlich auch.
Sehr gut:))) Sehr gerne gelesen:)
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Das freut mich. Danke 🙂
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heute morgen sah ich im fernsehen so ein paar selbstfürsorgliche jungspunde, die meinten, die alten seien doch selber schuld, wenn sie überstunden machen (müssen); sie, die jungen, erledigen eben alles viel schneller und effizienter. von dieser „effizienz“ könnte ich ja so manches berichten. die sieht dann so aus, dass ein älterer mitarbeiter ihren scheiß nacharbeiten muss und sie sich beklagen, dass man ihre effizienten lösungen nicht annimmt, weil man eben immer alles schon „so“ gemacht habe. dass ihrer „effizienz“ qualitätsmerkmale und/oder gesetzliche regelungen entgegenstehen … scheiß doch drauf.
manchmal wünschte man sich, die eltern dieser blagen seien so effizient gewesen, sie gleich in der babyklappe abzuliefern; dann hätten sie vermutlich so ein unaufgeregteres, bequemes leben gehabt, wie diese nicht abgegebenen kinder jetzt selbstverständlich für sich einfordern.
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Ja, dieses super schlaue – wir sind jung, wir sind die Welt – kenne ich auch. Nix gegen frischen Wind und neue Ideen, aber manchmal ist es ein reines Rumpoltern ohne die Zusammenhänge zuvor erfragt zu haben. Bzw. die Überzeugung, dass das auch gar nicht nötig ist.
Sehr anstrengend und es macht mit diesen Kandidaten auch keinen Spaß zusammen zu arbeiten.
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„Mir war danach“ … wär mir im Traum nicht eingefallen. Aber so was von treffend – danke, hab ich sehr gerne gelesen.
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Danke, dir. Manchmal hat man Glück und es kommen die richtigen Worte über die Lippen. Bei mir meistens leider erst zu Hause. 😉
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Tolle Schlusspointe, liebe Mitzi, und auch überraschendes Sahnehäubchen auf den vorangegangenen Erwägungen. Außerdem war es schön, mal wieder von Paul zu lesen. 😉
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Danke, lieber Jules.
Bei Paul tut sich auch für meinen Geschmack zu wenig. Ich fürchte der steckt in der Midlife Krise und lässt mich nicht daran teilhaben.
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Liebe Mitzi,
Dein persönlicher Beitrag zum Welt-Glücks-Tag der UNO freut mich. Launig und real.
Guten Frühlingsanfang und schöne Grüße
Bernd
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Lieber Bernd, auch dir einen schönen Frühlingsanfang. Die Sonne gerade stimmt einen so richtig schön ein.
Viele Grüße
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Nora – das liegt übrigens auf Sardinien und ist eine sehr alte Ansiedlung, Sardinien ist nicht nur wegen der fast gleichnamigen Büchsentiere eine Reise wert (warst da schon?), auch seine Pferde sind bekannt und die leider stark frequentierten und so für die Mönchsrobben nicht mehr nutzbaren Grotten – verlangt es nach mehr Selbstbestimmung. Betonung gleichermaßen auf Selbst und Bestimmung. An beidem fehlt es. Das Selbst quillt gezwungen hoch und heraus und findet zu einer Bestimmung, die eben einschließt, dass sie nicht nur ihren Mann, sondern auch die Kinder verläßt.
Alles hat einen Preis und auf einer Bank (das erkennt man schon an seinen Kontobewegungen) ist halt nicht für jeden Platz. Das geht so lange gut, bis die lärmigen Ichs dastehen und sagen, was sie alles von einem möchten. Ach, dass sie kleinlaut bitte sagen? Nein, sie fordern. Steht ihnen schließlich zu. Derart kindlicher Egoismus, dass man sie am liebsten im Puppenhaus einsperren möchte).
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Auf Sardinien war ich noch nie. Ich hoffe, dass ich einmal Gelegenheit haben werde – alles was ich sehe und höre mutet wunderschön an.
Deutlich schöner – wobei das nicht schwer ist – als trampelnde Ichs. Und ja…genau dieses Fordern regt mich immer wieder auf. Und das völlig Unverständnis, wenn ein kleines Bitte erwartet wird.
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Bitte? –
Wie kämen wir dazu!
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*Grins* Ich feier Dich 🤩🙏!
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Danke 🙂 Ich freu mich, dass mein Gepolter nicht zu viel war.
