Frühling – jetzt!

Als ich gestern Vormittag vor das Haus trat, war er da. Der Frühling. Wenn Sie in und um München wohnen, dann wissen Sie, dass wir gestern den ersten Frühlingstag hatten. Obwohl es schon ein paar wenige milde und sonnige Tage gegeben hat – der Frühling begann gestern. Ich gehörte zu den glücklichen Menschen, die es noch im Bett liegend mitbekommen haben. Dank der Ostseite strahlt mir die Sonne am ersten echten Frühlingstag schon um 07:30 Uhr ins Gesicht und ich muss mich nicht fragen, wie das Wetter ist. Das ist wunderbar, vor allem wenn man am Vorabend erst um drei Uhr nachts nach Hause kommt. Noch vor zwei Wochen waren die Temperaturen im zweistelligen negativen Bereich, aber jetzt ist er da – der Frühling. Das Wetter alleine macht noch keinen Frühling. Damit ein Tag als erster Tag dieser herrlichen Jahreszeit gelten kann, braucht es mehr. Es muss diese besondere Stimmung in der Luft liegen, dieses leise Knistern, das nach Aufbruch und Neubeginn riecht und zugleich vertraut und sanft schmeckt. Weiterlesen

S´Wuggerl

„Schau, des Wuggerl do“, hat mich mein Nachbar Herr Meier eben auf dem Heimweg aufgehalten und mit einer Kopfbewegung auf ein kleines Kind gedeutet. Schaut lieb aus, sage ich und werfe einen Blick über meine Schulter zu dem Wuggerl, dem kleinen Mädchen, das mitten auf dem Gehweg sitzt und in seinem rosa Schneeanzug und der Bommelmütze fast verschwindet. Ich nicke Herrn Meier, der neben Herrn Mu an der Bushaltestelle in der Sonne sitzt zu und wende mich ab um nach Hause zu gehen. Herr Meier hält mich zurück. Ich soll nicht nur blöd schauen, sondern mich um das Kind kümmern, blufft er mich an und Herr Mu nickt. Ja, das wäre angebracht. Ich sei schon die fünfte die an dem Mädchen einfach vorbei geht und es ignoriert.  Heute Nachmittag habe ich frei und viel zu erledigen. Im Gegensatz zu meinen Nachbarn sind Nachmittag ohne Büro für mich ein Luxus, der genutzt werden möchte. Ich frage die alten Herren, warum sie selbst denn nur blöd schauen würden, aber in der Sonne hocken blieben. Der alte Meier holt Luft, aber Herr Mu kommt ihm zu vor. Mit einer Strenge, die ich an ihm noch nicht gekannt habe, schickt auch er mich zu dem Kind. Genervt mache ich kehrt und gehe die zwanzig Meter bis zum rosa Wuggerl zurück. Weiterlesen

Eine Leiche im Hinterhaus

Mit unserem Haus ist es ein wenig so wie mit Italien. Oder um die Himmelsrichtungen korrekt wieder zu geben, unser Haus ist wie Deutschland kurz nach der Wende. Es gibt den Osten, das Vorderhaus, und den Westen, das Hinterhaus. Man kennt sich, man mag sich, aber für die Probleme des anderen fühlt man sich nicht unbedingt zuständig. So ignoriere ich seit Wochen die immer dringlichen Hilferufe einer mir unbekannten Dame aus dem Hinterhaus. Dank der vielen Zettel im Aufzug bin ich bestens darüber informiert, dass einer aus dem zweiten Stock  in seinem Badezimmer Tauben füttert. Aber ganz ehrlich….es ist mir egal. Das spielt sich im Hinterhaus ab und ich wohne im Vorderhaus. Den Westen unseres Hauses betrete ich nur, wenn ich muss.  Heute musste ich. In meinem Flur liegt seit Tagen ein Paket für meinen Nachbarn Paul und ich ahne, dass sich der DHL Bote die Benachrichtigungskarte wieder einmal gespart hat. Mit dem Paket unter dem Arm betrete ich das Hinterhaus und fühle mich darin bestätigt, dass der vordere Teil doch viel schöner ist. Das sehen die meisten aus dem Vorderhaus so und deshalb wundert es mich, direkt neben Pauls Wohnung eine buntgemischte Ansammlung aus beiden Teilen des Hauses anzutreffen. Herr Meier steht in der Mitte und ich sehe meine direkte Nachbarin Judith fragend an. Die haben eine Leiche, informiert sie mich. Ich verschiebe die Paketabgabe und bleibe neugierig stehen. Weiterlesen

Eine Giesinger Schande

Das Stehen fällt Herrn Mu schwer. Die Knie wollen seinen massigen Körper nicht mehr so recht halten und schmerzen bei längerem Stehen. Trotzdem steht er jetzt an diesem Samstagnachmittag schon eine ganze Weile bewegungslos vor einem Zaun und schaut auf einen Haufen Schutt. Einen Tag zuvor stand an dieser Stelle noch ein denkmalgeschütztes Haus. Dass man es abgerissen hat, wusste ich dank meines Nachbarn, Herrn Meier, schon seit Freitagabend. Nur glauben konnte ich es nicht. Ein denkmalgeschütztes Haus kann man ja nicht so einfach abreißen. Noch dazu nicht ein solches, dessen Geschichte ein Teil unseres Viertels ist. War, korrigiert mich Herr Meier und zuckte mit den Schultern. Weg sei es, sagte er und weiter, dass man so viel Dreistigkeit bewundern müsste, wenn es nicht gar so traurig wäre. Wie traurig es wirklich ist, wird mir erst bewusst, als ich am Samstagnachmittag neben Herrn Mu und einigen andern Nachbarn vor dem Schutthaufen stehe. Es ist nur schwer zu begreifen, dass eines der denkmalgeschützten Handwerkerhäuschen aus dem 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Dabei sollte es doch eigentlich nur saniert werden.
Frau Obst, die neben mir wohnt, ist an diesem Nachmittag außergewöhnlich still. Nachdenklich blickt sie auf die Trümmer und murmelt unverständliches vor sich hin. Unverständlich ist die Dreistigkeit dieses Abrisses in der Tat. Schon am Donnerstagnachmittag rückten Arbeiter einer Baufirma mit einem Bagger an, rissen ein Loch in die Fassade und begannen das Dach abzudecken. Nur weil sich Anwohner aus den benachbarten Häusern in den Weg stellten und einer die Polizei rief, konnte der Abriss gestoppt werden. Die Giesinger atmeten auf. Liegt ihnen ihre Grasstraße, ein Teil der Feldmüllersiedlung, einer frühen Arbeitersiedlung für Tagelöhner und Handwerker, doch sehr am Herzen. Die kleinen Häuschen stehen dort dicht an dicht und die Straßen mit ihrem Kopfsteinpflaster sind schmal. Biegt man hinter der Kirche ab, ist man in einem Teil von Giesing, der sich über all die Jahrzehnte den dörflichen Charakter bewahrt hat. Und jetzt ist eines der Häuser weg. Weil mich das Gemurmel der alten Obst nervt, bitte ich sie, doch etwas deutlicher zu sprechen. Ungewöhnlich zahm, tut sie das dann auch und berichtet, dass am Freitagnachmittag eine Handvoll Arbeiter zur Baustelle zurück kehrten und das kleine Haus mit dem Bagger in nur 20 Minuten völlig zerstörten. Andere Anwohner schalten sich ein. Ein Witz sei es gewesen – wenn’s halt nicht so traurig wäre – als der Baggerführer nach getaner Arbeiter zu Fuß flüchtete und man zwei weitere Arbeiter an der Ecke „Schmiere“ stehen sah. Ob es zu Ermittlungen kommt weiß man nicht. Aber das Häuschen in der Grasstraße 1 ist weg. Anstelle der eingereichten Anträge zur Sanierung des Gebäudes wurde es einfach abgerissen. Frei nach dem Motto: Es ist zwar verboten, aber weg ist weg. Dann zahlt man halt eine Strafe. Weiterlesen

Ferienpass für Paul

In unserem Haus ist es still geworden. Sommer still. Während der großen Ferien ist gut die Hälfte der Bewohner ausgeflogen. Die Studenten sind nach den Prüfungen in ihre Heimatstädte gefahren und die Familien haben Koffer und Kinder in das Auto gestopft und haben sich Richtung Süden aufgemacht. Auch ein Großteil derer, die nicht auf die Sommerferien angewiesen sind, nutzten die Hochsaison um zu verreisen. Sie machen es, weil sie schon als Kind mit ihren Eltern im August in den Urlaub gefahren sind und man sich nur schwer von langjährigen Traditionen trennen kann. Paul und ich nicht. Wir sind daheim geblieben und haben das Haus fast für uns. Ein Zustand der mehr als ungewöhnlich ist. Die Maschinen im Waschkeller sind nicht besetzt, die Altpapiertonne quillt nicht über und der Aufzug fährt in den vierten Stock, ohne auch nur einmal für andere Bewohner anzuhalten. Fast schon unheimlich, gestehe ich Paul, als wir uns im Waschkeller treffen und unsere Maschinen füllen. Er lacht mich aus, nickt aber. Viel zu still sei es, beschwert er sich. Für eine solche Ruhe sei er nicht in die Großstadt gezogen. Gegen plötzliche Ferienbedingte Einsamkeit in der Großstadt empfehle ich ihm einen Gang zur Post. Dort ist die Schlange nicht kürzer geworden. Um den Kunden ein Gefühl der Vertrautheit zu vermitteln, hat man drei der vier vorhandenen Schalter kurzerhand geschlossen und lässt den zuhause gebliebenen Rest in gewohnter Manier schön lange warten. Paul lacht nicht. Die ruhige Stadt nervt ihn. Weiterlesen

Giesinger Tauschgeschäfte

„Woin´S a Zwetschgnrohrnudel?“, ob ich eine Zwetschgen Rohrnudeln wollen würde, fragte mich Herr Mu heute morgen an der Bushaltestelle. Weil ich bei dreißig Grad schon am frühen Morgen bei solchen Angeboten etwas misstrauisch bin, erkundigte ich mich, wie lange er die Zwetschgenrohrnudeln schon in den Tiefen seiner Tasche mit sich herumschleppte. Herrn Mu kann man so etwas fragen. Herr Mu ist nie beleidigt und grinste auch heute morgen. Ohne zu antworten, beugte er sich über die große Plastiktasche und teilte mir mit, dass ich gleich schlecken und juchzen würde. Die Zwetschgenrohrnudeln sein nämlich von der alten Huber. Ich kenne die alte Huber nicht, aber Zwetschgenrohrnudeln von alten Frauen sind eigentlich immer besser, als die vom Bäcker. Als Herr Mu sich wieder aufrichtete, war ich mir sogar sicher, dass die Rohrnudeln etwas besonders feines waren. Sie waren nämlich in Pergamentpapier eingeschlagen und nicht in eine lieblose Plastikdose geworfen worden. Ich nickte. Ja, so eine Zwetschgenrohrnudel nahm ich gerne. Herr Mu reichte mir eines der Prachtstücke und ich bot ihm einen Tausch an. Da er für mein Mittagessen gesorgt hatte, konnte ich ihm leicht das meine abtreten. Rohrnudel gegen Kichererbsensalat. Herr Mu verzog den Mund und schüttelte den Kopf. So etwas gesundes würde er nicht essen. Einen Mann wie Herrn Mu muss man aber nur lange genug ansehen und er knickt ein. Nach zwei Atemzügen nahm er meine lieblose Plastikdose und versprach, den Salat wenigstens einmal zu probieren. Die Dose verschwand in seiner Plastiktüte und mir fiel ein, dass ich vergessen hatte beim vietnamesischen Backshops eine Pfandflasche zurück zu geben. Eine Entscheidung die ich schnell bereute. Weiterlesen

Jetzt weiß es auch Paul

Ob ich noch ganz richtig ticken würde, wollte Paul gestern Abend am Aufzug von mir wissen. Selbst für meinen Nachbarn Paul, für den ein Schnalzen mit der Zunge als adäquate Begrüßung galt, war dieser Gesprächsauftakt ein wenig unfreundlich. Ich schob es auf ein zuviel an Sonneneinstrahlung und zuckte nur mit den Schultern.  Für mein Empfinden tickte ich durchaus richtig und noch dazu in einem überaus fröhlichem Rhythmus. Ohne auf den möglichen Sonnenstich meines Nachbarn Rücksicht zu nehmen, drückte ich ihm einen zwanzig Liter Sack Erde in die Arme und bat ihn diesen zu halten, um meine Post aus dem Kasten zu fischen. Mit einem gemurmelten „ihr spinnt doch“, erhielt ich meine Erde zurück und sah den vermeintlich Kranken ohne eine weitere Erklärung recht flott die Treppen nach oben sprinten. Wenn es nicht die Sonne war, dann war es sicher ein weibliches Wesen, das Paul die Laune verdorben hatte. Nachdem ich es nicht sein konnte, da ich die letzten Tage in Italien verbracht hatte, war es mir egal.
Als ich am Saftstand vor meiner Wohnung vorbei kam und brav 50 Cent für einen lauwarmen Becher abgestandenen Apfelsaft bezahlte, dämmerte mir, warum Paul an meinem Verstand zweifelte. Er sieht von seinem Fenster aus meinen Laubengang,  wohnt aber im Hinterhaus und bekommt die wirklichen wichtigen Dinge erst als einer der Letzten mit.   Weiterlesen

