Grüezi vom Bernhard

Ich bin dem mutigsten meiner Freunde für viele Dinge dankbar, besonders aber dafür, dass er manchmal keine Fragen stellt. So sagte er zum Beispiel vor einigen Wochen, nur „schön“, als ich ihm mitteilte dass ich ihn für genau 6 Stunden an einem Schweizer Ort in der Nähe zu Italien besuchen würde und leider nicht mehr Zeit hätte, weil ich mich einer Reisegruppe besteht aus 50 Rentnern (inklusive meiner Eltern) angeschlossen habe und Tags darauf das Jungfraujoch zwischen Mönch und Eiger besichtigen würde. Mit keinem Wort fragte er mich, ob es nicht sinnvoller sei, ihn für etwas mehr als 6 Stunden dann eben einfach einige Tage später zu besuchen. Die Frage wäre durchaus berechtigt gewesen. Selbst für ein Organisationstalent wie mich, handelt es sich bei 48 Rentnern (exklusive meiner Eltern) um unbekannte Variablen, die einen gut durchdachten Plan binnen kürzester Zeit zunichte machen können. Im aktuellen Fall brauchte es nicht einmal vier Duzend, teils überaus verhaltensauffälliger Senioren, um mich an den Rande eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. (Bitte beachten Sie – vier Duzend. Nicht meine Eltern!) Es reichte ein reiseleitender Busfahrer, der bei der Anfahrt des Hotels mitteilte, dass wir nicht Montags, sondern schon Sonntags nach Locarno fahren würden. Ich habe ihm gleich gesagt, dass das nicht geht. Dass er damit rechnen müsse, dass sich zwischen den Rentnern eine, noch weit von der Rente entfernte Frau befinden könne, die zwingend am Montag und nicht am Sonntag genau sechs Stunden in Locarno sein müsse um dort einen ihrer besten Freunde zu treffen, der sich am Sonntag noch in Ligurien und nicht am Lago Maggiore befinden würde. Er hat nicht einmal verstanden was ich sagte. Wahrscheinlich weil er Pfälzer ist. Die verstehen uns echte Bayern selten. Ich hab es langsam für ihn wiederholt: DAS GEHT NICHT! Es war ihm egal. Den Rentnern auch. Nicht meinen Eltern. Die atmeten bereits ganz tief ein und aus und hofften vermutlich, dass ihre Tochter nicht gleich einen Tobsuchtsanfall bekommen würde. Solche Anfälle kennen sie von mir. Die meisten hatte ich zwar mit drei Jahren in Supermärkten oder beim Versuch Bauklötzchen zu stapeln, aber leiser bin ich in den letzten Jahrzehnten nicht geworden. Mein Papa hat mich vorsichtshalber gar nicht erst angeschaut und meine Mama nur aufmunternd und besonders lieb angelächelt.

Gelächelt hat auch die Frau an der Rezeption, als ich ihr erklärte, dass ich am Montag zwingend nach Locarno müsse und vorsichtig nachfragte ob das mit dem Taxi möglich sei. Sie lächelte, hat den Kopf geschüttelt und mir erklärt, dass ich mich knapp dreihundert Kilometer von Locarno entfernt befinden würde. Fragen Sie mich bitte nicht, warum ich mir das erst an der Rezeption erklären lassen musste. Ich hatte einen all-inclusive-Renterreise gebucht und mir von Anfang an vorgenommen, das Denken weitestgehend einzustellen. Wann kann man das in meinem Altern schon? Wenn man mitten im Leben steht, ist es doch herrlich auch mal ein paar Tage lang nicht zu denken und das wieder den Eltern und einem reiseleitenden Busfahrer zu überlassen. Da mir dieser Luxus anscheinend aber nicht vergönnt war, dachte ich dann eben doch nach. Ich dachte: „Nicht mit mir!“ Dann fahren wir eben am Sonntag nach Locarno, ich buche mir dort ein Hotel, bleibe übernacht und fahre nicht mit den anderen zurück, treffe am nächsten Tag, den mutigsten meiner Freunde und fahre am Abend mit dem Zug zurück in das Bergdorf in dem ich mich gerade befinde. Drei mal umsteigen, vier Stunden Fahrzeit einfach und Kosten über die ich lieber nicht nachdenken möchte. Passt.

