Missing Paul

Gut, sagt der Nachbarsjunge und ich nicke wortlos. Bei guten Dingen, zu denen das erste Eis des Jahres zweifellos zählt, gibt es nichts zu ergänzen. Es ist gut. In meinem Eiskaffee und in seiner Eisschokolade. Mehr Worte braucht es nicht und ich bin froh, dass der Kleine von Nebenan das genauso sieht wie ich. Mit halb geschlossenen Augen lümmeln wir in unseren Stühlen im Laubengang und genießen das erste Mal in diesem Jahr die Frühlingssonne auf unseren Gesichtern. Nach dem langen Winter und den kühlen Tagen ist die Sonne in unser kleines, geteiltes Wohnzimmer zurück gekehrt und ich merke wie sehr ich ihn vermisst habe. Den kleinen Laubengang, den ich mir mit nur einer Nachbarin teile.

Und genau dort sitze ich jetzt, spüre die Sonne auf Nase und Oberarmen und mache nichts. Fast nichts. Um ehrlich zu sein, spitze ich die Ohren. Außer mir und dem Jungen sitzen so gut wie alle Nachbarn des Hinter- und Vorderhauses auf den Terassen, ihren Balkonen oder in den Laubengängen. Heute ist Frühling und den wollen alle genießen. Nicht wenige, indem sie zu zweit draußen sitzen oder dort mit Freunden und Familie telefonieren. Ich bin wirklich nicht besonders neugierig und spätestens ab Juni wird mir das ganze Geplapper auch wieder auf die Nerven gehen. Heute aber, ist es das perfekte Ambiente um sich nach den dunklen und kalten Monaten wieder auf den aktuellen Stand zu bringen. Und deshalb bin ich froh, dass Ludwig nicht viel redet und nur leise schlürft. Außerdem hat er ein feines Gespür für die wichtigen Dinge und teilt mir wesentliches mit. Zum Beispiel, dass mein Nachbar Paul sein T-Shirt wieder angezogen hat. So kann ich ohne die Augen zu öffnen grinsen. Seit im vergangen Herbst ein etwa fünfunddreißig jähriger Mann in die Wohnung über ihn gezogen ist, leidet Paul. Er ist nun nicht mehr der einzige Gockel im Hinterhaus und hat Konkurzen bekommen. Eine zehn Jahre jüngere Konkurrenz, die erstaunlicher Weise nicht zu noch mehr Balzgehabe in unserem Haus führte, sondern ganz im Gegenteil – zu überraschender Ruhe. Für die Damenwelt, meines Hauses. Nicht für Paul und…nennen wir ihn Peter, den einen Namen braucht er ja. Die beiden Pfaue sind seit Wochen damit beschäftigt ihr Gefieder zu pflegen und jetzt endlich – dem guten Wetter sei Dank – dürfen alle am ersten Radschlag teilhaben. Das macht auch Sinn, denn jetzt im April beginnt die Paarungszeit der Pfaue. Nachdem wir über Wochen nur eingeschränkte Sicht auf die beiden hatten und sie nur zufällig trafen, kommen wir jetzt endlich in den Genuß uns die finalen Vorbereitungen zur Paarung mit freier Sicht anzusehen. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, dann bin ich nicht mehr sicher, ob es hier überhaupt noch um den finalen Akt der Paarung oder um etwas viel grundsätzlicheres geht.

Können Sie sich vorstellen wie lächerlich es wirkt, wenn ein 45 und ein 35 Jähriger sich zufällig im Treppenhaus begegnen, sich beim Anblick einer Frau in exakt dem gleichen Moment über ihre vermeintliche Konkurrenzsituation bewusst werden und wie von der Tarrantel gestochen los sprinten um zu zeigen, wie schnell, agil und männlich sie eine Treppe hinauflaufen können.
Beide nutzten den Lift nicht mehr, wenn eine der Studentinnen aus dem Hinterhaus vor den Briefkästen stand. Dann schleptpen sie ihre Getränkekisten oder Möbelpakete mit einem seltsam überheblich wirkenden Lächeln nach oben und versuchten ihre lauten Atemgräusche animalisch und männlich klingen zu lassen. Ehrlich gesagt veranlasste mich dieses Keuchen und Stöhnen eher dazu, nach dem Handy zu greifen um – falls nötig – den Krankenwagen anrufen zu können.
Auch durch unseren Keller wabberte im Winter eine Testosteronwolke. Keine Ahnung wer den beiden Vollpfosten erzählt hatte, dass sich Männlichkeit auch im Jahr 2022/2023 noch durch handwerkliche Fähigkeiten definiert, aber einer musste es gewesen sein. Anders erklärt es sich nicht, dass beide mehrer Möbelstücke über Tage im Treppenhaus restauriert haben. Wobei…restauriert…der eine hatte Balkongarnitur mit Schleifpapier bearbeitet und der andere benötigte meherer Tage für den Ab- oder Aufbau (es war nur schwer zu erkennen) eines doch recht simplen Regales.

