Distanziertes Flattern

Er sagt ich flattere. Er, der immer Zeit für mich hat, wenn ich ihn anrufe.  Seit uns einige hundert Kilometer trennen führen wir eine Fern-Freundschaft. Die Weite zwischen uns hat uns sensibilisier die Nuancen  in der Stimme des anderen zu erkennen. Er ist darin viel besser als ich. Wenn er sagt ich flattere, dann meinte er, dass meine Stimme ungeduldig klingt. Um das zu erkennen reicht ihm ein kurzes Hallo am Telefon. Ich brauche länger und frage ihn meist, ob ich gerade störe und wo er gerade sei.  500 Kilometern zwischen uns machen es mir schwerer einfach los zu reden. Als würde die Entfernung nicht nur unsere Wohnorte sondern auch immer ein Stück uns beide betreffen. Er verneint, wie er es immer tut, sagt mir wo er sich gerade befindet und ich bin still während die Distanz langsam schrumpft. Ich höre das leise Klacken seines Feuerzeuges und wie er den Rauch seiner Zigarette ohne jede Eile inhaliert. Obwohl ich  es eben noch kaum erwarten konnte ihm zu erzählen, bin ich einen Moment ganz still und stelle mir den Ort vor an dem er sich gerade befindet. Ich kenne sie alle, seine Orte.  Es sind auch meine. Der kleine Balkon über der engen belebten Straße in Verona, die Bank vor dem alten Amphitheater oder der schmale Weg vor seiner Lieblingsbar direkt am Fluss. Die Orte sind mir noch immer vertraut und seltsamerweise, verbinde ich sie immer mit dem leisen Feuerzeugklacken und dem Geruch von Tabak.

Ohne das wir es je bewusst zu einem Ritual gemacht hätten, ist es schon vor Jahren zu einem geworden. Ich stürzte in seine Wohnung, ein Stockwerk über der meinen; traf mich mit ihm in der Bar oder überfiel ihn an seinem Arbeitsplatz und fragte einleitend: „Hast du kurz Zeit?“ In all den Jahren hat er kaum ein halbes Duzend Mal den Kopf geschüttelt. Fast immer nickte er, schnappte sich Tabak und Feuerzeug und nutze meine Frage als willkommene Rechtfertigung mehr als die acht festgelegten Zigaretten des Tages zu rauchen. Mit der Neunten könne er besser zuhören. Egal, wann am Nachmittag ich ihn traf – und Vormittags traf man ihn nie – die acht erlaubten Zigaretten waren immer schon geraucht worden. Er hörte mir also grundsätzlich bei der Neunten zu.

Seit ich ihn über das Telefon fragen muss ob er Zeit hat, ist die Frage nach dem Ort an dem er sich gerade befindet dazu gekommen. Es ist schön, dass es sich nach all den Jahren noch immer so anfühlt, als würde ich neben ihm stehen. Ich mag die kurze Zeitspanne in der er seine Zigarette dreht. Ihm dabei zuzusehen – oder am Telefon zuzuhören – lässt mich ruhiger werden. Als wir noch nebeneinander standen, war es ähnlich. Ich flatterte und er war still. Eine gute Beziehung verträgt nur ein flatterhaftes Geschöpf. Ebenso wie sie nur einen schweigenden und stillen Part verträgt. Manchmal tauschen wir die Rollen. Dann poltert er am Telefon los ohne zu fragen ob es gerade passt. Explodiert und knallt mir verbal seinen Unmut, seinen Ärger oder auch seine haltlose Freude durch die Leitung vor die Füße. Ich bin dann still, bis ich irgendwann frage: „Besser?“ Die Antwort ist das Klacken seines Feuerzeuges und obwohl ich es nicht sehe, weiß ich das er nickt. Oder nicht. Dann hat er nur Luft geholt.

