Es war ein VW Pritschenwagen T3 in Orange, sage ich und einer meiner ältesten Freunde sieht mich irritiert an. Ein Blick der nicht nötig ist, denn er könnte wissen, dass es nur ein T3 gewesen sein konnte. Der wurde von 1979 bis 1992 produziert, also genau in den Jahren als wir auf ihm spielten. Das Vorgängermodel aus dem Jahr 1968 konnte es nicht sein – das sah man sofort und der völlig neu konstruierte Nachfolger kam erst 1990 auf den Markt und damit zu spät. Kein Grund mich misstrauisch anzusehen. Selbst wenn ich von Autos keine Ahnung habe, weiß ich, dass es ein VW Pritschenwagen T3 in Orange war. Und außerdem weiß ich, dass er mir noch 3,84 Mark schuldet, die ich ihm kurz vor seinem elften Geburtstag geliehen habe und die er mir nie zurück gegeben hat. Die 1,96 Euro hätte ich gerne wieder. Nicht weil ich sie brauche, sondern einfach nur so, damit keine alten Schulden zwischen uns stehen.Er begleicht seine Schulden lachend und ich bestehe darauf ihm die 4 Cent zurück zu geben. Heute spielt es keine Rolle mehr, aber früher hätte man sich für 8 Pfennig noch vier Brauseherzen kaufen können und die Verkäuferin in der Bäckerei nahe der Kirche war die Einzige, die sich die Mühe machte auf Wunsch nur die blass rosa Herzen herauszusuchen. Ungläubig sieht mein ältester Freund mich an und ich verdrehe die Augen. Natürlich konnte er sich daran nicht erinnern. Sein Gedächtnis weist erschreckend viele Lücken auf und ich werde mir meiner Aufgabe als Chronistin unserer Kindheit mit jedem Jahr mehr bewusst. Einer muss sich erinnern, das war die Devise meiner Großtanten und als sie starben, habe ich diese Aufgabe gerne übernommen. So erzähle ich ihm an diesem Frühlingstag, womit wir unsere Kindheit verbrachten und ärgere mich über seine dummen Nachfragen. Natürlich gab es keinen nachvollziehbaren Grund für die innige Zuneigung, die wir zu einem orangen VW T3 Pritschenwagen empfanden. Rational betrachtet war es völlig sinnlos an Sommerabenden auf die Ladefläche zu klettern und dort, angenehm erhöht, die Nachbarschaft zu beobachten. Genauso grundlos verbrachten wir einen ganzen Sommer damit, Vormittags winzige, eiförmige Beeren in den Isarauen zu sammeln und sie Nachmittags vom Balkon vor dem Schlafzimmer seiner Mutter aus, auf ein Halteverbotsschild zu schießen. Immer abwechselnd, weil nur er eine Plastikpistole hatte, in welche man die Beeren als Munition laden konnte.
Damals durfte man nicht nach dem Grund fragen. Wir hätten nur schwer erklären können, warum wir mit unseren Rollschuhen nicht die Straße entlang, sondern stundenlang die Einfahrt zu einer Tiefgarage hinunter gerollt waren. Mein ältester Freund lacht. Doch, das wisse er schon noch. Es schepperte so herrlich laut, wenn wir mit Karacho dagegen knallten und es war nicht erlaubt, was einen besonderen Reiz ausmachte. Heute haben wir beide eine ganz gute Vorstellung davon, warum es nicht erlaubt war. Erstens machte es einen unglaublichen Lärm und zweitens war es wirklich gefährlich. Die Tore damals waren keine Rolltore und heute möchte ich mir nur ungerne Vorstellen, was passiert wäre, wenn wir ungebremst (denn bremsen konnte man auf dem steilen Stück unmöglich) gegen das sich öffnende Blechtor gerast wären. Vielleicht wären wir tot gewesen. Zwei von drei Dingen, die ich mit dem ältesten meiner Freunde früher gemacht habe, würde ich heute nicht mehr machen. Ganz einfach aus diesem Grund – dabei kann man, wenn man sich nur etwas blöd anstellt, sterben. Was dramatisch klingt, war es nicht. Wir waren harmlose Kinder. Obwohl ich meinen ältesten Freund einmal in das Backrohr des Ofens steckte, ihm interessiert dabei zusah, wie er mit einer Gabel die Kindersicherung der Steckdose aushebelte und ihm ganz aus versehen fast mit einem Kissen erstickt hätte. Kinder haben einen Schutzengel. Bei Erwachsenen war ich mir da nicht so sicher.
