Von Brausepulver und zurück gelassenen Dingen

Der Nachbarsjunge hämmert gegen die Wand und ich brülle durch Putz und Ziegel, dass er die Klappe halten soll. Ich musste mir jahrelang die Sirene seines Feuerwehrautos anhören, da wird er meine Lieblings-CD auch aushalten können. Meine Freundin schlägt vor die CD zu wechseln und ich stelle ihr frei zwischen den Titeln zu wählen, drohe aber mit sofortigem Entzug des restlichen Weines, wenn sie die CD zu tauschen versucht. Lachend, aber mit besorgtem Unterton, attestiert sie mir, dass ich langsam ein wenig anstrengend werden würde. Ich zucke mit den Schultern und sage ihr nicht, dass sie die Klappe halten soll. Ich weiß, dass sie Recht hat. Aus der Küche ruft einer, der mich länger als sie kennt, dass es besser sei, mich die nächsten Tage einfach in Ruhe zu lassen. Er lacht und drückt mir im Vorbeigehen ein Bussi auf die Stirn und dreht die Musik lauter. Früher, als er und ich in einer WG wohnten, verfluchte er diese CD – als Besucher sieht er es entspannt und stellt amüsiert fest, dass auch er die Texte  der Lieder noch auswendig kennt. Wir murmeln sie mit, ignorieren das Klopfen der Nachbarn und winken meiner Freundin, die sich verabschiedet und etwas von „Irrenhaus“ murmelt. Ich kann es ihr nicht verdenken. In einer Woche fahre ich nach Italien und ich musste zu lange warten, als dass ich jetzt noch rund laufen würde. Oder deutlicher, wie es der klügste meiner Freunde ausdrückt – ich spinne und das nicht zu knapp. Lucio Battisti mag aber auch er noch immer. Dieci ragazze, schreie ich als eines meiner Lieblingslieder kommt und er hält mich lachend davon ab, die Musik noch lauter zu drehen. Als Ausgleich bekomme ich eine Umarmung. Trotz Corona. Schließlich ist dieser Virus schuld, dass ich einen meiner Freunde seit Februar nicht sehen konnte. Einen, der mir besonders wichtig ist. Un avventura!!! Noch ein Lieblingslied. Ich schlüpfe aus den Armen die mich festhalten und drehe die Anlage ein kleines bisschen lauter…nur bei diesem Lied, verspreche ich und weiß, dass ich schwindle.

Der klügste meiner Freunde resigniert….schmunzelnd. Er weiß, dass ich mich in einem emotionale Ausnahmezustand befinde. Einem von vielen in den letzten Jahren. Die meisten hat er selbst miterlebt – zum Beispiel meine Sehnsucht nach Italien. Nicht nur nach dem Land, sondern dem einen Menschen, den ich zu meinen engsten Freunden zähle und ohne den das Leben farblos und blass wäre. Der, mit dem ich einige Jahre in Italien lebte und der, der dort geblieben ist, als ich zurück nach Deutschland ging. In seinem Auto liefen damals zwei CD´s die ich besonders mochte und noch heute höre bevor ich ihn besuche. Immer. In Dauerschleife. Eine Tradition auf die ich nicht verzichten möchte und nicht verzichten kann. Meine Nachbarn hassen mich in dieser Zeit und die meisten meiner Freunde flüchten. Alles bis auf einen. Er bleibt, weil diese beiden CD´s seit Jahren zu mir und auch ein bisschen zu ihm gehören. Früher als wir noch in einer WG wohnten, spielte ich sie das erste Mal ab. Damals litt er unter Migräne, heute lacht er und singt die Lieder mit. Schön, dass sich nichts ändert, sagt er als er geht und nimmt mich noch mal in den Arm. Vier Tage nur noch, höre ich ihn flüstern und erlaube ihm, die Musik etwas leiser zu drehen. Er darf es, aber nur weil er weiß, dass leiser noch immer laut sein muss. Du spinnst sagt er schmunzelnd und ich lächle. Ich bin an einem Punkt, an dem die Sehnsucht nicht mehr schön, sondern nur noch anstrengend ist. Die Sehnsucht und ich. Ich beginne mein Umfeld in den Wahnsinn zu treiben und sie fragen mich ob ich nicht übertreibe. Schließlich wäre es doch nur ein Freund und ein schöner Ort, den ich ein paar Monate lang nicht gesehen habe. Sie irren sich. Es ist viel mehr. Ich vermisse nicht nur einen meiner besten Freunde ein wunderschönes Land. Ich vermisse ein Stück weit auch einen Teil von mir. Es ist etwas, das ich vor vielen Jahren dort und bei ihm zurückgelassen habe.

