Meiers Taschentücher

Braun sei ich geworden, sagt der alte Mann neben mir. Nicht zu mir, sondern zu einem ebenso alten Herren, der auf meiner anderen Seite langsam unter den Bäumen entlang schlurft und auf eine Bank zusteuert. Ja, ziemlich, nickt dieser und mustert mich mit aufmerksamen Blick. Kein Wunder sei es, meinen beide, weil ich ja unbedingt den Sommer noch ein wenig verlängern wollte. Das würde ich ständig machen, murmeln sie und konzentrieren sich auf den Kiesweg, auf dem bereits Herbstlaub liegt. Während ihre Schritte leise knirschen, sage ich nichts und bin dankbar, dass die beiden die Stille unter den Bäumen mit Worten füllen, damit etwas gesagt wird, wo es eigentlich nicht viel zu sagen gibt. Mir selbst würde nichts einfallen. Im Gegensatz zu ihnen bin ich heute nicht zum Spazierngehen am Friedhof, sondern zum Abschied nehmen. Sie begleiten mich ein Stück und ziehen sich dann zurück.

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Herr Meier heißt Hans

Es sind die Glocken, die ihnen das Kreuz brechen, sagt mein Nachbar Herr Meier und deutet auf ein paar duzend Trauergäste, die sich vor der Aussegnungshalle des Münchner Ostfriedhofes versammelt haben und sich mit Taschentüchern die Augenwinkel trocknen. Scheiß Glocken, sage ich und setzte mich zu ihm auf die Bank in die Sonne. Sie bringen einen nur zum Heulen und das Weinen ist etwas intimes, erkläre ich. Intim fragt der Meier und ich nicke. Ja, sehr intim. Das sollte man den Friedhofskirchen Glockengießern sagen, damit sie ihren Glocken nicht dieses furchtbare Geläut ins Eisen schmieden. Scheiß Glocken, sag ich nochmal trotzig und mein Nachbar lacht leise. Ob ich heute schlecht gelaunt sei, will er wissen und erwartet keine Antwort. Viel mehr interessiert ihn das Treiben auf dem Friedhof. Mit großem Interesse verfolgt er das Kommen und Gehen der Trauergemeinden und äußert sich abfällig grinsend über Frauen, die auf hohen Schuhen über den Kies stöckeln. Als ob der das noch sehen würde, sagt er und deutet unbestimmt nach oben, wo er den Verstorbenen wohl vermutet. Dem ist jetzt alles wurscht, sagt er und es klingt auf seltsame Art tröstlich. So tröstlich wie neben ihm in der Sonne zu sitzen. Obwohl er unablässig redet, strahlt er eine angenehme Ruhe aus. Als ein Sarg aus der Aussegnungshalle geschoben wird, steht er auf, zieht seinen Hut und ist still bis der Trauerzug vorbei ist. Dann holt er eine Zeitungsseite aus der Hosentasche und setzt sich wieder. Umständlich streicht er sie glatt. Hedwig Angermeier, liest er vor. 93 Jahre, sei sie gewesen. Er nickt zufrieden. In dem Alter ist die Hebamme nicht mehr schuld murmelt er und sieht dem Sarg noch ein wenig hinter her. Ich folge seinem Blick und bleibe bei ihm sitzen, bis neue Trauergäste kommen. Das sind meine, sag ich und steh auf. Weiterlesen