Wenn es etwas gibt, das mich so traurig oder wütend macht, das ich gar nicht darüber reden will, frage ich nach dem Wetter. Dann erzählt er mir irgendetwas und ich höre einfach nur zu. Auch nach Gesprächen ohne Inhalt kann man sich besser fühlen. Meistens bin es aber ich, die redet und erzählt. Gestern Abend rief ich ihn an. Er hatte Zeit und saß auf seinem Balkon, unter dem vor Jahren mein Balkon gewesen war. Ich war etwas flattrig und musste eine Kleinigkeit los werden. Ob es nicht schrecklich sei, dass die Liste der Bücher, die man in seinem Leben noch lesen wollte und die Themen die man ergründen wollte immer mehr und die verbleibenden Jahre zugleich immer weniger werden würden? Einen Moment hörte ich nur seinen Atem, dann ein leises Lachen und die Frage ob ich mich deswegen wirklich „schrecklich“ fühlte. Obwohl ich es tat – vielleicht nicht gerade schrecklich, aber doch missgestimmt, ärgerlich und angesichts der rennenden Zeit nervös – verneinte ich.

Wie gut er meine Stimme kannte. Der November in Italien sei mild, berichtete er. Und die Bushaltestelle an der Via Venti Settembre sei verlegt worden, weil man auch in unserem Viertel nun endlich einen Altpapiercontainer aufgestellt hatte. Was sind meine Probleme der mangelnden Lebenszeit, gegen die der italienischen Mülltrennung? Nichts. Ich schlief recht gut in dieser Nacht.

38 Gedanken zu “Distanziertes Flattern

  1. Zunächst mag ich mich gar nicht kommentierend einmischen in die fermündliche Zweisamkeit, so authentisch autobiographisch wirkt diese Geschichte einer Freundschaft. Wenn ich aber versuche, die Aspekte der Kommunikation zu betrachten, die du in deinem Text so hellsichtig ansprichst, dann gehts doch. In den rückblickenden Szenen wird die Art der Face-to-Face-Kommunikation deutlich, und es zeigt sich, wie akustische Signale in der Fernkommunikation ausreichen, die Erinnerung in Bildern heraufzubeschwören. Da klickt nur ein Feuerzeug, alles andere ergänzt die Vorstellung. Umgekehrt reichen winzige Schwingungen in deiner Stimme auch ihm, dich scheinbar komplett zu sehen. Doch die Fernkommunikation findet in der zweiten Dimension statt. Wo uns sonst die gesamte Bandbreite der Sinne zur Verfügung steht, muss jetzt alles über Akustik vermittelt werden. Der Mensch des 21. Jahrhundert muss einen Teil seiner Aufmerksamkeit der zweidimensionalen Uneigentlichkeit widmen.
    In mehreren Fernbeziehungen habe ich gehasst, dass Telefonieren, ergänzt durch Skypen, Whats app und E-Mail immer ein schales Gefühl zurücklassen. Eigentlich will man doch zusammen sein, und Fernkommunikation ist wie die Wurst, die dem Hund vor der Nase angebunden ist. Aber die Tatsache, dass zeitnahe Fernkommunikation möglich ist, verändert unsere Sozialbeziehungen. Gerade schreibe ich an einem Text über díe Verdünnung meiner Welt. Dass ich fernkommunikative Sozialbeziehungen habe, gehört auch dazu.

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    1. Schön, dass du doch etwas dazu geschrieben hast. Ich habe deinen Kommentar gern gelesen und finde mich darin wieder. Whats App (zur Freundschaftspflege) und Skype sind nicht das meine. Sie wollen vermitteln, dass man in ständigem, engen Kontakt steht und ganz nah dabei ist und hinterlassen auch bei mir das gegenteilige Gefühl eines billigen Abklatsches.
      Demnächst muss ich deshalb auch wieder nach Italien. Die Erinnerung auffrischen und neue Eindrücke sammeln.
      Die Verdünnung der Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das richtige darunter vorstelle. Aber vielleicht bekomme ich es ja zu lesen. Um fernkommunikative Sozialbeziehungen kommen wir nicht mehr herum. Wie unterschiedlich wir damit umgehen, finde ich interessant.

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      1. vielleicht ist es auch das, was es so intim erscheinen lässt. Man kommt sich fast so vor, als ob man Teil eines Erlebnisses wird, und weiss genau, man gehört nicht dazu.
        Und Lust auf eine Zigarette habe ich jetzt auch!