Passt, sagte auch der mutigste meiner Freunde, als ich ihm weniger später ein Foto des Screenshots vom eben gebuchten Hotel schickte. Gerne hätte er in diesem Fall ein wenig mehr Worte verlieren dürfen. Zum Beispiel hätte er mir seine Verwunderung, warum ich mir ein Hotel in Luzern gebucht habe, ruhig mitteilen können. Luzern ist nämlich noch immer 278 Kilometer von Locarno entfernt. Ich vermute, dass er sich auf mein Organisationstalent verlassen hat und annahm, dass ich mir dabei etwas gedacht habe. Unter diesem Eindruck stand auch die Handy App, die mich, als ich meinen Irrtum kurz vor Mitternacht bemerkte, meine Reservierung nicht mehr stornieren lies. Wieder war es an mir mitzudenken und wieder dachte ich mir: „Nicht mit mir!“Scheiß auf die App, dann rufe ich eben direkt im Hotel an, dachte ich. Am Rande, wenn Sie als Bayer mitten in der Nacht mit einem Schweizer telefonieren, dann merken Sie schnell, wie unterschiedlich die Mentalitäten sind.

Ich bin definitiv nicht die Schweiz. Wenn der Nachtportier des Hotels in Luzern mich kennen würde, dann wüsste er es.  Aber selbst wenn er mich nicht kennt hätte er es an meiner Stimme eigentlich erkennen müssen. Ich war nicht ausgeglichen und neutral wie die Schweiz, ich war panisch. Und ein bisschen hysterisch, weil sich mein Reisebudget auf keinen Fall noch einmal um einen dreistelligen Eurobetrag erhöhen durfte. Das versteht er, sagte er mit ruhiger Stimme. Was er aber nicht verstand war, warum ich denn ein Zimmer in Luzern buchte, wenn ich doch nach Locarno wollte. Es war ein lieber Nachtportier. Er ließ mich ein bisschen weinen und hyperventilieren, bevor ich ihm erklärte, dass ich so eine saublöde Frage jetzt gerade wirklich nicht brauchen konnte. Ich sei Münchnerin, sagte ich ihm und mit der Schweiz nicht vertraut. Das versteht er, sagte er. Und weil er so verständig war, machte ich ihm einen kleinen Vorwurf. Ihm und den Schweizern im allgemeinen. Für Ausländer ist es nun wirklich nicht leicht, wenn alle Orte mit einem L beginnen. Ich erklärte ihm nochmal, dass ich weder die Schweiz noch eine Schweizerin bin und für mich ein doppeltes L zu Verwirrungen führte und fragte dann ob er mir das Zimmer denn nun stornieren würde. Er antwortet mit Ja. Weil die App das genaue Gegenteil behauptete und ich das Gefühl hatte, dass er mich nur los werden wollte, bat ich ihn mir eine E-Mail zu schreiben. Ich erbat das jetzt mit einem fast neutralen Tonfall, den ich für die Schweiz für angemessen hielt. Die Adresse hatte er ja durch die Buchung. Kurz vor eins in der Nacht erhielt ich eine E-Mail sie lautete: „Hallo und eine gute Nacht. Ich hoffe Sie haben sich beruhigt. Grüezi, der Bernhard aus Luzern.“ Als ich noch einmal anrief, um zu fragen ob das die Stornierungsbestätigung sei, hob Bernhard nicht mehr ab.

Dem mutigsten meiner Freunde schrieb ich später noch eine SMS. Er solle sich bitte darauf einstellen, dass ich unter Umständen emotional ein wenig angeschlagen sein würde. Passt, schrieb er. Und dass er sich auf mich freuen würde. Danach war ich emotional wieder stabil und buchte hoch konzentriert ein Hotel in Locarno, bevor ich noch etwa fünfzehn Mal versuchte, Bernhard ans Telefon zu bekommen.

