Wenn Augen der Spiegel zur Seele sind, dann kenne ich die Seele des Menschen, der mir schräg gegenüber am Tisch sitzt nicht. Nichts darin weckt Erinnerungen und sie sind mir so fremd wie fast alles an diesem längst erwachsenen Mann. Nicht unsympathisch, schöne Augen, aber ich kenne ihn nicht. Er mich vermutlich auch nicht. Alle an diesem Tisch sind sich fremd und schon jetzt bei der Vorspeise dürften es gut vier Fünftel der Anwesenden bedauern, nicht mutig genug für eine Absage oder nicht spontan genug für eine vorgetäuschte Krankheit gewesen zu sein. Klassentreffen der Grundschule sind und waren schon immer eine bescheuerte Idee und es wäre ein leichtes die Hälfte der Anwesenden mit völlig Fremden auszutauschen. Wir würden es nicht einmal merken, weil es keinen Unterschied machen würde. Wir sind Fremde, die zufällig einmal für ein paar Jahre in einem gemeinsamen Klassenzimmer saßen. Idiotisch sich jetzt an einen Tisch zu setzen. Wir sind Fremde.
Nicht alle. Kerstin, Michi, Katrin, Andi und ich haben uns nie aus den Augen verloren. Wir während der Rest sich zerstreute, mit den Eltern umzog oder andere Schulen besuchte, gingen wir weiterhin in eine Klasse und stehen noch immer an Weihnachten mit unseren Kindern, Eltern und Partnern in der Kirche nahe unsrer Grundschule. Auch wenn wir uns nicht mehr allzu oft regelmäßig sehen, stehen wir uns noch immer nahe und kennen uns. An sich etwas schönes, bei Klassentreffen aber lästig. Lästig für Kerstin, die einer, neben der sie vor über dreißig Jahren einmal saß, seit zwanzig Minuten zu erklären versucht, dass immer Neues auszuprobieren genau ihr Ding sei und sie überhaupt die Meinung vertrete, dass Stillstand zu Verblödung führt. Kerstin macht, was alle bei Klassentreffen tun: Die nahezu perfekte Fassade eines nie gelebten Lebens aufrecht erhalten, einen Filter über sämtliche Grauzonen legen und einen halbwegs Instagram-tauglichen Anschein wahren – gelogen, geschummelt und beschönigt, alles ok, denn man wird sich nach diesem Abend die nächsten zehn oder zwanzig Jahre eh nicht wieder sehen und der Gruppenzwang einer dritten Klasse ist auch mit Vierzig noch deutlich spürbar. Es würde mehr recht als schlecht funktionieren, wenn Andi neben ihr nicht zum dritten Mal amüsiert grinsen würde, etwas von „Komfortzonenpräferenzen“ murmeln würde und sich erkundigt, wann sie bitte das letzte Mal etwas neues probiert hätte, wo für sie ein Urlaubshotel am anderen Ende von Bibione bereits zu viel Veränderung bedeutet. Schnauze, murmelt Kerstin und mischt sich ihrerseits in Andis Gespräch, indem sie sich nach seiner Frau erkundigt und damit die hilflosen Flirtversuche des Grundschulfreundes mit brachialer Gewalt und hämischen Lächeln verhindert. Same, same – auch nach dreißig Jahren.
Der, der mir gegenübersitzt verdreht die Augen und ich schaffe es noch immer nicht, ihn einzuordnen. Ein Name, ja, der Rest, nein. Einzig an die Sommersprossen meine ich mich zu erinnern. Wäre das Licht an diesem Abend nicht gedimmt und würden die Kerzen am Tisch nicht eine unangebrachte Vertrautheit simulieren, dann würde es mir leichter fallen. Wären sich unser Gesichter im Sonnenlicht eines Hochsommerstages ganz nah, dann würde ich sie vielleicht wieder erkennen. Und plötzlich sehe erkenne ich sie doch und sehe im Gesicht des fremden Mannes den neunjährigen Jungen, der mich vor Jahrzehnten auf dem Schulhof umrannte und mit mir gemeinsam ins hohe Gras neben dem Sportplatz fiel. Ein Neunjähriger der mir damals, nach einer Sekunde des Erschreckens, seine Lippen auf die Wange drückte, mich blöde Kuh nannte, aufsprang und nach den Sommerferien nicht mehr in unsere Klasse zurück kam.