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      2. Schön, wenn ich das Gefühl der Intimität vermitteln konnte und es in den Zeilen greifbar ist.
        Unschöner Nebeneffekt, ist die Lust auf Zigaretten, die ich dir und Frank scheinbar ebenfalls vermittle.

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      3. es gibt ja auch noch so etwas wie Selbstverantwortung….keine Sorge……ich lese Deine Texte unglaublich gern…..witzigerweise denke ich an die erste, die ich von Dir gelesen habe, jetzt immer, wenn ich meine Büchersammlung sehe 😉 Du hast bei mir nachhaltigen Eindruck hinterlassen 😉

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  2. Hab nochmal nachgelesen und da ist mir ganz zum Schluss was aufgefallen. Welches Problem mit der mangelnden Lebenszeit hast du junger Mensch. Ist es weil, wie du es ausgedrückt hast, „die böse Vier“ droht? Von der würde ich mich liebend gern bedrohen lassen. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Aber ich will es nicht kleinreden. Von der4 Frau, deretwegen ich nach Hannover gegangen bin, weiß ich, dass dieser Wechsel zur Vier von Frauen als schmerzlich empfunden wird. Aber war es nicht auch bei der Drei schon so? Ist alles ein bisschen Zahlenmagie.

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    1. Der Schluss, die fehlende und immer schneller rinnende Zeit, sollte das eigentliche Thema des Textes sein. Es wurde wie so oft etwas ganz anderes. Das Alter meinte ich nicht. Es gibt so vieles, das wissenswert wäre. Duzende von Themen in die ich mich stürzen und für Wochen vergraben möchte. Mit 20 habe ich der Name der Rose von Eco gelesen. Darin erwähnt Aristoteles und Thomas von Aquin. Sofort habe ich mich auf die beiden gestürzt. Von dort zu den nächsten. Manchmal geht es mir noch heute so. Zu viele Themen, zu viele Bücher, zu wenig Zeit.
      Mein Alter hab ich erwähnt, weil ich mir nicht sicher war ob du mich für Anfang Zwanzig hältst. Ich versuche mich den Einflüsterungen der puren Zahlen fern zu halten. Nicht leicht aber mit einer Portion Starrsinn geht es. 😉

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      1. Verstehe. Für Anfang 20 koinnte ich dich nicht halten der Lebensklugheit wegen, die aus deinen Texten und Kommentaren spricht, aber ob du nun Anfang 30 bist oder Ende 30, das wagte ich nicht zu beurteilen. Wer so schreiben kann wie du, muss Gutes gelesen haben, denn am Lesen großer Autoren trainiert sich der Stil. Doch von der Idee, alles Gute lesen zu können, muss man sich verabschieden. Der Philosoph Schopenhauer hat sich mehrfach gegen das Viellesen ausgesprochen: „Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. (…) Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Wege gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.“

        Ein Gutteil seiner Lebenszeit muss man für Selberschauen und Selberdenken aufwenden, und beim Schreiben ergibt sich Letzteres wie von selbst. Beim Schreiben müssen wir einen Gedanken zu Ende denken, und eine Idee wird durchdacht, bevor man sie niederschreibt. Zudem ist’s ein kreativer Prozess, was sich zeigt, wenn du von einem Thema ausgehst, es dich dann aber wegtreibt, du den Text sich entwickeln lässt. Dass du deinen Text dann doch noch abrunden konntest, indem du im Schluss das eigentlich Thema nennst, liebe Mitzi, ist die Kunst. Als ich noch unter Graseinfluss geschrieben habe, ließ ich den Text springen, wohin er wollte, wusste aber, dass es mir gelingen würde, ihn beizeiten abzurunden. Das kostet mich nüchtern mehr Kraft, und manchmal merke ich, das ich innerhalb eines vertretbaren Aufwands nicht zu einem abrundenden Schluss komme. Dann lege ich den Text zur Seite, bis mir der abrundende Gedanke irgendwann später einfällt.

        Zeit hat man eigentlich immer genug, wenn man sie sich nicht stehlen lässt. Darum schließe ich den Kommentar jetzt ab.

