Manchmal seufze ich leise Miststück

Vor 25 Jahren, am 21 Dezember wurde Tim von Claudia verlassen. Mit Tim habe ich nie gesprochen. Nicht vor 25 Jahren und nicht in den Jahren danach. Aber Claudia kannte ich ganz gut. Sie saß in der Schule neben mir weil man mich von Nicole getrennt hatte. Die Trennung von Nicole war eine unschöne Sache gewesen. Sie und ich waren beste Freundinnen und in etwa gleich schlecht in der Schule. Sie etwas schlechter als ich. Vor allem in Stenographie. Dem einzigen Fach, das mir leicht fiel. Minus mal Minus ergibt Plus. Soviel hatte ich in Mathe verstanden und ging daher am Anfang der siebten Klasse dazu über, die Stenoprüfungen sowohl für mich als auch für sie zu schreiben. Da die meisten Lehrer nicht so blöd sind wie man als Vierzehnjährige glauben möchte, wurden wir natürlich erwischt. Erst nach dem Zwischenzeugnis allerdings, was ein großes Glück war. Mit den Einsen und Zweien im Gepäck konnte Nicole die folgenden Fünfer noch halbwegs ausgleichen. Schlimm war aber, dass man uns fortan auseinander setzte. Mein kaltschnäuziges Betrügen – so nannte es die Steno-Lehrerin – musste bestraft werden. Die Strafe war hart. Nicht nur weil ich Nicole vermisste und ab dem zweiten Halbjahr Zettel durch den Raum werfen musste um mich weiter mit ihr zu unterhalten, sondern in erster Linie weil man mich neben Claudia setzte. Claudia, das Miststück. Ich weiß, es ist hart einen Teenager als Miststück zu bezeichnen. Vor allem als 39jährige Frau. Aber sie war eines. Besonders am 21. Dezember vor 25 Jahren.

Es war eine Chemiestunde. Ich weiß es noch genau, weil die Chemiestunden an mir vorbei geschwappt sind ohne das etwas hängen blieb. Schuld war Herr Goßler. Ein Mann weniger Worte und ein Mann dessen Versuchsaufbauten nie funktionieren wollten. An manchen Tagen war er so frustriert, dass er  Schwester Ehrenfrieda (Nonnenschule – sparen Sie sich ihre Witze, ich kenne sie alle) zur Hilfe rief. Dann verschwand er für 30 Minuten um die Schwester davon zu überzeugen, dass sie ihren Tee im Lehrerzimmer im Stich ließ und ihm unterstützend beistand. Den Tee ließ sie nicht im Stich. Schwester Ehrenfrieda brachte ihn mit. Mit der Tasse in der Hand gab sie die restlichen 15 Minuten Anweisungen und  wir Mädchen hatten reichlich Zeit uns zu unterhalten. An jenem Tag erzählte mir Claudia, dass sie mit Tim Schluss gemacht hat. Einfach so. Vermutlich nicht einfach so, aber für mich als Vierzehnjährige war es unvorstellbar sich von seinem Freund zu trennen. Damals war ich überzeugt, den meinen zu heiraten, ihm Kinder zu gebären und den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen. Claudia nicht. Claudia trennte sich, weil Tim etwas blödes gesagt hatte. Ich weiß nicht mehr was, aber ich erinnere mich, dass ich es gar nicht so blöd, sondern eigentlich ganz richtig fand. Claudia sah das anders und während ich noch überlegte ob Tim nicht eigentlich recht gehabt hatte, sagte Claudia das bösartigste und gemeinste was ich in meinem Leben bisher gehört habe. Nicht dem vierzehnjährigen Leben, sondern auch dem neununddreißigjährigem Leben. Sie sagte, dass sie mit dem Schlussmachen bis zum 21. Dezember gewartet hatte. Das ist bekanntlich der kürzeste Tag des Jahres und demnach auch die längste Nacht des Jahres. Sie sagte: „Er soll sich durch die Nacht heulen. Durch die längste Nacht. Und wenn er aufwacht, wird´s gar nicht erst richtig hell. Und Weihnachten ist er Single, der blöde Arsch.“ Ich fand es schlimm. Nicht nur schlimm. Ich fand die Vorstellung in der längsten Nacht des Jahres, den größten Schmerz des Jahres ertragen zu müssen grausam. An diesem Tag schwor ich mir, dass ich andere Menschen nur im Frühsommer verletzen würde. Der Gedanke sie gar nicht erst zu verletzen, kam mir erschreckender Weise als Teenager nicht. Mit Claudia sprach ich nach diesem Tag nicht mehr. Kein Wort mehr für die restlichen Schuljahre. Ich glaube sie hat es nicht verstanden, es war ihr aber wohl auch egal. Meine Noten waren nicht gut genug um sich mit mir gutzustellen.