Jeder von uns wird älter und jeder verändert sich. Das ist normal und auch gut und wichtig. Stillstand tut den meisten Leben nicht sonderlich gut. Und dennoch… manchmal lässt man im Leben etwas zurück von dem man sich wünscht, es etwas stärker festgehalten zu haben. Ich zum Beispiel vermisse mein Ich, das mutig und furchtlos war. Und ich vermisse die Naivität meines jungen Ichs, das fest davon überzeugt war, dass ihm in diesem Leben nichts schlimmes passieren wird. Mit meinem heutigen Ich bin ich glücklich. Wir mögen uns und doch fehlt manchmal dieser kleine und unbeschwerte Teil, der den meisten Menschen im Laufe eines Lebens ein wenig verloren geht. Wenn ich nach Italien fahre, dann finde ich ihn wieder. Diesen kleinen Teil von mir den ich ein wenig überstürzt vor vielen Jahren zurückgelassen habe. Da wo ich bin, bin ich glücklich. Und doch, muss ich manchmal zurück. Ich muss mich daran erinnern, dass ich noch immer hoffnungslos optimistisch, stur naiv und stärker und mutiger bin als ich im Alltag glaube. Ab und zu muss ich neben diesem einen Freund sitzen, der mich kannte als ich all das gewesen bin. Dann kann ich wieder frei atmen, sehen und denken. Ich vermisse ihn. Vier Tage noch. Bis dahin bleibt die Musik laut und die Nachbarn bekommen als Entschuldigung Überraschungseier und Brausepulver vor die Türen gelegt. Vielleicht erinnern sie diese an etwas, das sie lange nicht gefühlt haben. An einen Teil von ihnen, den sie im Laufe ihres Lebens zurück gelassen haben.

11 Gedanken zu “Von Brausepulver und zurück gelassenen Dingen

  1. Liebe Mitzi,
    Oh, wie gut ich Dich gerade verstehe! 🙂
    Ich wünsche Dir eine gute Reise, und komme bitte gesund wieder zurück! ❤
    (Schon mal daran gedacht, Deinen Nachbarn statt Brausepulver Oropax vor die Tür zu legen? 😉 Nur so ne Idee… ) 😀

    Liebe Grüße,
    Werner

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  2. gänsehaut von anfang bis ende. italien macht das auch mit mir, ganz ohne, dass ich dort gelebt hab. und was du schreibst, von diesem Ich, das du warst. ich denke, wenns drauf ankäme, würdest du es ganz schnell wieder finden. ich hatte es auch verloren, so richtig verschüttet war es. alles was durch das ausgraben zutage tritt ist anstrengend und grade oft schmerzhaft, aber wir dürfen die verbindung zu dem nicht verlieren, was wir mal waren, glaube ich. sonst gehört man zu denen, die nur mehr existieren, aber nicht mehr leben.

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    1. Bei jeder Zeile nicke ich. Besonders stimme ich dir beim bloßen existieren bei. Das ist möglich, aber doch eine sehr unschöne und traurige Vorstellung.
      Ich geh jetzt einsammeln….fühl dich umarmt, bis in zwei Wochen.
      Liebe Grüße

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  3. Liebe Mitzi,
    ich bin ja nicht neugierig, muss nur alles wissen! 😉
    Um welche CD dreht es sich bitte? Dann kann ich besser nachfühlen, ob meine Nachbarin sie laut spielen sollte, oder lieber nicht?!
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, die CD ist gebrannt und ich finde im Internet das Cover nicht. Vielleicht gibt es die Variante gar nicht mehr. Aber auf „Emozini“ von 1970 sind schon sehr viele Lieder drauf, die auch auf meiner gebrannten CD sind.
      Herzliche Grüße

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  4. Oh, diese selbstgebrannten CDs (früher die selbst zusammengestellten Tonbandcassetten) haben es in sich! Da haben wir auf der Fahrt in den Urlaub unsere Lieblingscassette immer wieder gespielt. Da muss man später nur einzelne Titel hören, da weiß man genau, wo das gewesen ist, und welcher Titel als nächstes kommen muss. Die Musik transportiert die Seele wie in einer Zeitreise. 🙂

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  5. Was für veraltete, herrlich zuverlässige Technik! Auch die MC, auf der man doch mit etwas Mühe genau die Stelle wiederfinden konnte, zu der man wollte. Heute versuche ich vergeblich bei den modernen Karren die Stelle zu finden, an der man etwas einschieben will… nein, das ist ganz modern! Und das Lärmgerät macht, was es will. „Es ist was faul in Däne… – an der nächsten Kreuzung links abbiegen!“ Ja, was jetzt? Shakespeare oder Kommandotante?
    Gleichwohl, in Nachbars Wohnung… nun gut, der Junge nebenan, zum Glück heißt das bei uns ein Haus weiter, steht auf harte Steine, der wäre mit Brause nicht mehr zufrieden zu stellen.
    Jedenfalls kann ich mir (Schultertätschel) zugutehalten, dass ich noch nie das leiserdrehen verboten habe, wohl aber im Gegenteil. Denn zu guter Letzt höre ich die Musik oder das Theater in meinem Kopf und wüßte öfter mal gerne, wie man denen da ein Programm vorschreibt oder leisedreht, da hilft auch keine Brausepause mehr und leider auch kein Ohropax.

    Aber Italien! Immer schön, nie besonders leise, aber mit diesem gewissen Schwung in seinem Lärmen, der verrät, dass der Lärm nicht einfach Selbstzweck ist, sondern halt Begleitmusik des Lebens. Na, da will ich auch mal wieder hin, wo’s hier doch grad nur regnet, regnet… Nein, ich hocke hier nördlich der Alpen fest und fand das bis vor ganz kurzem ganz o.k., da es ja so warm war, aber grade jetzt – aber keine Sorge, ich bin im Kopf heute schon verreist. Gleich noch ein Stück weiter, traf ein Nilpferd und einen Löwen dort an, wir haben uns blendend unterhalten!
    Trotzdem wär Italien mal wieder ein reales Ziel.

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