Anfangs zeigte sich dieses Verhalten vor allem im Beisein des anderen Geschlechts. Mittlerweile aber brauchen sie keine Frau mehr. Mehr noch…alles weibliche übersehen sie, weil sie nur noch damit beschäftigt sind voreinander herumzustolzieren und ihr Revier abzustecken. Im Winter sah man es zufällig. Jetzt aber haben wir Weibchen freien Blick auf ihre übereinander liegenden Balkone und können die Balz ganz wunderbar beobachten. Und da sie schon lange nicht mehr uns gilt, auch wunderbar entspannt. Ich hebe meinen Eiskaffee zum Gruß zu den Studentinnen, die im Bikinioberteil die Sonne auf der Terasse genießen ohne eines (männlichen) Blickes gewürdigt zu werden. Paul grüßt nicht. Er vollführte am Klettergerüst für die Kinder eben noch einige Klimmzüge, muss aber selbst gemerkt haben, dass alles im einstelligen Bereich nur zu wenig Ruhm und Ehre führt. Jetzt vollführt er Dehnübungen auf seinem Balkon, wo man ihn besser sieht. Klar….Peter über ihm macht Yoga und präsentiert das frisch gestutzte Brusthaar. Wow…so viel Mann blendet mich.

Ich mache die Augen wieder zu und hoffe ehrlich gesagt, dass Peter bald eine günstigere Wohnung findet und auszieht. Vielleicht aber sage ich Paul auch, dass ich sein Rhett Butler Lächeln vermisse. Genauso wie seine leicht überhebliche Arroganz, die gepaart mit einem weichen Herzen und einem klugen Kopf, ziemlich unwiderstehlich ist. Solange er sich außerhalb jeder Konkurrenz fühlte, war er das nämlich auch – überheblich, arrogant, ein bisschen unwiderstehlich und kein bisschen lächerlich. Auch mit über vierzig. Paul altert nämlich wie Sean Connery…langsam und gut. Früher oder später wird er das aber vermutlich selbst feststellen und weil das schneller als gedacht gehen kann, springe ich vor dem nächsten Eiskaffee noch schnell unter die Dusche und richte mich etwas her. Was?!? Nun verdrehen Sie nicht gleich die Augen. Es ist Frühling und auch ich kann mich ihm nicht entziehen. Sollte ich aber damit beginnen mich nach dem Duschen am offenen Fenster einzucremen, bitte ich um Ihr Eingreifen.

29 Gedanken zu “Missing Paul

  1. Ach herrje, liebe Mitzi, was für eine wundervoll ironiegetränkte Geschichte mal wieder! 😍 Vielen Dank für das Sonntagslachen. E se non è vero, è ben trovato, aber da ich mich mit Pfauen überhaupt nicht auskenne und du so einen vertrauenswürdigen Eindruck machst, glaube ich dir die Schilderung des nachbarschaftlichen Hahnenkampfs natürlich trotzdem aufs Wort. Ein schönes Bild auch, wie du und der Jungnachbar entspannt eure Eisspezialitäten geniesst, während die testosteronvergifteten Vögel sich aufplustern müssen. Arme Viecher eigentlich…

    Trotzdem schade, dass ich solche entzückend erheiternden Geschöpfe aus meiner Nachbarschaft nicht kenne, dabei bin ich ziemlich sicher, dass auch hierzulande gebalzt wird. Entweder nicht so offensichtlich, oder mir fehlt das Sensorium dafür.

    Tja nun, mögest du erfolgreich vermeiden, das weibliche Äquivalent zu turnenden Brusthaarträgern zu werden! Ausser natürlich Paul bloggt auch… 😉

    Herzliche Grüsse
    Eva

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    1. Danke auch dir – für das Montagslachen, hervorgerufen durch deinen letzten Satz. Paul bloggt hoffentlich nicht. Das wäre zwar sicher interessant, aber ich würde mir Sorgen um mich machen. 😉
      Die Balz der Herren (und sicher auch der Damen) ist bestimmt Länderübergreifend. Nur habe ich hier bei mir zu Hause den besseren Blick und kann nur über den Münchner Frühling berichten. Ich kann dir verraten, dass es selten eins zu eins so geschehen ist, aber immer ein Funke oder ein ganzes Lagerfeuer an Erleben darin steckt 🙂
      Un po trovato un po verita und dann ordentlich durchgemischt.
      Liebe Grüße

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    1. Ganz herzliche Grüße zurück 🙂
      Ich selbst wachse auch aus der Zielgruppe der Balzenden heraus und muss sagen….beobachten ist größtenteils viel entspannender.
      Einen guten Start in die Woche und viele Grüße

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  2. Wo du sitzt, weiß ich. Mit wem du isst und schlürfst, weiß ich vielleicht. Aber warum habe ich eigentlich Paul nicht kennen gelernt? Nicht als Pfau, nur als Nachbar???
    Hier war auch Sonne satt – sehr schön – also Ss-ss!