Claudia wusste damals nicht, dass Tim schon an Sylvester eine neue Freundin hatte. Ich sah es auf der Feier im Pfarrheim und fand, dass er ruhig ein wenig länger hätte trauern können. Beide würden sich wundern, dass ich noch heute jedes Jahr an sie denke. An Tim mit einem leisen Seufzen und an Claudia mit einem herzhaften, laut ausgesprochenem   „Miststück!“. Ich weiß natürlich, dass es nicht besonders erwachsen ist. Deshalb denke ich heute, nach 25 Jahren auch lieber an Claudia, indem ich ihr für die Sammlung an Lehrersprüchen danke. Die sammelte sie in unserem letzten Jahr und tippte sie für die Abschlusszeitung ab. Das Titelbild ist ein Auszug von Herrn Goßler (Chemie & Physik). Ganz unten…Frau Wiegele, die ihre Schülerinnen ohne mit der Wimper zu zucken als blöde Kühe und dumme Gänse bezeichnete. Wir hatten sie sehr, sehr gerne.

Und Sie? Spielen Sie mit dem Gedanken ihrem Partner vom Seitensprung im Herbst vor acht Jahren zu erzählen? Überlegen Sie ihren Kindern mitzuteilen, dass sie die finanzielle Unterstützung kurz vor dem Staatsexamen streichen werden oder wollen Sie ihrer Mutter all das sagen, was sie sich bisher verkniffen haben? Warten Sie damit bis Juni. Oder kommen Sie wenigstens nach München. Da ist es heute eine Dreiviertelstunde länger hell als in Berlin. Oder lassen Sie es am besten ganz – das Verletzen und Wehtun. Zumindest das unnötige. Wir sind ja keine vierzehn mehr.

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27 Gedanken zu “Manchmal seufze ich leise Miststück

    1. Früher konnten einem die Lehrer noch viel mehr verbal um die Ohren hauen. Geschadet es auch nicht. Meine Lehrer zumindest konnten sich herrlich aufregen, waren aber allesamt warme und herzliche Menschen.

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  1. Wunderbar, dass du die Muße genutzt hast, mal 25 Jahre zurückzuspringen, und wir erleben Mitzi als Schülerin. Ich lese erstaunt, dass du Stenographie gelernt hast – bei dieser sprachlichen Begleitung. 😉 Aber der Herr Gabelsberger wird wohl auch so geredt ham. Ich stand mal an seinem verschneiten Grab auf dem Friedhof im Glockenbachviertel. Toll, dass du das Schreibmaschinen-Dokument für die Abizeitung noch hast und zeigst. Beim Herrn Goßler und seinem nicht funktionierenden Versuchsaufbau musste ich schmunzelnd an den Pauli-Effekt denken https://de.wikipedia.org/wiki/Pauli-Effekt
    Aber erschüttert bin ich über die Bosheit von Claudia. Zum Glück bin ich nie an so eine geraten. Da tun sich ja Abgründe auf, und zu Recht seufzt du “ leise Miststück“ . Das kannst du sogar laut sagen. Dieser dein Text ist mal wieder vorzüglich geschrieben, wie immer flott, flüssig und voller Energie. Glückwunsch!

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    1. Ich musste mich bei der Auswahl der Lehrer in diesem Text ein wenig zurück halten. Drei oder vier von den in meiner Abschlusszeitung zitierten Personen unterrichten heute noch meine Nichte. Der heutige Rektor ist mein ehemaliger Mathelehrer und legte mir am letzten Klassentreffen nahe, seine Autorität künftig bitte nicht vollends zu untergraben. Die Stenolehrerin kann unmöglich noch leben. Nach eigener Aussage hatte sie nämlich schon Franz Beckenbauer die Kurzschrift beigebracht – vermutlich ist er deshalb Fußballer geworden.
      Danke für das Kompliment, lieber Jules.

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  2. Claudia mag ja boshaft gewesen sein, aber was ich ich auf dem Spielplatz erlebt habe…….Mädchen droht Jungen (4 Jahre alt) …Wenn Du mich nicht……., schlage ich Dich so….(ok noch nachvollziehbar als Feministin)…, dass Du Dich NIEMALS erholst……das Designerkleidchen schien das Niveau nicht zu heben …oder doch ?

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  3. Ich musste eben schmunzlen…..die armen Jungs. Mädchen dürfen zuhauen, Jungen nicht? Obwohl ich Frau bin, finde ich das auch bei Erwachsenen unfaire. Natürlich soll ein Mann einer Frau keine Ohrfeige verpassen, aber umgekehrt auch nicht.
    Desingnerkleidchen senken das Niveau. Ich komm aus München, ich weiß das 😉

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  4. „Mein kaltschnäuziges Betrügen“ – eigentlich eine menschliche Hilfeleistung, so dachte man als Vierzehnjährige wohl eher.
    Wie berechnend Menschen verletzen können, das gibt schon zu denken. Allerdings auch, dass Mitzi ein gutes Herz haben muss, wenn die Begebenheit nun schon so lange und immer wieder aufgefrischt aus dem Gedächtnis springt und die tiefgehende Phrase mit dem Miststück herausbefördert… 🙂

    Möge es viele gute Träume geben in der längsten Nacht!

