Tanz!

Samstag sah ich den Tod. Ein weißes Gerippe unter einem schwarzen, langen Umhang. Die weite Kapuze tief über die knöcherne Stirn des blanken Schädels gezogen, schlich er sich langsam und ohne Eile heran. Er ist ein großer, schlanker Mann. Natürlich ist er schlank. Denn dort wo das Fleisch und das Fett des Körpers fehlen, ist ein jeder dünn. Dass pure Knochen schön sein können, wusste ich nicht. Aber er war schön. Der Tod war ein schöner Mann.

 

Ich brauche keine Führung durch meine nächtliche Stadt um zu wissen, dass sie besondere und zauberhafte Orte bereit hält. Im Winter reicht es den Christkindlmarkt im Kaiserhof der Residenz zu meiden und durch den Kapellenhof in den Brunnenhof zu laufen. Weniger Schritte nur, um die Gerüche, Geräusche und Menschenmassen des Weihnachtswahnsinns hinter sich zu lassen. Ein paar Meter und man wird von sanft beleuchteter Stille umhüllt und steht zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in völliger Ruhe. Ich kenne die Orte, dennoch lief ich sehr gerne mit und lauschte den schaurigen Erzählungen vergangener Zeiten. Mit dem Tod rechnete ich nicht. Auch nicht mit der hübschen Musik, die an einem kleinen Brunnen in völliger Stille plötzlich erklang. Der Tod kam ganz leise und sagte kein Wort. Er umkreiste die, die eben noch plauderten und lachten, nun verstummt waren und still auf ihn blickten. Man weiß es ja. Wenn er die Hand zum Tanz reicht und sich höflich verbeugt, dann heißt es Abschied nehmen und sich in seine Arme begeben. Es ist eine sanfte, fast liebevolle Geste, mit der er die Hand reicht. Er reicht sie wie ein verlockendes Angebot, jetzt alles hinter sich zu lassen, loszulassen und für einen letzten Tanz in seine Arme zu sinken. Die Stille gehört zu ihm, aber weil er um die Menschen weiß, schenkt er einem jeden die passende Musik zu seinem Abschied.

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Es waren Schauspieler. Der Tod war ein Schauspieler. Ich wusste es. Aber in diesem kurzen Moment, hätte auch ich ihm die Hand gereicht und wäre ihm glücklich und mit einem Lächeln auf den Lippen gefolgt. Lange habe ich nicht mehr an das Bild des zum Tanz auffordernden Todes gedacht. Es ist eine beruhigende Vorstellung, am Ende zufrieden und ohne Angst zu gehen. Ich weiß nicht ob meine Großmutter mit diesem Bild gestorben ist, aber so möchte ich es mir vorstellen. Ich will glauben, dass sie sich ruhig und gelassen  zum letzten Tanz auffordern lies. Sie tanzte so gerne und ich kann mir vorstellen, wie sie auch mit über neunzig kokett lächelte und seine Hand ergriff. Ich bewahre mir das Bild. Es ist unendlich traurig einen alten Menschen gehen zu lassen, aber es kommt der Zeitpunkt, an dem man spürt, dass es jetzt in Ordnung ist. Gestern sah ich meine Großmutter tanzen. Ich hatte Tränen in den Augen, aber es war ein wunderschönes und friedliches Bild.

Als vor bald vier Jahren der Bruder einer mir sehr nahestehenden Person starb, war nichts friedlich und nichts wunderschön. In diesem Alter stirbt man nicht. Und wenn, dann tut man es nicht leise. Er zumindest tat es nicht. Bevor er sich mir vorstellen konnte, kotzte er in mein Bad und wies Schulterzuckend auf unverträgliche Medikamente hin. Gefolgt vom Hinweis, dass ein Kennenlernen sinnlos sei, die Zeit würde nicht mehr reichen. Nur wenn man noch nie jemanden bei Sterben zugesehen hat, ist man so dumm, trotzdem nach dem Namen zu fragen. Man bereut es, weil einem im nächsten Moment die Realität ziemlich erbarmungslos um die Ohren geschlagen wird. Man bereut aber nicht lange, wenn man erkennt, dass der Zeitpunkt um abzuhauen verstrichen ist. Zum Bereuen fehlt dann die Zeit. Man arrangiert sich und passt sich mit dem Arrangieren der schwindenden Zeit an. Trauer ist unpassend, solange der Sterbende noch lebt. Man tut man besser daran zu lachen. Der Humor wird so pechschwarz, dass man über sich selbst erschrickt. Nur jemand, der weiß, dass es zu Ende geht, nimmt es einem nicht übel, dass man manche Kinofilme ablehnt, weil der zweite Teil noch nicht abgedreht ist. Man lässt den Todkranken die Steckdose überprüfen und weist grinsend darauf hin, dass er weniger zu verlieren hätte.Der Preis einer solchen Freundschaft ist hoch. Besonders dann, wenn man den Menschen nicht kannte, als er noch auf den nächsten Winter hoffen konnte. Man lernt jemanden kennen, der alle Masken abgelegt hat und sich einem mit brutaler Offenheit präsentiert. Nach vergangenem fragt man nicht mehr, weil es unwichtig geworden ist und man schmiedet keine Pläne mehr, weil man es besser weiß. Man ist auf eine sehr unangenehme Art und Weise in der Gegenwart gefangen und kann weder nach vorne noch nach hinten ausweichen. Mitleid ist nicht angebracht. Meistens bemitleidet man nicht den Sterbenden, sondern sich selbst in seiner Hilflosigkeit. Ich bin froh, damals nicht abgehauen zu sein. Nie wieder habe ich so sehr mit einem Menschen gelacht, wie mit ihm. Trotzdem würde ich ihn nicht noch einmal kennen lernen wollen. Das darf man nicht sagen, sagen die, die noch nie jemanden beim Sterben zugesehen haben. Ich hätte es auch gesagt, bevor ich ihn kennen lernte. Und auch heute würde ich ihn wieder nach seinem Namen fragen. Würde ihn wieder in mein Bad kotzen lassen und würde wieder mit ihm und seinem Bruder so hemmungslos dreckig lachen, weil weinen uns um den Verstand gebracht hätte.  Ich würde es wieder machen. Aber wollen würde ich es nicht.