Ich verabschiede mich vor der Nachspeise. Hänge mich an Michi, der noch immer in der Nähe wohnt und verabschiede mich Bedauern vortäuschend eine Spur zu früh. Bedaure beim Anziehen der Jacke tatsächlich, dass wir uns so fremd wurden und wünschte, wir könnten noch einmal die Kinder von damals sein und nicht die dämlichen Erwachsenen, die wir heute sind. Der, mit den Sommersprossen auf der Nase hilft mir in die Jacke und fragt ob es das Leben in den letzten dreißig Jahren gut mir meinten. Sicher, höre ich mich sagen. Kein Mann, keine Kinder und keine nennenswerte Karriere. Auto übrigens auch nicht, ergänze ich und merke wie idiotisch und aggressiv die Sätze angesichts der Frage klingen und auch sind. Luftholend schüttele ich den Kopf und nicke dann. Doch, ja. Gute dreißig Jahre. Nichts von dem eben aufgezählten, aber bis jetzt ein wirklich gutes und schönes Leben. Garstig wie früher, lacht mein Gegenüber, das Felix heißt und erinnert mich daran, dass ich ihm zwischen dem Kinderkuss auf die Wange und seinem „Blöde Kuh“ in die Rippen geboxt habe. Ich weiß es nicht mehr, aber es klingt nach mir und er ist nicht mehr ganz so fremd wie noch vor einer Minute. Mein erster Kuss, sagt er. Es war kein Kuss, sage ich und erinnere mich an den Geruch des Grases an jenem Sommertag. Aber schön war er, sagt er und ich zucke mit den Schultern. Naja…aber irgendwo in diesen Augen steckt noch ein Neunjähriger, das jedenfalls ist schön. Wir landen zu sechst in der „Goldenen Kanne“ für die wir damals gute zehn Jahre zu jung waren. Felix wohnt wieder in München und fühlt sich nach all den Jahren fremd in der Stadt. Katrin lacht und nennt ihn bescheuert. Wie könne er sich fremd fühlen, wenn er so viele alte Freunde doch gerade wieder treffen würde. Niemand widerspricht, was an der dritten Flasche Wein oder den faszinierend filigranen und unsichtbaren Fäden von Kinderfreundschaften liegen könnte. Manche Fäden reißen, aber die, die bleiben werden mit jeder gemeinsamen Erinnerung stärker. Sehr viel später, kurz vor dem Einschlafen riecht es in meiner Wohnung nach Hochsommergras und ein bisschen nach Turnhalle und Kreide. Das sind die Fäden um mich herum, die duften.
Es ist schon so: manche erinnern sich, andere nicht. Felix erinnert sich an dich, und darum bist du ihm wertvoll. Sein erster Kuss.
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Und manchmal braucht es nur ein bisschen bis die Erinnerungen wieder kommen. Und ob man sich an die Details anders erinnert ist oft ja gar nicht wichtig.
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Wie traurig, und wunderschön erzählt!
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Danke, dir. Liebe Grüße
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Fein erzählt, schöne Melancholie.
Die Dinge des Lebens sind eben so…
Liebe Abendgrüße vom Lu
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Danke, lieber Lu und ein schönes Wochenende.
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Dankeschön *freu*
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Ich hatte nie ein Grundschulklassentreffen – da habe ich wohl nicht viel verpasst. Aber mein bester Freund war schon mit mir zusammen in der Grundschule und im Gymnasium – und wir treffen uns noch heute alle 4 Wochen. Inzwischen musste er sich an eine „neue Frau“ an meiner Seite gewöhnen und ich an seine 4. 😉 Wir sind aber beide sehr sicher, das es nun keine „gravierenden“ Änderungen mehr geben wird – nicht nur, weil wir schon so alt sind. 😉
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Lieber Heinrich, ich bin mir recht sicher, dass diese Freundschaft halten wird. Wenn Männerfreundschaften, die Frauen ihrer Freunde „überstehen“, dann bringt sie nichts auseinander. Das habe ich gehört…von Freunden meines Freundes ;).