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So so super – ich hätte eine der beiden Taschen ihr schon viel früher auf den Schoß oder sonst wohin gestellt oder gelegt. – Um solche Situationen mit dem Mithören von Gesprächen beneide ich dich ein wenig, denn sonst könnte ich viele, viele fremde Geschichten hören und wo wie du daraus etwas machen. Aber ich müsste so dicht heran gehen, dass es schon nahe an „Körperverletzung“ käme, und das schickt sich nicht. – Und mein „Mithörmikrofon“ kann ich ihr ja auch schlecht an den Kragen heften, um besser zu verstehen.
Aber frau kann nicht alles haben!
Und tschüss!
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Wobei mir die Vorstellung einer Clara, die ganz dicht aufrutscht oder eine Fremde darum bittet lauter zu sprechen auch ganz witzig. Wobei da wahrscheinlich nur ich schmunzeln würde.
Die Frau war ein gutes Beispiel und hatte viel (Vorstellungen) aber wenig Höflichkeit.
Liebe Grüße
Tanja
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Mir geht dieser Trend in Sachen Selbstliebe, Selbstfürsorge, Selbstwasweiβichnichtnochalles so was von auf den Senkel. Heißt es nicht auch so makaber: „Wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist für alle gesorgt.“?
Dabei ist der (Mode-)Begriff „Achtsamkeit“ doch an sich gar nicht in erster Linie auf das eigene Ich bezogen. Ich glaube, da haben viele was missverstanden. Wenn dir das nette „Mir war danach!“ tatsächlich vor Ort eingefallen ist, complimenti! (Mir fallen die passenden Antworten immer erst daheim ein.)
Ich sollte auch mal wieder Bus fahren und zuhören. 😉 Danke fürs Erzählen!
LG Anke
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Ja, da hast du völlig recht. Das mit der Achtsamkeit war eigentlich anders gemeint. Gar nicht leicht diese trampelnde Horde zu ignorieren. Manchmal geht es mir richtig auf die Nerven, dass ich tatsächlich etwas sage.
MIr geht es meistens aber wie dir – normal fällt mir viel zu spät etwas ein. Diesmal hatte ich Glück 🙂
Liebe Grüße
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Wieder einmal super scharf beobachtet und prächtig ins Wort gebracht, liebe Mitzi. Und dieser Begriff „egoistische Self-Care Fanatiker“ 👍😂
Doch sind die wirklich so neu? 🤔
In meiner Fasnachtspredigt von 2006 hiess es schon:
„Was geht‘s dich an, was kümmert‘s dich?
Hauptsache ist, es stimmt für mich!“
Und weiter
„Als Christen tät‘s uns sicherlich
mal gut, im Ernst zu fragen sich,
ob das, was grad mal stimmt für mich,
auch gut uns stimmig ist für dich.
Ja, man staunt, vom „mich“ zum „dich“
ändert sich grad lediglich
ein ganz bescheidenes kleines Zeichen,
und doch, was liess sich da erreichen!
Seh ich mal weg vom ich zum dich,
weitet sich der Blick für mich…“
Das Wording hat sich seither vielleicht leicht verändert, aber sonst… ? 🤔😅
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Aber sonst nicht viel…ganz richtig. Ein neues Wort, aber das alte Gewand. Wäre das nicht eigentlich gruselig, wäre es lustig.
Sehr treffend deine Fastnachtspredigt 🙂 Und schön, sehr schön, der letzte Satz.
Liebe Grüße
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Na, von mir aus kann diese Nora auch am Bahnsteig übernachten… 😉
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Absolut. Oder am besten einfach daheim bleiben. Also sie…nicht wir.
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auch ein thema das mich grade sehr beschäftigt… dieser trend dazu, dass man grade dazu angehalten wird, niemals etwas zu tun, auf das man gerade keine lust hat. wenn du keinen bock hast, sag einfach ab. wenn dir jemand zur last fällt, schmeiß ihn aus deinem leben.. irgendwie keine schöne vorstellung, wie eine gesellschaft sich anfühlt, wo jeder diesen weg geht.
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Überhaupt keine schöne Vorstellung. Es geht hier gerade in die andere Beziehung. Erst galt es als unhöflich für seine eigenen Bedürfnisse einzustehen -was fatal und sehr ungesund ist. Jetzt dreht es sich teilweise in die Richtung unschöner Egoismus. Die Mitte wäre fein.
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Ja das stimmt.. aber es kommt mir vor als wäre „Mitte“ nicht so die große Stärke der Menschen – besonders wieder dieser Tage
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Das glaube ich auch. Mitte kann der Mensch nicht besonders gut.
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leider – das würde einiges auf dieser welt leichter machen…
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