Vom Entkalken und Abbrennen von Streichhölzern oder 2021

Alles gut bei ihm, schreibt er. Er würde den Abend zum Entkalken des Toiletten-Spülkasten nutzen. Was man an einem Abend im Jahr 2020 eben so machen würde. Der trockene Humor des besten meiner Freunde bringt mich zum Lächeln und die Gewissheit, dass er nicht scherzt, sondern den Silvesterabend tatsächlich mit dieser profanen Tätigkeit zu verbringen gedenkt, vertreibt ein wenig meine schlechte Laune. Eigentlich sollte er gerade hinter mir in meiner kleinen Küche stehen und den Wein entkorken, während ich das Auberginencurry abschmecke und später mit mir auf dem Sofa lümmelnd in das neue Jahr gleiten. Noch eigentlicher sollte er den Wein entkorken und sich um das Curry, das ich zu kochen versprochen hatte kümmern, während ich im Bad stehe und mich wie jedes Jahr viel zu spät fertig mache, damit wir einer jahrzehntelanger Tradition folgend um Mitternacht weiteren Freunden in die Arme fallen und mit Anlauf in das neue Jahr springen. Dieses Jahr also ein Toiletten-Spülkasten. So viel Rationalität passt zu ihm und auch zu den letzten  Stunden eines Jahres in dem einem das eigene Handy mitteilt, dass auch eine zweite Person vielleicht noch zu viel an Gesellschaft ist. 

An meinen Spülkasten komme ich nicht ran und auch sonst habe ich nichts zu entkalken. Die Auberginen schmecken bitter und das was er, der Beste, so gut kann, gelingt mir nicht. Der Rucksack an Erinnerungen an unzählige Jahreswechsel ist randvoll und mir heute an diesem seltsamen Silvester ein wenig zu schwer. Ich könne mich ja um Mitternacht mit einer Wunderkerze oder wahlweise einem Streichholz auf den Balkon stellen, empfiehlt der mutigste meiner Freunde und verschluckt sich bei dieser erbärmlichen Vorstellung am eigenen Lachen. Nein, revidiert er, vielleicht doch einfach ins Bett gehen – das zumindest sei sein Plan. Beide Freunde schicken mir noch einige Nachrichten, wahrscheinlich weil sie mich gut genug kennen um zu wissen, dass Silvester alleine etwas ist, dass mir überhaupt nicht taugt. Um Mitternacht sitze ich auf der Holzbank auf meinem Balkon und zünde ein paar Streichhölzer an. Neben mir einer, dessen Gesicht sich nur in der Scheibe spiegelt und dessen Körperwärme seit vielen Jahren fehlt. Er ist klug genug, den Mund zu halten, während die ersten drei Hölzchen abbrennen und die Kirchenglocken zu läuten beginnen. Erst als der letzte Glockenschlag verklingt, flüstert er leise: „Spring!“ Ich schüttle den Kopf und rutsche, schlittere und falle in das neue Jahr – aber auch nur, weil es  noch keiner geschafft hat, im alten zu verweilen. Hopp, sagt er und könnte er noch, würde er mich leicht anstupsen. Ähnlich sensibel wie meine anderen Freunde erinnert er mich daran, dass es weiß Gott schon schlimmere Nächte gegeben  hat. Daran könne ich denken, schlägt er vor und verzieht dann schmunzelnd das Gesicht. Vielleicht doch nicht, das würde es wohl nicht besser machen. Ich höre sein Lachen und könnte ich noch, würde ich ihm meinen Ellbogen in die Rippen stupsen. Blöd sein sie, sage ich und schmeiße das letzte brennende Streichholz über den Balkon. Sehr gute Idee höre ich ihn murmeln und hoffe, dass es nicht in den dürren Blumenkästen der Nachbarn unter mir landet. Spring du, sage ich ihm, das kannst du doch besonders gut. In der Scheibe verzieht sich das Abbild seines Gesichts und sein Lächeln wird bitter. Blöde Kuh höre ich ihn und lächele. Blöde Kuh und rationaler Idiot – Prost Neujahr. An diesem Abend bleibt er noch ein bisschen. Bleibt während es bis kurz vor ein Uhr nachts in den leeren Straßen knallt und zischt und ich mich endlich Bettfertig mache. Es war weiß Gott nicht mein schlimmstes Jahr. Es war nicht schön, das ganz sicher nicht. Aber es hatte schöne Momente – sehr schöne Momente. An die denke ich, während auf der Bettkante einer sitzt, der längst nicht mehr bei mir ist, während einer in Italien wahrscheinlich längst schläft und während in einer Schwabing Wohnung über Nacht ein Toiletten Spülkasten entkalkt wird. 

Am ersten Tag 2021 scheint die Sonne und ich fühle mich verkatert obwohl ich nichts getrunken habe. Wahrscheinlich war es wirklich an der Zeit, dass 2020 zu Ende ging. Obwohl ich es nicht missen möchte, am Ende wurde es dann doch anstrengend. In Schwabing funktioniert eine Toilettenspülung wieder einwandfrei. In Italien ist einer vielleicht schon wach und hier bei mir brennen jetzt in der beginnenden Dämmerung noch die letzten Kerzenreste. Morgen kommen sie weg und der Adventskranz wieder in den Keller. Heute aber ist mir das zu anstrengend. Heute erhole ich mich von 2020. 