Schön, diese so lange bestehenden Verbindungen :).
Herzliche Grüße
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Sehr schön geschrieben und empfunden.
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Danke dir. 🙂
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Hallo MItzi, obwohl ich 8 Jahre lang in der Grundschule saß und nur 4 Jahre im Gymnasium, sind mir die Mädels (die 5 Jungen aus der Klasse eher weniger) viel besser vertraut als die ersten – da ich aber gleich nach dem Abi weggezogen bin, habe ich nur noch sehr lose Verbindungen dahin. Aber wir erkennen uns zumindest, da häufiger mal Treffen waren.
Sonnigen Tag zu dir!
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Liebe Clara, bei acht Jahren Grundschule festigen sich Freundschaften bestimmt noch viel mehr. Bei mir waren es nur die ersten vier Jahre und ich habe das Gefühl, dass man da häufig vielleicht noch zu jung ist oder die Erinnerungen in späteren Jahren zu schnell verblassen. Sonnige Grüße nach Berlin
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Bei mir hat sich da nichts gefestigt und ich kann mich kaum noch an einzelne Mitschüler erinnern. Am besten an die, die dann auch zum Gymnasium gegangen sind.
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im osten gingen wir ja mehrheitlich zehn jahre zusammen zur schule. da bleibt schon ein bisschen mehr hängen. umso erstaunter war ich, dass l., dessen namen ich gar nicht mehr erinnerte, mich beim ersten klassentreffen nach 15 jahren so lebhaft in erinnerung hatte. einer von den ruhigen, bedachten, geraden jungs, die nicht gerade in meinem unmittelbaren umfeld waren. als man sich verabschiedete, dachte ich: schade, vielleicht hätte es sich damals gelohnt, ihn besser kennen zu lernen.
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Ein klares Kommentar habe ich gerade schon einmal gelesen, dass ich die Anzahl der Jahre die man in der gleichen beziehungsweise ersten Schule verbracht hat unterscheiden. Ich bin immer davon ausgegangen dass es überall vier Jahre waren. Bei zehn Jahren, kann ich mir sehr gut vorstellen dass ich stabilere Verbindungen bilden.
Interessant zu sehen, wie unterschiedlich wir manche Leute oder auch Freundschaften in Erinnerung haben. Da kann sich einer ganz gut erinnern und man selbst sich nur leidlich oder kaum. Liebe Grüße
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aha, mein kommentar wurde offenbar irgendwie weitgehend verschluckt.. auch spannend, wordpress mag wohl keine asiatischen tastatursmileys.. ich meinte nur: schon schön, diese abende und dieser nachhall aus alten zeiten und einem ich das jünger war… ich denke, ich wäre wohl im falle einer solchen einladung dennoch verhindert… mich mit ehemals vertrauten und heute so fremden an einen tisch zu setzen ist irgendwie… zuviel überwindung.
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Also irgendwas ist angekommen, aber nur zwei Satzzeichen 😉 gerade eben. Auf die asiatischen Tastatursmileys wäre ich aber gespannt gewesen :). In meinem Fall wurde es ein schöner Abend, aber sonst….zu viel Fremdes und eine Überwindung die dann in einem angespannten Abend endet. Ich mag sie nicht wirklich, diese Klassentreffen. Lieber Treffen mit Freunden die man lange nicht gesehen hat.
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es hätte ein > . < (ohne Leerzeichen) werden sollen – also zusammengezwickte augen. sonst gibt es noch diese O _ o und ^ . ^ und viele mehr.. ich mag die lieber als die klassischen klammersmilieys.
ja das versteh ich gut – so würds mir wohl auch gehen!
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