    Liebe Grüße,
    Silbia

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    1. Um ehrlich zu sein – das war damals kein Spicken mehr, das war schon wirklich dreist. Aber mit vierzehn hielt ich es wirklich für einen Freundschaftsdienst. Wegen Steno sollte niemand sitzen bleiben. Womöglich ist die arme Claudia längst eine tolle, warmherzige Frau geworden. Ich nehme den Text als Abschluss. 🙂

      Auch dir gute Träume und eine sternenklare Nacht.

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  5. Das ist eine herrliche Geschichte, aus 25 Jahren Abstand betrachtet 😉 Das ist auch das schöne an leider viel zu seltenen Klassentreffen, man wundert sich, was man selbst von anderen und was andere von einem selbst noch alles wissen. Die „Claudias“ hab‘ ich auch als junger, von Liebeskummer geplagter Mensch nie verstanden, und das mit der „längsten Nacht des Jahres“, das ist wirklich was, was ich auch nicht vergessen hätte. Wobei es der eigentlich Betroffene noch nicht mal gemerkt hat, so wie es aussieht. Ich musste auch schmunzeln, beim doppelten Steno-Arbeiten-schreiben. So ging es bei uns im Englisch-Unterricht bei Klassenarbeiten auch zu, der Lehrer hatte 5(!) verschiedene Gruppen gemacht, noch beim Austeilen wurden die Blätter von uns schnell so vertauscht, dass der jeweilige Nachbar möglichst die Gleiche hatte. Am Ende hatte ich dann meinem Nachbarn die Arbeit noch mit gemacht. Auf Grund des Zeitmangels wurde mir dann unter jeder Klassenarbeit die Schrift mit ungenügend testiert. Wir sind heute noch gut befreundet. Hihi, herrliche Erinnerungen. Und obwohl grösstes Chaos immer im Englischunterricht geherrscht hat, hab‘ ich bei dem Lehrer viel Englisch gelernt. VG Willi

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    1. Danke für diesen schönen Kommentar. Die Geschichten aus der Schulzeit, bleiben uns allen wohl sehr lange erhalten. Wie gemein, da schreibt man zwei gleich zwei Arbeiten und dann scheitert es an der Schrift.

      Liebe Grüße
      Mitzi

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      1. Gern 🙂 Wir sind in guter Gesellschaft; Zitat Helmut Schmidt: „Ich war als Schüler relativ faul. Was mich nicht interessiert hat, habe ich nur flüchtig gemacht. (…) Meine Frau und ich waren ja in derselben Klasse; wir hatten eine ähnliche Handschrift, und es ist vorgekommen, dass Loki meine Hausaufgaben in mein Heft geschrieben hat, zum Beispiel in Mathematik, da war sie besser.“ (In der „Zeit“, 2008). VG Willi

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  6. Am Anfang musste ich noch lächeln, dann sogar lachen und als Claudia dann ihre Begründung raushaute ist auch mir ein „Miststück“ über die Lippen gekommen.
    Ich wurde selbst erst vor kurzem verlassen und das war auch unfassbar miststückhaft. Aber Claudia ist einfach….puh….mit 14!!!!

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    1. Ein so gemeine Satz, bleibt hoffentlich die Ausnahme. Obwohl ich fürchte, dass eine Trennung egal wie immer weh tut. Ich wünsche dir dass das miststückhafte nicht allzulange nachhallt.
      Ganz liebe Grüße
      Tanja

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  7. Sinnierende Mitzi

    ein für Mich schwer erträgliches Geschehen schilderst Du da
    Mit einer Wahrheit warten aus Rachsucht ist ein Selbsturteil
    Ich bin Scheidungsvater und habe das Kind adoptiert das Meine damalige Frau während der Ehe
    mit einem anderen Mann zeugte den Sie dann schwanger verließ,,,
    Etwa dreijährig abends im Bettchen beim Vorlesen erklärte Sie Ihm ohne Mein Wissen
    plötzlich Ich sei gar nicht Sein Vater
    Diese Seele steht heute noch unter Schock
    Nur“ Miststück“ ist eine sprachliche Handgranate und Fehler seien sie ethisch moralisch kann Ich keinem Mensche vorwerfen Darin zeigt ein Mensch nur wie Er zu Sich Selber steht
    Entzweit zerissen und verletzt
    Die Medien sind voll von Schilderungen niederer Dramen doch ein Ego der Angst benutzt Waffen
    die verletzen sollen Eckart Tolle hat in YouTube zwei kleine Beiträge über das Wesen des
    „Schmerzkörpers“ gesprochen Siehe auf Wikipedia danach…

    „Menschsein heißt leiden“ schrieb Ich als Jugendlicher
    Mensch werden ist lieben heute als Inneres Kind erwachsenes Ich

    danke
    Dir Joachim von Herzen

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