Er hätte über den Tanz mit dem Tod gelacht. Rammstein, hätte er gesagt. Egal was, aber laut. Er hätte gelogen. Es wäre ein langsamer Walzer gewesen und er hätte geführt.

24 Gedanken zu “Tanz!

  1. Als damals das Musical „Sisi“ in Wien zum ersten Mal gespielt wurde, hatte der Tod die meisten Fans. Die Leute… naja, hauptsächlich die Frauen… waren hin und weg von ihm. Ist schon vorteilhaft, wenn der Tod irgendwie attraktiv ist.
    Wieso ist es eigentlich immer ein Mann? Für manche Menschen wäre ein weiblicher Tod vielleicht beruhigender.
    Dein Text ist wunderschön.

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  2. Das hat mich an meinen Bruder erinnert, der zu früh verstarb. Mit ihm konnte man aber nicht lachen, er wurde aber sehr offen, der der vorher extrem verschlossen war, redete auf einmal viel über das Leben, über die Vergangenheit und er riet uns jeden Tag so zu leben als sei es der letzte.
    Du hast sehr einfühlsam und auch tröstlich geschrieben.

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    1. In solchen Situationen ist jeder Mensch anders. Gespräche sind bestimmt auch eine sehr schöne Erinnerung (wenn der Schmerz nicht mehr so akut ist). Es freut mich, dass du meine Worte als tröstlich empfunden hast.
      Liebe Grüße

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  3. Es tut mir zum Ende hin beinahe weh das zu lesen. Sehr mutig von dir darüber zu schreiben. Das kann nicht leicht gewesen sein über diese Gefühle zu schreiben.
    Ich bewundere dich sehr, Mitzi.
    Bitte fühl dich gedrückt.

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    1. Danke, dir. Seltsamerweise ist es leicht darüber zu schreiben. Über akute Gefühle kann ich es nicht. Bei früher durchlebten geht es. Es ist eine Weile her und trotz des hässlichen Endes (die richtig großen Wunder gibt es ja leider nur im Märchen) möchte ich die Zeit nicht missen.
      Die Umarmung nehm ich trotzdem, ja?
      Liebe Grüße

      Gefällt 3 Personen

      1. Ach, danke. Natürlich. Ich verstehe was du meinst. Die “ kleine Fliege“ und wäre so vor sechs Jahren ebenfalls nicht möglich gewesen. Tiefgreifende Erfahrungen haben ja leider oftmals kein Märchenhaftes Ende… Bitte nimm die Umarmung. Nun, um so mehr.

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  4. Epikur hat gesagt: „Der Tod kümmert mich nicht. Bin ich da, ist er nicht da, und ist er da, bin ich nicht da.“ Das hat mir immer gut gefallen, doch dass es eine egomane Sicht ist, beweist dein berührender und so gut geschriebener Text, liebe Mitzi. Eigentlich ist mir schon immer klar gewesen, dass Epikurs Sicht keinen Trost für jene bietet, die dem Todgeweihten nahestehen. Sie müssen nämlich dem Tod ins Gesicht sehen, wie du es hier getan hast und mutig wieder hast aufleben lassen. „Aufleben“ – im Moment dachte ich, das passt nicht, aber eigentlich doch. Hier zeigt sich die Kraft der Literatur, die dem Leben und dem Sterben abgetrotzt ist.