Und so machte ich mir auch große Sorgen, als mein Vater an einem Sommerabend die schmale Mauer am Rande der Rollschuh-Tiefgaragen-Rampe entlang balancierte. Am hinteren Ende ging es mehrere Meter nach unten und es war sehr dumm von meinem Vater, gerade auf diesem Mäuerchen zu balancieren. Mindestens so dumm wie von mir, einige Zeit vorher meinen Schuh auf das Flachdach der Garage geworfen zu haben. Mein Vater kam um ihn wieder zu holen. Warum ich das gemacht habe, ist mir bis heute ein Rätsel und auch der älteste meiner Freunde kann sich nicht mehr erinnern. Als wir uns letzten Herbst ein Bier auf der Parkbank teilten, zuckte er mir den Schultern und war sich sicher, dass wir das heute nicht mehr heraus finden würden. Vieles von dem was wir damals taten, ist uns heute ein Rätsel. Wir wissen nur noch, dass es ziemlich gute Sommer gewesen waren. Dass wir harmlos waren, hörten wir als Erwachsene oft. Dann grinsen wir uns an. Natürlich war es harmlos den Prischenwagen meines Vaters zu entern und den Nachbarskindern zu verbieten ebenfalls nach oben zu klettern. Nicht erlaubt (warum auch immer) aber harmlos. Nicht harmlos war manch anderes. Aber das erzählen wir unseren Eltern auch heute noch nicht. Wir hatten das große Glück noch zu einer Zeit aufzuwachsen, in der wir oft unbeobachtet waren. Höre ich meiner Mutter heute manchmal zu, dann schmunzle ich. Sie gehörte schon zu der Generation Mütter, die sich viele Gedanken um die richtige Erziehung machten und reges Interesse am Tun ihrer Tochter zeigte. Dafür bin ich ihr dankbar. Und sie mir – ohne es zu wissen – , dass sie letztendlich das meiste doch nicht mitbekommen hat.
Heute werde ich sie fragen, ob sie sich noch daran erinnern könnten, dass ich als kleiner Zwerg im Stau auf dem Schoss meines Vater saß und den Hebel der Gangschaltung bedienen durfte. Ich bin mir sicher, dass sie das nicht mehr wissen. Ich schon und deshalb ist mir das Armaturenbrett eines VW Pritschenwagens T3 noch heute sehr vertraut. Vorhin habe ich es gegoogelt und wieder erkannt. Nur, dass das meines Vaters im Sonnenlicht dank feinster Metallspäne immer leicht funkelte. Falls sie sich noch daran erinnern, dann geben sie es nicht zu. Damals herrschte schließlich schon Anschnallpflicht und auf die legte meine Mutter großen Wert. Meistens, denn manchmal machten sie zum Glück auch ähnlich unvernünftige Dinge wie mit Karacho gegen ein Tiefgaragentor zu donnern.
Ich muss nachher mal googeln, wie ein Trabbi Kombi im hinteren Ladebereich aussah 😀 . Von aussen war er grün, und ich hab ihn jeden Samstag per Hand gewaschen, Papas Dienstwagen. Also Gurte hatte der mit Sicherheit nicht. Hab da trotzdem ganz gut drin gesessen auf dem Weg zur Koppel, um die blöden ausgebrochenen Rindviecher wieder zurückzutreiben. Und oft sass ich auch nicht allein dahinten drin. Obwohl es sicher kein 8-Sitzer war *grins* …auch meine Eltern waren unvernünftig.
