Theorie und Praxis – Teil 1

Eines möchte ich vorweg nehmen. Die folgenden Zeilen dürfen keinesfalls als Hilfestellung für ein strukturiertes und organisiertes Auswandern gesehen werden.  Allenfalls können sie als ein Hinweis gelten,  wie es kommen kann, wenn man ausschließlich und konsequent einem Bauchgefühl und einer unstillbaren Sehnsucht folgt.  Eines Tages legte ich fest, dass ich in genau  467 Tagen nach Italien gehen würde.  Theoretisch (nur gedacht und nicht real, definiert der Duden) hatte ich dann meine Diplomarbeit abgegeben und würde einen Plan, der mich und meinen bereits in Mailand lebenden Freund einschloss verwirklichen. Praktisch (laut Duden sehr passend als „in der Wirklichkeit auftretend“ definiert)  hatte sich mein Freund 120 Tage vor meiner Auswanderung  von mir getrennt. Theoretisch hatte ich alles bis ins kleinste Detail geplant. Seitenlange Liste geschrieben, was ich wann zu erledigen hatte. Excel Tabellen mit Behörden und Anlaufstellen vorbereitet, die nur darauf warteten systematisch abgehakt zu werden. Praktisch, tat ich mehrere Wochen lang gar nichts mehr und verfluchte das dämliche Pizza und Pasta Land. Die Tabellen und Pläne gerieten in Vergessenheit. Nur die Liste neben meinem Bett, auf der ich monatelang die Tage bis zum Umzug abgestrichen hatte, erinnerte mich weiter an meinen Traum. Erst als die Zahlen nur noch im mittleren zweistelligen Bereich waren, begann ich Gas zu geben. Dann eben alleine.

Kurz entschlossen wählte ich die von München am nächsten gelegene Stadt Verona als mein Ziel, fuhr ein Wochenende hin, und besorgte mir eine Wohnung. Klingt ganz vernünftig und strukturiert? Eher nicht. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich kein Geld um nach Mailand zu fahren und dort alles notwendige zu erledigen. Kurzerhand änderte ich meine Pläne und nutzte den anstehenden Kurzurlaub meiner Mutter indem ich sie nötigte  mich kostengünstig im Familienauto über die Landesgrenze zu schaffen. Mama wollte nach Verona. Die Stadt gefiel mir und ich beschloss, dass es dann eben Verona werden würde.  Die Wohnung, von der ich meiner Mutter erzählt hatte, dass ich sie natürlich besichtigt hätte, mietete ich telefonisch und mit sehr mangelhaften Italienischkenntnissen, während ich auf den Stufen vor der Arena ein Eis schleckte.  Ziel festgelegt,  Dach über den Kopf. Der Rest würde sich finden. Theoretisch.

Es wäre sicher klug gewesen, vor der endgültigen Auswanderung noch einmal in das nur 430 km entfernte Verona zu fahren, um dort einige organisatorische Dinge zu erledigen. Zum Beispiel die gemietete Wohnung auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Theoretisch. Praktisch hatte ich noch immer kein Geld für die Zugfahrt und keine Zeit, da ich auf den letzten Drücker noch einige Prüfungen an der Universität schreiben musste. Meine noch fehlende Diplomarbeit würde ich eh  in Italien schreiben müssen. Kann man ja auch nebenbei machen. Neben dem arbeiten. Theoretisch. Praktisch  hatte ich noch nicht mal einen Job.

Am Tag 0, einem kalten Wintermorgen, stand ich vor dem vollgestopften Auto stand und wartete auf meine Freundin. Sie musste mich mit dem geliehenen Auto nach Verona fahren und es alleine wieder zurück bringen. Ich wartete lange. Dann endlich rief sie endlich an. Ihr sei schlecht. Besorgt erkundigte ich mich, ob sie krank sei und knabberte nervös an den Fingernägeln. Ne, sie sei verkatert. Während ich auf die Party am Vorabend aus Vernunftgründen verzichtete war sie dort gewesen und hatte es für uns beide krachen lassen. Ob wir das ganze vielleicht um eine Woche verschieben könnten, fragte sie. Ich hätte es ihr nicht übel genommen, wenn sie nach meinem folgenden hysterischen Anfall gar nicht mehr gekommen wäre, aber sie kam. Blass um die Nase, Ringe unter den Augen und grinsend. Sie ist nämlich richtig hart im nehmen. Mich. Und das Leben überhaupt. Dafür musste sie dann auch nicht fahren sondern durfte sich mit dem 1,30 großen Stoffbären – ein Abschiedsgeschenk  – auf den Beifahrersitz kauern. Los gings.