    Liebe Grüße,
    Jules

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  5. Mir gefällt an deinem Text besonders, wie du von einem melancholischen, fast lyrischen Anfang zu einem krass realistischen Ton findest. Und es bleibt doch ein Totentanz, auch wenn es kein Menuett mehr ist, sondern ein wilder, schonungslöser Pogo.

    Gefällt 5 Personen

  6. Ich würde so gerne beschreiben, wie sehr mich deine Zeilen berühren, wie schmerzlich nah sie an die eigenen Gedanken und Gefühle in Konfrontation mit dem Tod stehen, wie sehr mich das an meinen Opa erinnert, dessen Leben ohne den Hauch einer zweiten Chance erloschen ist… mir dagegen fällt das schwer, zu schwer, daher sage ich nur eins: Ich möchte meinen Opa auch tanzen sehen, so unbedingt, dass ich Tränen in den Augen habe, weil ich diese Vorstellung nicht hinkriege.
    Danke für diesen tollen Text!

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  7. Bei al den sterbenden Menschen die ich die Hand gehalten habe oder einfach nur so still dabei saß, habe ich nicht einmal dieses Gerippe gesehen.Nächstes Mal gucke ich mal im Schrank nach.Wenn er stinkt,der Tod, möchte ich nicht mit ihn tanzen.

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  8. die Geburt ist weiblich, das Leben neutral, nein eher kindlich und der Tod ist männlich. Zumindest in der deutschen Sparche…

    Auch ich habe viele Menschen sterben sehen, denn mein erster Beruf war Krankenschwester und ich kann bestätigen, dass er sehr wandelbar ist mit unzähligen Gesichtern, ein guter Schauspieler und ein noch besserer Tänzer, der sich einläßt auf seine Partner und Partnerinnen. Ich kann verstehen, dass du dabei geblieben bist, wieder dabei bleiben würdest, aber dir gewiss icht solche Begegnungen suchen würdest.

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  9. Meine Omi wird übermorgen 89 Jahre alt. Von ihr habe ich die Gabe Geschichten zu erzählen, nicht diese flapsigen, leicht ketzerischen Erzählungen, die ich hier veröffentliche, sondern warme schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit, die auf eine Reise in die Vergangenheit einladen. Es ist selten geworden, dass sie ihren Urenkeln Märchen vorliest, mit einer Stimme, die in die Arme nimmt und zudeckt, das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. In den letzten zwei Jahren geht es ihr nicht gut, und als wir letztes Mal telefonierten, sprach sie davon, dass, das Leben keinen Spaß mehr macht. Davon wollte ich gar nichts hören, habe diese Worte einfach weggewischt und munter auf sie eingeredet. Nach dem ich deinen Text gelesen, empfinde ich dieses Verhalten ziemlich egoistisch. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass es ihr bald wieder besser gehen wird und sie noch ein paar Jahre mit uns hat, in denen ihre Lebensfreude zurückkehrt. Und für die Zeit des Abschieds ist es tröstlich zu wissen, dass sie ein schöner Mann zum letzten Tanz auffordern wird. Natürlich einem feurigen Tscha Tscha Tscha.

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    1. Ich hoffe deine Oma nimmt sich meine zum Beispiel Der Satz, dass es keinen Spaß mehr macht, den kenne ich auch von ihr. Es ist wohl auch wirklich schwer zu sehen, wie die alten Freunde wegsterben, der Körper und der Geist nachlassen und man eigentlich schon müde geworden ist. Ich hab es aber auch nie hören wollen. Da werden wir alle egoistisch. Erst als sie die letzten acht Wochen lag, da hab ich gefühlt, dass es jetzt wohl wirklich sein muss. Zuvor – bis sie 94 war, hatte sie aber (das hoffe ich) dem Leben noch viel abgewinnen können. Ich drücke dir und der Oma die Daumen dass sie noch viel Grund zum Lachen und zur Freude hat. Ich glaube dir sofort, dass du auch anders erzählen kannst. Wer so flapsig wie du schreibt, der kann auch anders, weil er einfach erzählen kann. Am Rande ich mag das ketzerische Erzählungen hier sehr gern.
      Nicht heute und nicht in den nächsten Jahren – aber irgendwann ist ein Tscha Tscha Tscha perfekt!
      Sorry, dass ich dich übersehen habe. Irgendwann find ich die Kommentare aber meistens.

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  10. „Der Humor wird so pechschwarz, dass man über sich selbst erschrickt. … Man lernt jemanden kennen, der alle Masken abgelegt hat und sich einem mit brutaler Offenheit präsentiert.“
    Das ist wirklich ausgesprochen stark geschrieben. Diese Sätze, Passage hat mir besonders gut gefallen. Eigentlich aber die gesamte Erzählung. … Das Bild vom tanzenden Tod. Ja. Das kenn ich auch.

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