Trotzdem ists besser, sie wissen nichts vom „Spielplatz“ ihrer Mädels im Holzwerk 😎
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Eine schöne Erinnerung. Grün und Orange sind ja die Farben unserer Kindheit 😉
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Oh ja, wenn ich nur an die Tapeten denke 😉
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Großartig 🙂 So was bekommt man heute gar nicht mehr.
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Liebe Mitzi,
Du präsentierst hier so plastisch deine Kindheitserinnerungen, dass ich dich vor allem wegen der vielen Details, die du noch weißt, beneide. Auf jeden Fall ist es schön, wenn so eine Freundschaft aus Kinderzeiten noch besteht, so dass man sich gegenseitig auf die Sprünge helfen kann.Beim Lesen habe ich gedacht: Was Kinder alles Gefährliches machen, sollten Eltern lieber nicht wissen.
Dir frohe Ostertage!
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Lieber Jules, ich glaube Eltern würden schlecht schlafen, wenn sie wirklich alles wissen. Die Kinder vermutlich auch.
Das ganz besondere altere Freundschaften weiß ich sehr zu schätzen.
Auch dir schöne Ostertage und liebe Grüße
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In ein paar Jahren werden dir viele bei so manchen Erinnerungen nicht mehr glauben! Ist heute schon oft so. Telefonzelle? Was`n das? Kassettenrecorder? Nie gehört. Und bei dem zunehmenden Tempo wird es bei den par Kleinigkeiten kaum bleiben. Und da dachte ich immer, das passiert mir nie! Die Zeit wird immer relativer.
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Schon erstaunlich und manchmal auch unheimlich, wie schnell sich die Dinge ändern. Mir geht es auch so, dass ich mich ab und zu nur schwer damit abfinden kann. Umso beruhigender, dass manches bleibt. Meine Nichten und Neffen wachsen zwar anders auf, viel technischer und die Kommunikation wandelt sich, aber auch die rumpeln gegen Tore und beschäftigen sich stundenlang mit Kleinigkeiten.
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Einer muss sich erinnern, das war die Devise meiner Großtanten und als sie starben, habe ich diese Aufgabe gerne übernommen.
Liebe Mitzi,
und dass Sie Ihre Erinnerungen aufschreiben, ist das Wertvolle daran – auch für mich als Leser!
Einige Parallelen gibt es immer! 😉
Gruß Heinrich
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Es freut mich, lieber Heinrich, dass Sie an meinen Erinnerungen teilhaben. Es sind Banalitäten, aber wir haben ja alle Erinnerungen und wissen, dass man doch daran hängt.
Herzliche Grüße
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Kinder haben einen Schutzengel, klar, aber nur die Überlebenden.
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Das ist leider richtig. Allen anderen (Eltern) klingt diese Binsenweisheit wie Hohn in den Ohren.
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Liebe Mitzi! Danke für Deine unterhaltsamen Gedanken an früher! Ach ja, die Kindheit! ich erinnere mich, dass ich nie verstanden habe, warum andere Kinder solchen unsinnigen Sachen machten! Am wenigsten verstand ich die Unachtsamkeit meiner Mitkinder, wenn sie Käfer zertraten… Wobei das natürlich etwas ganz anderes ist, wie gegen ein Garagentor zu brettern… Aber irgendwie war ich langweilig brav … Nur von der hohen Scheune zu springen, was doch einige Meter war, das konnte ich… Nicht auszumalen, wenn ich einmal nicht ganz optimal gelandet wäre … aber es war das Adrenalin, schätze ich! Alles Liebe und wunderschöne Osterfeiertage, Bisous, Nessy
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Liebe Nessy, Käfer zertreten das ist etwas, das ich Kind auch nicht gemacht habe. Überhaupt waren mir Tiere sehr wertvoll.
Von der Scheune bist du gesprungen? Das hätte ich nie gemacht. Auch wenn meine Erzählung anders klingt, zu den mutigen und draufgängerischen Kindern gehörte ich auch nicht.
