Spring, riefen wir Jahr für Jahr in den letzten Sekunden des alten Jahres während wir in unseren Jacken nach Feuerzeugen suchten und uns in den Hauseingängen versteckten, weil die ersten Raketen grundsätzlich in achtlos geleerte Flaschen gesteckt, abhoben. In wechselnder Besetzung, aber immer gemeinsam und nie allein, sprangen wir am letzten Tag des Jahres mit Anlauf in die ersten, noch ganz frischen Minuten Januars. Der Letzte eines jeden Jahres ist so voll gepackt mit Erinnerungen und Erlebtem, dass ein weiterer letzter Tag des Jahres immer in Konkurrenz mit seinen Vorgängen steht. Es gab Zeiten, da war es anstrengend all die Feste und Feiern noch zu toppen oder ihnen zumindest eine ähnliche Wertigkeit wie den vorausgegangenen zuzuschreiben. In manchen Jahren war es sogar gut, an Silvester krank zu sein. Da konnte man mit einem Menschen alleine auf dem Sofa liegen und war von der Verantwortung befreit, einen ganz besonders tollen Abend und eine endlosen Nacht zu haben. An diesen wenigen Abenden war es schön um Mitternacht leise „spring“ zu flüstern und in den Armen des Lieblingsmenschen kurz nach Mitternacht einfach in den nächsten Tag zu rutschen. Eine Pause von all den Erwartungen, bot erst wieder eine grellrot leuchtende Corona Warnapp und ein positiver Schnelltest im letzten Jahr. Da kann ich einen der die Klospülung entkalkte, einen der sein Bücherregal endlich sortierte und mich, die alleine auf dem Sofa saß und das erste Mal zu niemanden „spring“ flüstern konnte. Dieses Jahr kann ich es. In kleiner Runde aber immerhin. Gesprungen bin ich aber schon gestern. Mit Anlauf und weil es eigentlich ja völlig egal ist, wann man ein Jahr für beendet erklärt.
Eigentlich springt man auch nur an Abenden die perfekt sind. Nicht perfekt weil spektakulär, sondern perfekt weil nichts an ihnen anders sein sollte, als es ist. Neben einer Freundin stehen, die man – ohne Übertreibung – sein ganzes Leben lang kennt, ist ziemlich perfekt. Ein Glas Rosé, unbeschwertes Lachen, und das Gefühl, neben sich einen Menschen zu haben, der einen in und auswendig kennt – schön. Besonders schön, weil sich kennen in einer Freundschaft auch akzeptieren bedeutet. Wer sich über so viele Jahrzehnte kennt, der hat sich längst entschieden, ob er eine Freundschaft aufrecht erhalten möchte und verzichtet auf alberne Filter. Mit ihr bin ich gestern gesprungen. Über die riesigen Bodenplatten der Altstadt und des letzten Jahres. Durch den Staub, der sich hartnäckig auf ein Leben legt, weil es ab einem gewissen Alter nicht mehr so glänzt, wie man es sich mit Anfang 20 vorgestellt hat. Vorbei an funkelnden Lichtern in Schaufenstern die das Gerümpel in unseren Kellern und Köpfen vergessen lassen. Wir wissen um unsere Päckchen, die wir uns herumschleppen und versichern uns abwechselnd, dass das alles schon passt. Und wenn es nicht mehr passt, dann werden wir gemeinsam das eine oder andere umpacken um- oder wegstellen. Nur wenig ist so, wie wir es uns irgendwann einmal vorstellten. Und doch ist es schon gut so, wie es ist. Ziemlich gut sogar und das nach einem Jahr wie diesem. Wir sind Sommerkinder und denen sagt man nach, dass sie glücklich sind. Vielleicht liegt es daran. Vielleicht aber auch weil wir im Zweifel zusammen springen können. Nicht nur einmal im Jahr sondern immer. Ins kalte Wasser, über unsere Schatten, über Bäche, auf die Nase vor allem aber in die Arme der anderen. Spring!, du allerbeste meiner Freundinnen. Und verrate mir bei Gelegenheit ob du heute morgen auch ein wenig verkatert warst. Der Wein muss schlecht gewesen sein, nicht wahr?
Der Wein war also schlecht, höre ich einen schmunzelnd fragen und ziehe die Decke fest über meinen Kopf. Am Neujahrsmorgen bitte keine blöden Fragen. Neujahrsmorgen, höre ich es gedämpft lachen und nicke. 2021 ist vorbei. Ich bin schon gesprungen. Mit etwas Vorsprung, aber umso schöner. Das 2021 Gerümpel ist noch da und liegt neben mir. Da müsste man Ordnung schaffen, aber nicht heute, nicht am Neujahrsmorgen. Wenn es mir Kaffee ans Bett bringt, darf es sogar bleiben. Für ein geordnetes Leben ist es eh zu spät. 2022….wie konnte das denn passieren?