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    1. Hach, da hast du den meisten wohl was voraus! Auf meinen freundlichen Bestechungsversuch mit dem Fondue ist sie ja nicht angesprungen, aber wie es scheint, schaffen es gewisse Nachbarn auch so, sich blogwürdig zu gebärden. 😉

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      1. Irgendetwas klingelt bei mir beim Wort Fondue…. 😉
        Blogwürdig ist bei mir vermutlich nicht immer ein Kompliment. Ich habe bereits eine ganze List mit Personen die sich keinesfalls in den Zeilen wiederfinden möchten.

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    2. Paul als scheues Reh zu bezeichnen würde nun wirlich nichts in Bild passen. Aber man muss zur richtigen Zeit in der Küche stehen um ihn am Balkon zu sehen. Da der gute aber unfreiwillig im Blog erscheint, lasse ich ihn lieber ein bisschen im Nebel. Sonst meldet er sich noch an und beginnt hier zu kommentieren 😉

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      1. Hm, es wäre aber schon spannend, hierzu den Kommentar des nebulösen Rehs zu lesen. Mag Paul eventuell Fondue? 🤔
        (Scusa, adesso lascio perdere, promesso!)

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      2. no, no….va benissimo…nur kann ich mich zwar daran erinnern, dass wir mal das Fondue Thema hatten, aber nicht mehr den Zusammenhang. Hilfst Du mir noch mal auf die Sprünge…obwohl…vielleicht weiß ich es doch…warte kurz…

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      3. Gedächtnislücken, Frau Mitzi? Das soll ich dir glauben? Dafür bist du doch noch viel zu jung. Ich denke eher, du bist eine bayrische Loreley, eine sakrische!!! 😫😭
        Erst lockst du dein Opfer mit wunderhübschen Hinterhofgeschichten an, und wenn es dann Peter-und-Paul-Gebalze live und in Farbe kucken kommen will, lässt du es einfach auflaufen!!! 💔
        Das ist empörend, liebe Mitziley, und ich werde jetzt schmollen bis zu deinem nächsten Blogeintrag, mindestens!!! Das hast du nun davon!!! Ha!!! Als Schweizerin habe ich überall auf der Welt Anrecht auf Sonder- und Vorzugsbehandlung, nämlich!!! 😤
        Wir sind aber auch ein höfliches Volk und langsam gehen mir die Ausrufezeichen aus, daher wünsche ich dir nun einfach ein prächtiges Wochenende mit viel ☀️🌿🍹etc.
        Herzliche Grüsse
        Eva
        ❤️‍🩹
        😢
        👋🏼

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      4. Vielen Dank für das „jung“ – wenn man stramm auf die zugeht hört man das natürlich sehr, sehr gerne 🙂 🙂
        Auch die bayerische Loreley gefällt mit *g!!!
        Aber nun zu wichtigem, nachdem ich fast eine Woche nicht online war und es mir durch weitere Nichtbeantwortung sonst noch mit der Schweiz verscherze – mein Laubengang ist dein Laubengang. Ein Fernrohr zur Beobachtung der balzenden Männlichkeit wird gestellt und für Wein, Wasser, Bier, Tee wird gesorgt 🙂
        Schönes Wochenende

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      5. Gut gerettet, liebes Fräulein Mitzi, oder liebes Mitzikind, was immer dir ein jugendlicheres Gefühl verleihen mag! Ich liebe Honig und schmiere ihn auch gern um nicht vorhandene Bärte, damit niemand unterzuckert herumlaufen muss. Ausserdem erinnere ich mich an eine Geschichte, wo du Paul anpflaumst, weil er dich als „locker über 30“ bezeichnet hat. Noch ein Löffelchen Honig gefällig? 😌

        Zum Glück ist der diplomatische Zwischenfall glimpflich abgelaufen, so dass ein Staatsbesuch angedacht werden KÖNNTE, sobald du das Fernrohr hervorgekramt und den Schwab ausgelesen hast. Ich würde niemals unerlaubt irgendwo auftauchen, auch nicht mit Käse im Gepäck, und wahrscheinlich ist Paul in Wirklichkeit sowieso hässlich und unausstehlich oder gerade im Urlaub… 🤣

        Ich wünsche dir viele herrliche Laubengangmomente mit heiterem Freiluftspektakel und freue mich ebenfalls auf ein baldiges Wiederlesen.

        Herzliche Grüsse
        Eva

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      6. Liebe Eva, der Honig ist fein – super um damit durch den Montag zu kommen ;).
        Aber keine Sorge, ich bin zwar manchmal schnell eingeschnappt, das aber meistens bei Paul. Sonst kann ich mich gut damit abfinden mittelalt zu sein 🙂
        Unausstehlich…ja, das könnte bei Paul passieren. Urlaub auch, aber hässlich….ne, der ist nicht umsonst einer über den ich gerne schreibe 😉
        Liebe Grüße

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  3. Haben die Damen, Vor- oder Hinterhaus, denn schon Pläne, wie die handwerklich wenig genutzten Talente sinnvoll genutzt werden können? Normalerweise läßt sich derlei über einen längeren, vollkommen verpflichtungsfreien Zeitraum kanalisieren…

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      1. Aber man bekommt es zusammen – und dass am Ende immer eine Schraube übrig ist, stört nicht. Die Dinger stehen trotzdem 🙂

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