Bisous (ein so schönes Wort) Mitzi
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Ich bin ja auch heute noch sehr froh, dass meine Eltern nicht alles von dem wissen, was ich so treibe. Danke jedenfalls für den Ausflug in deine Kindheit, der war sehr lebendig. ☺
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Freut mich.
Schöne Ostern, liebes Zeilenende.
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…und mindestens noch ein Sternchen. 🙂
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Danke dir. Und schöne Ostern.
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Mitzi, so etwas von herrlich zu lesen, nur ich fühle mich doch ein wenig mehr in der Position deiner Mutter als in deiner. Dein Satz „Dafür bin ich ihr dankbar. Und sie mir – ohne es zu wissen – , dass sie letztendlich das meiste doch nicht mitbekommen hat.“ hat mich sehr, sehr stark an meinen Sohn erinnert. Die Tochter war relativ harmlos auf der Straße und im Freien – die hat mit ihrem Wissen und Können Rekorde aufgestellt – der Sohn mit den unmöglichsten Sachen, nicht nur mit seinem Fahrrad. Aber groß (und alt) geworden sind sie Gott sei Dank dennoch ohne ernsthaften Schaden – und ein paar Narben schmücken ein Männergesicht, früher sind Studenten in schlagende Verbindungen gegangen, um attraktiv für das weibliche Geschlecht zu werden.
Schönen Gruß (ohne Ostergruß, denn das ist fast zu 50 % vorbei)
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Oh erinnere mich nicht daran, dass Ostern schon zu 50% vorbei ist – ich fühle mich gerade wie im Urlaub und möchte glauben noch ganz viel freie Tage zu haben ;).
Ich denke es ist ganz normal, dass du dich in meine Mama einfühlen kannst. Mit zwei Kindern kennst du diese Seite sehr gut. Ich als „nur“ Tante kann mir zwar vieles vorstellen, bekomme aber doch nie ganz das Mama-Gefühl. Letztendlich war ich vermutlich ein sehr harmloses Kind. Wirklichen Mist habe ich nie angestellt und passiert ist mir auch nichts. Nur manchmal schmunzle ich, weil ich das große Glück hatte viele Geheimnisse haben zu dürfen.
Schöne Osterhalbzeit.
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Mein Sohn war immer der Kleinste in der Klasse und der Beste – deswegen MUSSTE er unbedingt die größten „Deiweleien“ anstellen. Eine davon, die schon mittelschwer ins Leichtkriminelle ging, hat ihn den Zugang zu einem naturwissenschaftlichen Spezialgymnasium gekostet, auf dem seine zwei Jahre ältere Schwester riesige Erfolge gefeiert hat. Vielleicht war es gut für ihn, denn er wäre immer nur der (kleine) Bruder von der (großen) Schwester gewesen – vielleicht hat da mal der Teufel ein gutes Werk getan 🙂
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Ja, ein bisschen viel unbeschwerter war das früher in der Kindheit, quasi mehr Natur, dafür viel weniger Autos, Häuser, zugebautes Terrain. Und generell auch das Denken ganz anders.
Bloß Ostern war ziemlich ähnlich. Apropos: FROHE OSTERN …
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ach mitzi, ich liebe deine geschichten. es weckt in mir tief verschüttete erinnerungen, die so lange nicht präsent waren, weil es die alten freunde nciht mehr gibt. es sind wunderbare und wichtige erfahrungen, die wir in diesen situationen machen und tatsächlich ist es wohl ein großes glück, dass man als kind mit mehreren schutzengeln gesegnet ist – und dass wir kinder waren, als es noch keine 24h überwachung gab, manchmal auch ganz aus den augen der erwachsenen.
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Danke, dir. Ich freue mich, wenn ich Erinnerungen nicht nur in den leeren Raum schreibe, sondern das schöne Gefühl habe, etwas zu Teilen, das vielen bekannt vor kommt.
Liebe Grüße
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das schaffst du – zumindest bei mir – irgendwie immer ❤
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❤
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