Meine Eltern atmeten in dieser Nacht und am nächsten Morgen noch weiter ganz tief ein und aus. Meine Mutter mit stolzen Atemzügen, weil sie sich freute ein solches Organisationstalent als Tochter zu haben und mein Vater mit betont ruhigen Schnaufern, weil er sich vermutlich fragte wie er zu so einer Tochter überhaupt gekommen ist. Die Rentner atmeten auf. Sie waren erleichtert, mich für 48 Stunden los zu sein.

24 Gedanken zu “Grüezi vom Bernhard

  1. wieder einmal wo wunderbar unterhaltsam, so klar in meinem kopf, als hätte ich es erlebt oder wäre zumindest dabei gewesen. schön, diese menschen am anderen ende, die einen zu nehmen wissen, wie man ist. die sind wertvoll, von ihnen gibt es nur wenige.

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  2. Sich einer 50er Reisegruppe anzuschließen, egal aus welcher Art von Menschen sie besteht, ist so mutig, dass kleine Problemchen am Rande nicht ins Gewicht fallen 🙂 Außerdem ist es natürlich eine Frechheit von einer von allen gebuchten Route abzuweichen. Aber die Geschichte ist witzig, das ist doch auch was wert ….

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    1. Das muss ich doch. Ohne diesen Blog würde ich alle zehn Jahre mit meinen Eltern alleine verreisen – der schönen Zeit wegen. Seit ich aber hier schreibe, muss ich Menschen beobachten und das geht in einer Reisegruppe ganz wunderbar. Egal ob Rentner oder Teenager ;).
      Aber eine Frechheit ist es wirklich. Als hätte man keine Termine während einer Reise…

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  3. Liebe Mitzi,
    wer Sie nicht kennt, könnte denken: „Was für ein chaotisches Mädchen“.
    Wer aber Ihre gnadenlose Selbsterkenntnis schon erleben durfte, weiß mit absoluter, fast schon wissenschaftlich fundierter Gewissheit, dass keine Chaostheorie auch nur die geringste Chance hat, sich in Ihrem Umfeld von der Theorie in die Praxis umzusetzen.
    ….oder so 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Oder so… ;).
      Lieber Heinrich, ich bin schon sehr chaotisch, wenn ich mir gerade etwas in den Kopf setze und es unbedingt realisieren will. Am Ende lohnt es sich aber fast immer. Ich hatte wunderbare Stunden und der Tag alleine in Locarno war auch fein. Stundenlang durch eine fremde Stadt zu laufen ist auch mal schön.
      Herzliche Grüße

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  4. Ich hatte da mal einen Kunden, der glaubte, einen Autounfall in Marseille gehabt zu haben. Und dann hatte ich da diesen Marseiller Abschlepper am Telefon, der zwanzigmal ums Karree fuhr, weil er, der sein ganzes Leben in Marseille verbracht hatte, die Straße, die der Kunde genannt hatte, nicht fand. Schließlich stellte sich heraus, dass der Kunde tatsächlich einen Unfall hatte, aber eben nicht in Marseille, sondern in… St. Malo. (Man kann sich schon mal vertun bei der Eingabe ins Navi…)

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    1. Wenn man von solchen Geschichten liest, dann kann man darüber lachen und fragt sich ein bisschen, wie doof man sein kann. Aber es passiert. Ich hatte den ganzen Abend meine Eltern über Luzern reden gehört und wusste, dass ich dort umsteigen muss. Wahrscheinlich daher die Buchung. Wenn ich das Geld wirklich wieder bekomme, dann lache auch ganz befreit mit 🙂

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  5. Weia! Luzern ist aber auch ganz schön, ich war mal da. Man muß aber sehr laut schreien, wenn man sich mit jemandem unterhalten will, der in Locarno sitzt. Ich drück Dir die Daumen, das Bernhard ein ehrlicher Mensch ist.
    Die Rentner werden wahrscheinlich bei Ihrer nächsten Reise zur Bedingung machen, daß Du mitfährst – da ist endlich mal was los in der Bude. Langweilig nach Italien reisen, das kann jeder. Mit Mitzi als Begleitung – das dürfen nur Auserwählte.;-)

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    1. Ich fürchte umgekehrt – sie haben sich meinen Namen gemerkt und stornieren dann ;).
      Luzern ist wirklich wunderschön. Ich war dann ja nicht, aber meine Eltern haben geschwärmt und mir Fotos gezeigt.

