Helga mag es auch ruhig

Der, der ab und zu mit einer Flasche Wein vor meiner Türe steht, ist einer der ruhigsten Menschen die ich kenne. Meistens bin ich es, die spricht. Für mich und auch für ihn, wenn ich versuche das in Worte zu fassen, was er nicht ausspricht. Dann nickt er oder schüttelt den Kopf. Zieht ärgerlich die Stirn in Falten, streicht sich die Haare aus dem Gesicht oder reibt sich den Nacken. Manchmal lehnt er, mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen und hochgezogenen Schultern, im Türrahmen und grinst wie ein Sechzehnjähriger. Oft weiß ich nicht warum, mag aber das Grinsen und remple ihn im Vorbeigehen an. Wenn er nachdenkt, dreht er mir fast immer den Rücken zu. Er scheint dann ein Stück Himmel sehen zu müssen und es kommt vor, dass ich den Rücken umarmen und die Schulterblätter mit der Nase anstupsen muss, damit er sich wieder zu mir dreht. Das ist ok, weil er trotzdem da ist. Wenn er nichts zu sagen hat, nimmt er meine Hand. Drückt leicht meine Finger oder streicht mit dem Daumen über die Innenseite meines Handgelenks. Ich, die Worte so gerne hat, mag das noch lieber. Worte sind nicht das seine, sagt er, aber ich weiß, dass es nicht stimmt. Er kann erzählen. Manchmal besser als ich.

Wenn es mir nicht gut geht erzählt er von den Tauben auf seinem Dach, von denen er weiß, dass man sie nicht füttern soll weil sie nicht von ungefähr Ratten der Lüfte genannt werden. Dann aber erzählt er von der einen, mit dem weißen Fleck am Hals und behauptet, dass sie seit elf Jahren auf seinem Fensterbrett sitzt. Längst hat er ihr einen Namen gegeben. Haferflocken scheint sie besonders zu mögen. Ich mag die Taube auch und noch mehr Männer, die selbst keine Haferflocken essen, aber eine Packung für eine Taube namens Helga im Schrank stehen haben. Vor einigen Jahren fragte mich eine Freundin, wann ich mich in ihn verliebt hätte. Die Antwort war leicht – als er von den Tauben auf seinem Dach erzählte. Sie kamen in einer der ersten Mails vor. Sogar in der ersten überhaupt. Auf einem dämlich Online-Dating-Portal lautete seine erste Nachricht: „Hey, hilfst du mir die Tauben auf dem Dach mit Toppas zu bewerfen? Du bist klein genug, um durch die Dachluke zu passen.“ Was bescheuert klingt, brachte mich dazu ihm zu antworten. Bei unserem ersten Date schlief er ein und behauptet später, dass ich es als Kompliment sehen müsse, weil ihm die meisten Stimmen auf die Nerven gingen, meine aber ein ausgesprochen angenehmes Hintergrund Geräusch sei. Hätte er dabei nicht meine Hand gedrückt und geschmunzelt, wäre ich vermutlich aufgestanden und gegangen. Vielleicht auch nicht, weil ich mir bis heute nicht sicher bin ob er wirklich geschlafen hat oder einfach nur wissen wollte, wie es sich anfühlt nebeneinander zu liegen ohne den üblichen Smalltalk erster Verabredungen zu führen. Banalitäten führen bei uns zu Diskussionen, weil er durchaus Worte findet, wenn es darum geht, eine Meinung zu vertreten. Notfalls auch die meine. Wenn ich mich hoffnungslos und emotional in einer Argumentationskette verzettle, nimmt er mich verbal auseinander, bis ich mir selbst widerspreche und wiederholt dann seelenruhig erst meinen Standpunkt und dann den seinen. Klar, präzise und rational – zum erwürgen sachlich. Dann spricht er so, wie er manche SMS schreibt. Zum Beispiel:

„1. Nein 2. Wenn es sein muss 3. Willst du darauf eine a) ehrliche oder b) charmante Antwort?“

Auch zum erwürgen.

Momentan ist er nicht hier und als ich ihm antwortete wählte ich 3a). Mein Plappern würde ihm erstaunlicher Weise fehlen, schreibt er, und noch einiges mehr. Seltsam, wie ruhig es in einer Wohnung werden kann, wenn ein wortkarger, stiller Mensch nicht am Fenster steht.

 

 

 

 

12 Gedanken zu “Helga mag es auch ruhig

  1. ❤ das ist so schön mitzuspüren. genau so, ganz genau so soll es sein liebe mitzi. ich freu mich sehr, dass du einen menschen hast, den du zwischen die schulterblätter stupsen kannst. von dem gemeinsamen taubenfüttern ganz zu schweigen. und schlafen. das würde ich auch als kompliment werten. um einzuschlafen braucht es ruhe und vertrauen.

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    1. Lieb das du das sagst, aber ganz ehrlich….beim ersten Date einschlafen? Das geht gar nicht. Auch wenn die Begründung clever war ;).
      Egal, es täte mir heute leid, wenn ich nicht geblieben wäre (unter Schock ob der da gerade wirklich einfach einpennt) Liebe Grüße

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  2. Es gibt so viele Worte und so viel zu sagen. Und doch, es wird zu viel geredet, geplappert, gibt es oft zu viele Worte, zu viel Geschriebenes, das einfach Unsinn ist. Oder nur Geplapper, Smalltalk. Man hat gesagt, das mache den Menschen aus. Gerade das Dauergeplapper, der Smalltalk.
    Aber ich verstehe die Männer, die einst (und jetzt) auszogen, um zu jagen, zu fischen und sagten: bleibt nur da, bei dieser Tätigkeit muß man den Mund halten können, still sein. Nur dann spricht die Natur zu einem, antworten die Geister der Tiere, der Luft und des Wassers. Bleibt am Feuer und quasselt, wir kommen wieder, mit oder ohne Beute, und dann freuen wir uns auch. Aber jetzt brauchen wir unsere Ruhe!
    So mag beides seine gute Berechtigung haben, der Geräuschpegel, den die Menschen ohne Mühe selbst erzeugen, und die Stille, wobei es in unserer mordernen Welt freilich von letzterer recht wenig gibt, immer mehr Menschen ohne Dauerberieselung es gar nicht mehr aushalten.
    Ich für mein Teil liebe die frühe Stunde am Waldrand oder am Bach, wenn es noch dunkel ist und allmählich das Leben erwacht bzw. die rein nächtlichen Wesen sich allmählich zurückziehen. Und (fast, denn ganz geht das in unseren Breiten nirgendwo mehr) tiefe Ruhe herrscht.

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