„Das ist mir das Leben schuldig, verstehst du?“, erklärt die Frau schräg neben mir, ihrer Arbeitskollegin. Seit es kühler geworden ist und öfter regnet, begleitet mich ihre Stimme auf dem Weg zur Arbeit. Sie und ich steigen morgens an der gleichen Haltestelle ein und sitzen uns häufig gegenüber. Ich mag ihre klare und dunkle Stimme, verstehe aber auch nach zwei Wochen noch immer nicht, warum ihr das Leben etwas schulden sollte. Der Pakt, den sie bei ihrer Geburt mit dem ganzen großen Universum geschlossen zu haben glaubt, steht für mein Empfinden auf einem doch recht wackligem Fundament. Sie ist jetzt fünfundvierzig, höre ich sie sagen, da stehe es ihr doch zu, sich einen anständigen Urlaub leisten zu können und nicht mehr an einem mittelklassigen spanischem Strand zwischen lauter Großfamilien liegen zu müssen. Sie sagt es nicht zu mir. Wir kennen uns nicht. Wir sitzen nur zufällig nebeneinander. Und weil wir uns fremd sind, kann ich sie nicht fragen, wie sie denn auf die irrwitzige Idee kommt, dass ihr das Leben etwas schulden sollte. Schließlich hat sie selbst weder zu ihrer eigenen Geburt noch zum Erreichen des fünfundvierzigsten Lebensjahres etwas nennenswertes beigetragen. Sie, die mir in der U-Bahn gegenüber sitzt, hat viele Träume. Einen Teil davon habe ich in den letzten Tagen mitbekommen. Eine Wohnung mit einem anständigen Balkon, das würde ihr nach all den Jahren mit einem Wohnzimmer Richtung Norden zustehen. Auch ein besser bezahlter Job. Der aber nur für die nächsten Jahre, denn mit Fünfzig hätte sie keine Lust mehr täglich in die Arbeit zu fahren. Dann würde sie sich gerne im Süden niederlassen und dort ab und an ein paar Yogastunden geben und ansonsten als Lebensberaterin tätig sein. Natürlich auch ein Mann, der ihren Ansprüchen gerecht wird und eigentlich wäre sie schon lange an der Reihe um endlich einmal den Lotto Jackpot zu gewinnen. Weiterlesen
Träume U-Bahn Gedanken
