Als ich im Schlafwagen des Zuges nach Italien aufwachte, erkannte ich die Gegend sofort. Die Zypressen, das Licht der aufgehenden Sonne und die sanften Hügel: Verona. Ein Zufall und doch hat es mich nicht gewundert, dass ich genau dort aufwachte, wo ich einige Jahre gelebt habe. Egal um welche ich Uhrzeit ich mit dem Zug durch Verona fahre – immer wache ich dort auf. Ein wenig, als würde mich die Stadt daran erinnern, dass ich hier, am Ufer der Etsch endgültig erwachsen wurde und man das Wiedersehen mit einer alten und vertrauten Lehrerin nicht einfach verschläft. Die Stadt im frühen Licht der aufgehenden Sonne erwacht und ihr Murmeln klingt nach einer Kollegin, die es sich vor Jahren zur Aufgabe machte, die junge Deutsche immer wieder daran zu erinnern, welche Werte es zu erhalten und zu pflegen gilt. Eine mütterliche und fürsorgliche Kollegin, die alles daran setze, dass ich die Flüche der italienischen LKW Fahrer verstand aber nicht selbst benutzte. Beim ersten Kaffee, noch im Zug, denke ich zufrieden lächelnd an sie. Nie werde ich ihr verraten, dass ich einen recht großen Teil der Schimpfworte und dialektgefärbten Ausdrücke durchaus benutze und mich sehr gut erinnere. Sie würde sich aber sicher freuen, wenn sie wüsste, dass ich es nie, nicht einmal versehentlich, in Anwesenheit meiner Freunde und Bekannten in Italien mache. Und glauben Sie mir, mit Ausdrücken, meine ich nicht harmlose Flüche wie „Scheiße“ oder „Mist“ – Großmarkthändler und LKW Fahrer haben anderes auf Lager. Wahrscheinlich nicht nur in Italien sondern überall auf der Welt. Mir tat es gut in diese Becken ungefilterter Sprache und ungeschliffener, aber herzlicher Umgangsformen geworfen zu werden. Kaum eine andere Rosskur hätte mir schneller zu dem nötigen Selbstbewusstsein in einem fremden Land verholfen und ich hätte mich wohl deutlich länger darauf verlassen, dass ich bei Problemen auf die Hilfe von Familie und Freunden zählen kann. Heute kann ich das noch immer, aber ich weiß, dass ich mich im Zweifel auch alleine in den kalten Wind stellen kann. Dann, wenn es rauer wird, kommt manchmal noch die Zwanzigjährige zum Vorschein, die mit einem LKW Fahrer oder Großhändler diskutieren muss. Dann wundere ich mich, wie sehr einen wenige Jahre prägen können, wenn sie nur zur richtigen Zeit, an der Schwelle zum Erwachsenwerden stattgefunden haben.
Weiß der Henker warum es an italienischen Bahnhöfen seit einiger Zeit keine Gepäckaufbewahrung mehr gibt und man sich mittels einer App einen Ort suchen muss, der sich gnädig bereit erklärt, den Koffer für einige Stunden zu beaufsichtigen. Noch weniger nachzuvollziehen ist, warum dort ein Hotel angegeben ist, das sich damit rühmt nur 200 Meter vom Bahnhof entfernt zu sein und dann vergisst zu erwähnen, dass diese wenigen Meter einen Hügel, italienisches, vermutlich 800 Jahre altes Straßenpflaster und eine enge, schmale Treppe über zwei Stockwerke beinhalten. Mein ruhiges und ausgeglichenes Wesen lässt mich das mit einem Schmunzeln am Telefon erzählen und eine kurze Erfolgsmeldung abgeben. Niemals würde ich verraten, dass ich auf dem Weg zum Hotel einen Taxifahrer gefragt habe, warum es so unglaublich dämlich schaut und das es sinnvoller wäre sich auf den Straßenverkehr als auf meinen umgekippten Koffer zu konzentrieren. Und ganz sicher werde ich das Gespräch mit dem Hotelportier in keiner größeren Runde zum besten geben. Wenn ein Typ Mitte zwanzig oben am Treppenabsatz steht, dämlich grinst und mir erklären möchte, dass ich entweder zu viel Ramsch in meinem Koffer habe oder zu blöd bin, ihn ordentlich die Treppe hochzutragen, dann schlägt der Großmarkt in mir zurück. Dann bleibe ich auf dem Absatz stehen und sage ihm, dass er mir nicht auf xxx gehen soll und seinen xxx gefälligst runter bewegen soll, wenn er für die xxxx Aufbewahrung eines xxxx Koffers so verxxxx viel Geld haben will. Erstaunlicher Weise kommen mir diese Sätze ohne jeden Fehler und ohne jedes Zögern über die Lippen. Ich glaube in Fällen wie diesen verwende ich sogar das Konditional und den Konjunktiv korrekt. Dreißig Sekunden später lächele ich freundlich bedanke mich und die Gossensprache ist verschwunden. Ich würde mich schämen, wenn mich jemand gehört hätte.
Geschämt habe ich mich erst wieder, am Tag meiner Abreise und diesmal nicht wegen meines Koffers. Um den kümmerte sich einer, der deutlich mehr Kraft als ich hatte und einer, auf den ich mich so blind verlassen kann, dass ich selbst unangenehm nervös auf die Rückfahrt blickte und so gar keine Lust auf weitere Kofferabenteuer hatte. Erst als ich alleine im Zug war und wieder selbst ran musste, fiel das dumme Gefühl ab. Geflucht habe ich nicht mehr, aber ich war mir wieder sicher, dass egal was kommt, es nichts sein wird, was mir auch nur den Ansatz eines Problems bereiten wird. Und damit meine ich keine Treppen, Koffer oder blöde Sprüche. Vielmehr all jene Dinge, die einem wirklich den Boden unter den Füßen wegreißen. Auf dem Großmarkt oder in einem fremden Land übt man sich darin, sich durchzusetzen und lernt auf sich alleine gestellt zu sein. Wird es dann wirklich einmal eng und die Welt gerät aus den Fugen, dann ist man einfach besser vorbereitet und ahnt, dass man auch das überstehen wird. Meine Nichte fragte mich vor einiger Zeit was ich davon halten würde, wenn sie längere Zeit ins Ausland geht. Geh, sagte ich ohne auch nur einen Moment nachzudenken. Renn gegen Wände, fall auf die Nase und fühl dich hundeelend. Für ein paar Wochen und dann rappelst du dich hoch und hast all das gelernt, was du die nächsten fünfzig Jahre brauchst. Nicht alles, aber einen guten Grundstock. Was ich ihr nicht sagte war, dass ich, wäre sie im Ausland, mein Handy nicht einen Moment auf lautlos stellen würde und immer da wäre, wenn doch etwas schief geht. Und ihr – wie damals meine Vater mir – in Socken und zwischen Buchseiten ein paar Geldscheine stecken würde. Es gibt kein schöneres Gefühl, als so pleite zu sein, dass man sich den Parmesan nicht mehr leisten kann und dann zwanzig Euro in einem Buch zu finden. Ich hoffe sie macht es und noch mehr hoffe ich, dass sie keine Arbeit in der Nähe eines Großmarktes findet…die Sprache würde sie nie wieder losbekommen.
Liebe Mitzi,
mit Freude lese ich immer wieder deine Einträge! