Verdammt, ich fluche leise, als ich mich durch mein Kellerabteil schiebe und im Dunklen an etwas stoße. Ein leises Lachen verrät mir, dass ich Paul und keinen Karaton angerempelt habe. Zum bestimmt fünften Mal an diesem Abend. Jedes Mal, wenn das Licht im Keller ausgeht, muss sich einer von uns den Weg nach draußen bahnen, um es für kurze drei Minuten wieder anzumachen. Seit meiner nächtlichen Ansprache zur Energiekries vor versammelter Nachbarschaft, darf ich mich über die kurze Zeitschaltuhr nicht beschweren und fluche nur ganz sanft. Ich stoße mit dem Gesicht gegen den Pauls Rücken und höre sein Lachen jetzt von oben und nicht mehr unten. Wir tasten uns kichernd an der Wand des Kellers entlang und als wir gleichzeitig nach dem Lichtschalter greifen und uns gegenseitig kichernd auf die Finger klopfen, entsteht im wieder angehenden Licht für einen kurzen Moment eine etwas peinliche Stille. Kein Wunder, denn sind wir beide nur im Keller, weil uns Halloween und die nach Süßigkeiten bettelnden Kinder auf die Nerven gehen. Unsere Wohnungen sind beide über Laubengänge zu erreichen und wenn wir unsere Türen nicht öffenen, klopfen die Eltern der Kinder an unsere Fenster. Da wir nicht im Dunklen sitzen wollten, sind wir geflohen. Dass wir das nun trotzdem tun und beide vorgaben unsere Keller ein wenig aufzuräumen ist reichlich albern. Anfangs mittlerweile aber ganz lustig. Paul grinst und hält mir eine CD unter die Nase. Eine die er auch einmal hatte. Eine, die vermutlich jeder in unserem Alter einmal hatte und die ich mir mit siebzehn gekauft habe. Wir gehen zurück in mein Kellerabteil und hocken uns wieder vor den Karton mit meinen alten CDs und Kassetten. Drei Minuten lang wühlen wir uns durch meine musikalische Vergangenheit, erkennen einen ähnlichen Musikgeschmack und rempeln uns an, als das Licht erneut ausgeht.
Eine halbe Stunde später brennt in meinem Kellerabteil eine Balkonlampe. Paul hat seine Powerbank von oben geholt und sie angesteckt. Meine CDs stehen wieder im Regal und wir widmen uns alten Kassetten. Kassetten, die ich seit gut zwanzig Jahren nicht mehr abspielen konnte. Paul schon. In seinem Kellerabeil steht ein altes Radio mit Kassettendeck und Batteriebetrieb. Oh shit, sagt er als die Klänge einer sehr, sehr alten Kassette durch den Keller tönen und lehnt sich an die Bretterwand. Stefan Egger, fragt er und ich nicke. Ob er früher auch in diesem Club…? Paul nickt und erinnert sich an die mit Schwarzlicht beleuchteten Toiletten dieses Clubs und den Pommesstand davor. Er stockt und ich stupse ihn mit dem Ellbogen an. Na los, sage ich, du wirst den Namen doch nicht vergessen haben. Er überlegt, während ich einen anderen Karton hole und ihm eine Handvoll Flyer in die Hand drücke. Natraj, natürlich. Ich nehme ihm eine kleine grüne Karte aus der Hand und bin für einen kurzen Moment wieder neunzehn Jahre alt. Neunzehn und auf dem Weg in den Natraj Tempel, wie an jedem Freitag.
Wir nicken einem Nachbarn zu, der in den Waschkeller geht und grinsen uns an, als uns dieser einen irritierten Blick zuwirft. Ich kann es ihm nicht verdenken. Paul und ich haben aus meinem Keller eine Weinflasche geholt, trinken ihn aus etwas verstaubten Bowlegläsern seiners Kellers, sitzen auf einer Gästematraze und hören Musik. Mittlerweile bin ich nicht mehr neunzehn, sondern gedanklich zwanzig und denke dank des Bowleglases in meiner Hand an die widerlich süße Erdbeerbowle, die es Donnerstags im Soul City gab. Paul verzieht das Gesicht. Die Plörre hätte ich hoffentlich nicht getrunken, da hätte sich halb München drüber gebeugt und sein Glas, inklusive Finger und Jackenärmel in den Bottich getaucht. Ich zucke mit den Schultern. Natürlich hatte ich sie getrunken. Sie war umsonst und ich damals chronisch knapp bei Kasse. Nett war es da. Damals. Im Natraj war es besser sagt Paul und schenkt mir noch einmal ein. Unser Gespräch verstummt, wir sitzen still nebeneinander und hängen unseren Gedanken nach. Erst als die Kassette zu ende ist, sehen wir uns das zweite Mal an diesem Abend in der plötzlichen Stille ein wenig verlegen an. Auch wenn wir uns damals nicht kannten, wir waren über Jahre hinweg in den gleichen Clubs und Bars und sind wahrscheinlich irgendwann neben einander gestanden. Auf eine seltsame Art glaube ich Paul nach den letzten Stunden weit besser als nur einen Nachbarn zu kennen. Wir haben viel gemeinsam erlebt ohne uns gekannt zu haben. Es heißt München sei ein Dort und meistens stimmt das. Paul hält mir die Hand hin uns zieht mich nach oben. Ist es safe, fragt er mich und ich nicke. Es ist kurz vor Mitternacht und die Gefahr, dass noch irgendwelche Kinder an der Wohnungstür um Halloween Süßigkeiten betteln dürfte jetzt vorbei sein. Bevor wir nach oben gehen zeigt mir Paul noch ein Foto von sich und seiner damaligen Clique. Zwei davon kenne ich. München ist wirklich ein Dorf.
Im Aufzug lächelt Paul sein Rhett Butler Lächeln und erkundigt sich wie die Chancen auf einen Absacker stehen. Ganz schlecht, sage ich und steige auf meiner Etage aus. Auf meinem Sofa sitzend denke ich an den Natraj Tempel. Ein halbes Leben ist das jetzt her. Aber das ist ok. Solange ich mich noch spät Abends überreden lasse Wein aus Bowlegläsern im Keller zu trinken, wäre mein zwanzigjähriges Ich nicht um mich besorgt. Es hätte mich vermutlich nur gefragt warum ich nicht noch einen Absacker mit Paul getrunken habe und ich hätte meinem jungen ich den grünen Flyer des Natraj in die Hand gedrückt und viel Spaß gewünscht. Verraten hätte ich ihm nichts. Irgendwann hätte es schon begriffen, dass ein solches Rhett Butler Lächeln alles viel zu kompliziert macht und man solchen Männern besser aus dem Weg geht. Und während ich mir die Zähne putze lacht mein sechtzigjähriges Ich, weil sich in Schwabing genauso ein Lächeln gerade auf den Weg zu mir macht, nachdem ich ihm eine SMS geschrieben habe. Ruhe jetzt! Alle beide.
Die Geschichte mag ich sehr! Erinnert mich an Irgendwas. Was war das bloß noch?
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Freut mich, Gerda. Es war ein toller Abend. Mit vielen Erinnerungen von denen ich bei machen nicht mal sagen könnte, woran sie mich im Detail erinnerten.
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Hm, was war in der Flasche drin? Und, vielleicht, in der Musik? Wenn es dadurch schon eine (Lem’sche, nach dem bekannten polnischen Wissenschaftler und Autor) Zeitschleife gibt, in der man sein früheres und späteres Ich treffen kann? Anders überlegt. Man kann der Samhain – Nacht nicht aus dem Wege gehen, etwas surreales muß passieren.
Ich gab den Kindern übrigens neben Süßigkeiten auch Essiggurken. Sie hatten schließlich danach gefragt!
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Gut überlegt. Wir haben die Kinder denn reagiert auf deine Essig Gurken? Mich hättest du mit denen glücklich gemacht. 😂👍
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Schon als Kind? Sie haben ein bißchen schräg gelächelt (viel zu erwachsen, pah!) und ich weiß auch, wem sie die mitgebracht haben. Schließlich sollen die Eltern auch was davon haben.
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Schon immer eher salzig als süß. 🙂
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Hi Mitzi, das mit dem ausgeschlagenen Schlummertrunk = Absacker versteht mein 77jähriges Ich auch nicht. Und dann habe ich extra den Rhett Butler mal nachgeschlagen – ich wäre vor diesem Typ absolut sicher und er auch vor mir.
Und tschüss!
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Liebe Clara, wenn du dir Fotos von Rhett Butler angeschaut hast, dann sind es ja die aus dem Film. Ich mein das Lächeln das in dem Buch „Vom Winde verweht“ so wunderbar beschrieben wird. Gegen einen Absacker hab ich prinzipiell selten etwas. Aber es gibt Männer bei denen steht das Wort Absacker für vielfältige Synonyme 😉 Liebe Grüße
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Ach so, ich verstehe!!!
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Liebe Mitzi, ich bin auch mal wieder da. Es ist immer wieder schön, vertraute Stimmen zu hören, respektive zu lesen und zu geniesse. 😊
Aber liegt es vielleicht an meinem nach wie vor etwas Corona betäubten Kopf oder war Deine Lektorin gerade im Urlaub, als Du diesen Text gepostet hast? Oder sind da Deinen zwanzigjährigen Ich beim Tippen etwas die Pferde durchgegangen… 🤔
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Vermutlich Letzteres. 🙈 Und die nicht vorhandene Lektorin ist natürlich unschuldig. Ich werde mir das heute gleich noch mal anschauen. Dir wünsche ich jetzt aber erst mal ganz gute Besserung und hoffe das du Corona schnell wieder los wirst. Liebe Grüße
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Das ist eine voll schöne Geschichte. Mit dieser HalloweenSache tue ich mich auch schwer, wobei ich eben hier oben in den Kommentaren gelesen habe, man kann ja auch Essiggurken – Saures – mitgeben, und das finde ich einen Gedanken wert. Dem RhettButlerLächeln wäre ich auch aus dem Weg gegangen, oder aber, wenn´s das gibt – hätte mich an ein vertrautes solches gehalten. Älter-werden ist schon auch schön. Man wird halt auch gescheiter 🙂
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Stimmt. Das gescheiter werden ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Auch wenn da bei mir noch Luft nach oben ist 😉
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ach schön… ja, wien ist ebenso ein dorf und diese erlebnisse kenne ich auch. lustig ist es irgendwie auch mit welchen, die deutlich jünger sind, das gemeinsame draufkommen, dass man die gleichen dinge kennt, obwohl einen 10 jahre trennen.
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Ja das stimmt. Mir ging es neulich so mit jemanden der deutlich älter war als ich und trotzdem schon an genau den gleichen Orten war. Es ist schon schön, dass die Städte manchmal auch ein Dorf sind.
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Oh ja. Und dann auch wieder groß genug um einfsch auch anonym zu sein…
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Was ja manchmal auch angenehm ist.
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absolut 🙂
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