21 Gedanken zu “Vom Entkalken und Abbrennen von Streichhölzern oder 2021

  1. Dieser Rucksack voller Erinnerungen an frühere Jahreswechsel bekommt nun einen besonderen Toilettenspülkastenmoment hinzu…
    Anschaulich schöner Bericht über dieses seltsame Silvesterding…
    Alles Gute wünscht
    Sonja

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  2. Erinnerungen, gute und schlimme, liebe Mitzi, können einen in einsamen Silvesternächten begleiten. ich denke an die, die nicht mal Erinnerungen haben, weil sie zu jung dafür sind. Wie es ihnen wohl in solchen Nächten geht?
    Aber nun, genug von Silvester! Das Neue Jahr stellt Ansprüche an unsere Präsenz. Sei von Herzen gegrüßt! Gerda

    Gefällt 3 Personen

    1. Schön gesagt, liebe Gerda.. Schluss mit 2020 – was war, war und was kommt wird sich zeigen. Wir sollten uns darauf freuen. Etwas gutes war noch immer dabei. Liebe Grüße und ein gesundes, frohes und schönes 2021

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  3. Silvester feiere ich nicht. Früher habe ich, da ich in der Nacht doch nicht schlafen konnte, immer die Unterlagen für die Steuererklärung sortiert. Diesmal bin ich nach einem guten Essen früh schlafen gegangen. Aber der Spülkasten müsste auch einmal entkalkt werden…
    Wie auch immer, ich wünsche ein gutes Jahr 2021. Das alles geht früher oder später vorbei, und wir werden das überstehen.

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    1. Danke, das wünsche ich Dir auch. Eigentlich idiotisch eine einzelne Nacht zu etwas besonderem zu machen nur weil die Jahreszahl sich ändert. Nun habe ich das auch einmal probiert. Gibt schlimmeres ;).
      Wir werden alles überstehen, allein schon weil es ja nichts hilft. Liebe Grüße

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  4. Das klingt nicht nach einem rauschenden Fest, aber man liest neben den traurigen die guten, bewegenden Momenten deutlich heraus. Ich meine, das klingt nach einem würdigen Abschluß für 2020 und lässt Hoffnung für 2021. Passt! 🙂 Alles Gute

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    1. Genau! Es passt 🙂 Rauschen war es nun wirklich nicht, aber es hat zu diesem Jahr gepasst. Da ist alles etwas anders gewesen. Aber wie du ganz richtig schreibst, bei weitem auch nicht alles schlecht. Alles Gute auch dir und liebe Grüße

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  5. einfach nur ein stilles herz für dich und den, der besser springen kann als du und natürlich auch die anderen beiden, die zum glück noch da sind, wenn sie am 31. auch nicht „da“ waren ❤

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  6. Ist dieser Kasten entkalkt, läßt sich besser hinabspülen. Gleichwohl wird es immer Dinge geben, die nicht rutschen wollen, hinderlich hängenbleiben, oft mit schlechterem Nachgeschmack als die Auberginen.
    Doch wie oft fällt einem etwas zwischen Ohrstecker und Handy in die Tiefe des endgültigen Vergessens, das da gar nicht hinsollte, hingehört?
    Und so bleibt es dabei. Wir denken, wir erinnern, wie sehen vor Augen: was bleibt. Und das ist nicht unbedingt immer das, was wir ausgewählt, bewußt gewählt, gemocht haben.
    Sondern ein bunter Strauß. In den sich eben auch Unkraut mischt neben den schönsten Blumen, alles verdorrt gemeinsam, manches gibt einen Trockenblumenstrauß, manches wandert rasch auf den Kompost, manches wird in einem Eck vergessen und bringt sich überraschend in Erinnerung…

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    1. Wenn du alte Texte kommentierst muss ich manchmal nachlesen – den hier kenne ich noch gut. Ich bin mir nicht sicher ob er nicht wieder aktuell wird in sechs Wochen. Falls ja, werde ich mir dein Bild vom bunten Strauß vor Augen halten, das mir sehr gut gefällt. Ich bin optimistisch. Ruhig wird es sicher noch werden dieses Jahr, aber die Chancen auf ein kleines Anstoßen bestehen und ich glaube darauf hätte ich am meisten Lust. Nächstes Jahr werden wir sehen, was geblieben ist.

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      1. Wenn ich keinen neuen entdecke, dann schau ich auch mal einfach weiter unten (es könnte auch passieren, dass ich dann schon mal kommentiert habe und es unwissentlich noch mal tue), einfach weil ich Zeit und Lust habe. Und wenn mir dann etwas durch den Kopf geht oder gar sich wie hier wasserfallartig aufdrängt, na, dann schreib ich halt (man kennt das ja, nicht wahr?) –
        ein kleines Pling, zum Anstopen schon mal! Es wird schon werden!

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