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      2. Ich werde damit leben müssen, nicht alles zu verstehen, nicht alles zu lesen und nicht alles ergründen zu können. Mit der Zeit verschieben sich auch die Ansprüche. Wie du treffend gesagt hast, bringt einem das reine Lesen nicht weiter. Man beginnt mit dem Lesen und geht im besten Fall irgendwann dazu über selbst zu denken und die klugen, großen Worte nicht mehr einfach hinzunehmen. Früher las ich einen Nobelpreis Gewinner und hätte mich nicht getraut laut zu sagen, dass ich ihn schlecht finde. Heute geht es ganz leicht. Meine Meinung nicht nur zu haben, sondern sie auch pointiert begründen zu können, wird noch kommen. Deine Bemerkung über den Graseinfluss brachte mich zum Schmunzeln. Es erinnert mich an einen Freund der das Studium in Rauchschwaden durchlebt hat. Jura nüchtern sei unerträglich, sagte er damals. Er ist heute der erfolgreichste Um-die-Ecke-Denker von uns. Wobei er das wohl auch so geworden wäre.
        Abschließend vielen herzlichen Dank für die lieben Worte.

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      3. Wenn die Vollständigkeit nicht zu erreichen ist, kannst du das ganze doch völlig entspannt angehen. Sicher ist doch: Jeden Tag gibt es was Neues zu entdecken.Und was man nicht entdeckt, existiert so gut wie nicht, und ist man tot, kanns einem eh egal sein.

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  3. Den Gedanken hatte ich auch schon. Panik ist vielleicht zu viel gesagt, aber ein bißchen geht es in die Richtung: Die ganzen Russen (außer Dostojewski) stehen noch aus, Balzacs „Menschliche Komödie“ in der richtigen Reihenfolge ebenso, und überhaupt, meine Bibliothek ist voll von noch ungelesenen Büchern, wie kann man nur seine wertvolle Zeit mit sowas wie Lohnarbeit verplempern? Welche Idioten stehlen mir mit ihrem Schwachsinn die Zeit, die … usw. Gut, hilft ja nichts, vielleicht gibt es ja doch ein Leben nach dem Tod, dann haben die da doch wohl hoffentlich eine anständige Bibliothek. Da ich kein besonders sündiger Mensch bin, komme ich wahrscheinlich in den Himmel, aber wenn die da keine Krimis haben, ziehe ich freiwillig in die Hölle um, da gibt’s bestimmt welche.

    Kennst Du das Zitat von Borges? Das hat mir immer gut gefallen: „Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“

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    1. Genau das meinte ich.
      Danke das du mich an Balzac erinnerst. Dabei ist es ja kein müssen, sondern ein wollen.
      Vor dem Himmel, setzte ich auf die Rente. Aber die Vorstellung der Bibliothek für die Unendlichkeit gefällt mir.

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      1. Danke für den Link! Eine unendliche Bibliothek, und nur selten ein Buch mit nur einem vernünftigen Satz darin, das ist wirklich nicht paradiesisch, eher das Gegenteil.

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  4. Deine lakonische Art zu schreiben zieht einen in den Bann… so gut kann ich mir diese Telefonate vorstellen. Ja, man schärft die Sinne, wenn man telefoniert. Meine Schwester sehe ich ganz selten, weil sie in den USA wohnt. Wir benutzen öfters Facetime, was natürlich die Vorstellung und Achtsamkeit nicht in dem Maß anregt.. Insofern bringt die Reduktion auf das Gehörte auch einen Vorteil mit sich, weil man auf Dinge achtet, die einem sonst entgangen wären und man auch einen gewissen Interpretationsspielraum hat. Ich wünsch´ Dir einen wunderschönen Tag, Nessy von den happinessygirls.com

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  5. Nach dem ich deine Geschichte gelesen habe, wird mir bewusst das ich dies viel zu selten mache. Deshalb, hört man bei mir jetzt auch ein feines leises klick, nicht von einem Feuerzeug, sondern von meiner Maus, die den „folgen“ Button aktiviert, damit ich keine deiner wunderschönen Texte mehr verpasse.

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