Erbsen im Frühling

Es heißt, dass die Menschen in Vollmondnächten durchdrehen. Angeblich geschehen dann mehr Unfälle, mehr Gewaltverbrechen und auch mehr Morde. Von Tötungs-delikten in meiner Nachbarschaft ist mir nichts bekannt. Weder bei Vollmond noch sonst. Mit Gewaltverbrechen können wir aber dienen. Oder wie würden Sie es nennen, wenn Sie von einer alten Frau mit Tiefkühlerbsen fast erschlagen werden? Bei uns hat das allerdings wenig mit dem Vollmond zu tun. In meinem Viertel drehen die Bewohner überwiegend an Tagen mit besonders schönem und eigentlich friedlich stimmenden Wetter durch. An Tagen wie heute zum Beispiel. Weiterlesen

Unverschämter Frühling

Wenn mir noch einer mit dem ach so schönen Frühling an kommt, dann schlepp ich ihn mit zu mir. Nicht für ein Schäferstündchen sondern damit er den Wahnsinn, den diese Jahreszeit in meinem Haus anrichtet, am eigenen Leib erleben kann. Wenn er dann noch etwas von einem blauen Band und Neuanfang murmeln kann – Chapeau. In meiner Straße macht der Frühling gar nichts neu. Ganz im Gegenteil. Die blöde Jahreszeit weckt meine Nachbarn aus ihrem Winterschlaf und sorgt dafür, dass der Wahnsinn des alten Jahres mit neuem Elan beginnt und das Haus mit unveränderter Wucht umbrandet. Dabei war es im Winter so schön ruhig. Die Bierliebhaber verkrochen sich im warmen Bauch der Kneipe und kamen nur für eine kurze Zigarette nach draußen. Meine direkte Nachbarin Frau Obst war über Wochen mit einer hübschen Bronchitis beschäftigt und hatte keine Kraft spionierend vor meinem Küchenfenster zu stehen und aus dem Hinterhaus hörte man durch die wummernden Bässe der Studenten WG nur gedämpft durch die geschlossenen Fenster . Es war so schön, als alle schliefen und jeder sich um seinen eigenen Schmarrn gekümmert hat. Jetzt ist es vorbei mit der Ruhe. Der Frühling ist da und mein Haus erwacht. Im Waschkeller riecht es schon ganz ekelhaft nach Weichspüler mit Fliederaroma. Weiterlesen

Eine Unverschämtheit

Wenn Frau Obst sich in den Waschkeller begibt, dann ist sie auf Krawall gebürstet. Eigentlich hätte sie hier unten nämlich nichts zu suchen. Sie besitzt sowohl eine Waschmaschine als auch Trockner in ihrer Wohnung. Das weiß ich, weil sie beides mit Vorliebe am frühen Samstagmorgen laufen lässt und mich gerne daran erinnert, dass nur faule Menschen am Samstag ausschlafen. Ausschlafen ist allenfalls am Sonntag erlaubt – sofern man den Kirchgang am Vorabend bereits hinter sich gebracht hat. Frau Obst ist in dieser Beziehung eine klasse Theoretikerin. Praktisch ist sie schon vor Jahren, nach einem Disput mit dem Chorleiter ihrer Gemeinde aus der katholischen Kirche ausgetreten. Der Herrgott würde es ihr nachsehen, erzählte sie. Er, mit dem sie recht eng verbunden ist, hätte zweifellos Verständnis dafür, dass sie unmöglich an einem Gottesdienst teilnehmen könne, der musikalisch von einem Kinderchor untermalt wird, der von einem geschiedenen Mann geleitet wird. Sodom und Gomorra. Der Besuch der anderen nur eine Trambahnstation entfernten Kirche ist selbstverständlich keine Alternative. Wenn Frau Obst also den Waschkeller aufsucht, dann nur weil sie schlechte Laune hat und ein Opfer sucht, an dem sie selbige auslassen kann. Weiterlesen