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  6. Ich habe mich köstlich amüsiert 😂
    Als Trost: Für Schweizerinnen ist es manchmal auch nicht leicht, wenn alle Orte mit einem „P“ beginnen. Ich war zarte 20 Jahre alt, als ich zur Prüfung für das Sprachdiplom der „Alliance Française“ nach „Pully“ fahren musste. Ich stiefelte früh morgens völlig verzweifelt im Ort umher und suchte die Mehrzweckhalle, in der die Prüfung abgenommen wurde.
    Schliesslich fuchtelte ich mit der Prüfungseinladung einem freundlichen Herrn vor der Nase herum und fragte ihn nach dem Weg. Er schaute mich mitleidig an und sagte: Mais Mademoiselle, Sie sind hier in „Prilly“ !!
    Ich liess das Stadium Hyperventilieren aus und bekam direkt einen Weinkrampf: 3 Monate lang unregelmässige Verben in einer Sprachschule büffeln und dann fahr ich ins falsche Kaff! Ich musste ein Jahr warten (und die unregelmässigen Verben u.v.m. in meinem Gehirn speichern) bis ich die Prüfung nachholen konnte.

    PS: Luzern, Lugano, Lausanne sind auch eine Reise wert 😄

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    1. Ich bin erleichtert, dass eine Schweizerin über diesen Text lachen kann ;).
      Am Prüfungstag falsch zu landen, das ist echter Horror. Und dann ein Jahr warten..ich will mir das gar nicht vorstellen.
      Die Schweiz hat mir übrigens sehr gut gefallen. Wunderschön und einen Besuch wert. In Lugano war ich an jenem Tag dann noch – ebenfalls sehr schön.
      Liebe Grüße
      Mitzi

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  7. Ein wahres Kunststück ist diesem Bernhard gelungen. Eine Kundin am Telefon beruhigen, ohne ihr auch nur eine Spur entgegenzukommen. Du hast gut geschlafen, er ein gutes Geschäft nicht kaputt gemacht. Schöne Geschichte, der, wie sich das gehört, ein kleines Drama vorausging.

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  8. Diese Geschichte hätte auch meine sein können… Dublin mit Hamburg zu verwechseln war schon ein starkes Stück, zumal ich sagen muss dass ich in Geographie ziemlich gut bin. Aber sobald man das Häkchen mal nicht weggklickt… Auf dem Rückflug von Reykjavik zurück nach Hause hatte unser Flugzeug zwei Passagiere, die ursprünglich nach Oslo wollten.

    Freunde die manchmal keine Fragen stellen sind oftmals die Besten. Meine Mutter ist übrigens Meisterin dadrin ;D Sie würde in Krisensituationen eh keine Antwort bekommen.

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    1. Wenn es einen nicht selber trifft, versteht man kaum, wie man sich so beim Buchen irren kann. Aber es scheint nicht allzu selten vorzukommen.
      Ein Lob an deine Mutter. Die meisten brauchen für diese Erkenntnis Jahre. Meisten bekommen sie die Antworten ja eh und oft ist man froh sie geben zu können. Nur eben selten in den Momenten größter Krisen, wenn dann auch noch nachgefragt wird.

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  9. Nicht hauen: Ich überlege gerade, ob ich deine Mama, deinen Papa, die Rentner oder den Hotelportier am coolsten finden soll – oder doch dich. – Ich erkenne gewisse Parallelen zu meiner manchmal sehr konfusen Art.
    Und tschüss!

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