Die vermeintlich letzte Hürde, das Parken in einer gefühlt nur 1, 50 m breiten, kopfsteingepflasterten, winzigen, italienischen Gasse, meisterten wir am frühen Abend bravurös.  Die Freundin, die tapfere, wollte endlich die Wohnung sehen und ich natürlich auch. Den Schlüssel hatten wir geholt und es dämmerte bereits als wir jeder wahllos, irgendetwas aus dem Auto nahmen und die Stufen nach oben liefen. Ich hatte meine  Porzellan-Hund im Arm, sie eine Rolle Klopapier und das Bügelbrett. In der Wohnung sagte die Tapfere lange nichts. Dann schnalzte sie leise mit der Zunge. „Süße, da ist kein Fenster.“ Ich hörte sie langsam einatmen und erwiderte sehr, sehr leise: „Im Sommer nicht so heiß, oder?“ Wir sahen uns schweigend an und gingen zurück zum Auto. Sie irritiert, ich bestürzt.

Als wir den Rest in die Wohnung bringen wollten, ging die Tür nicht mehr auf. Der Schlüssel im Schloss bewegte sich keinen Millimeter. Nicht am Anfang und nicht nach 30 Minuten. Nichts ging mehr. Das Auto blockierte die Straße, mein gesamter Besitz stand im Innenhof, die Tapfere hatte Hunger und ich Lust loszuheulen. Einen Schlosser fanden wir in der Nebenstraße. Er verstand sogar mein Italienisch. Das Schloss bekam aber auch er nicht auf. Sein Angebot es am nächsten Morgen komplett auszutauschen half mir in diesem Moment nicht weiter.

Wir saßen im Auto und sahen uns ratlos an, als mein Handy klingelte. Mein Exfreund, der 120 Tage zuvor Schlussmacher, war dran. Ich hatte lange nichts von ihm gehört und konnte außer einem Hallo nicht sagen. Er schon.  Er berichtete, dass er vor vier Wochen Mailand verlassen hatte, und jetzt in Verona wohnte. In der Nähe des naturwissenschaftlichen Museums. Es hätte ihm leid dass er sich nicht gemeldet habe, aber er würde mich vermissen und hätte sich gefragt wie es mir gehen würde.  Er fragte mich, ob ich immer noch vorhätte nach Italien zu ziehen. Das Land sei so schön und besonders seine neue Stadt. Verona.  Warum ich nichts sagte, wollte er wissen und ob ich ihm noch böse sei. Ich schüttelte nur den Kopf und murmelte, dass er doch bitte kommen solle. Wohin wollte er wissen. Via Museo 2, sagte ich.  Beim naturwissenschaftlichen Museum. Da würde ich seit heute wohnen. Als ich ihm erzählte, dass meine Wohnung kein Fenster hätte, begann ich zu heulen.

Er lachte.  Laut und ansteckend. Er lachte bis ich aufhörte zu weinen.  Dann kann er vorbei. Es war ja nicht weit.  Als er uns im Treppenhaus neben dem Porzellanhund, dem Bügelbrett und den Klopapierrollen mit einer Flasche Wein, sitzen sah sagte er erstmal nichts. Dann raunte er mir zu, dass man mich so einfach wohl nicht loswerden würde. Das Schloss bekam auch er nicht auf, aber er wusste was zu tun war.

Während kurz vor Mitternacht meine Freundin mit dem Stoffbären im Arm im Auto eingeschlafen war, rief ich meinen Vater an. Ob ich mich schon eingerichtet habe, wollte er wissen. Ich musste ein bisschen schummeln. Die Feuerwehr fuhr gerade erst die Leiter aus, um durch das Fenster im Schlafzimmer (tja, ein Fenster gab es dann doch) in meine Wohnung einzubrechen. Die Wohnung seit toll sagte ich ihm. Im Hochsommer würde sie bestimmt angenehm kühl sein. Keine direkte Sonneneinstrahlung. Dass sie auch keine funktionierende Heizung hatte und das Thermometer 4 Grad zeigte, erwähnte ich nicht.

11 Gedanken zu “Theorie und Praxis – Teil 1

  1. Ach Frank, was täte ich nur ohne deine flinken Kommentare. Schon wieder bin ich gestern auf „veröffentlichen“ statt „speichern“ gekommen. Das Schreiben auf dem IPad ist grausam. Dank dir habe ich es wenigstens gemerkt 😉
    Ja, spannend und chaotisch war es wirklich. Schön, dass man rückwirkend darüber lachen kann.

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  2. Du hast so einen witzigen Erzählstil und Talent gerade dann aufzuhören, wenn man sich so schön eingelesen hat… Aber Du scheinst ja doch wieder zurückgekommen zu sein…

    Wünsch´Dir einen wunderschönen Tag, Nessy

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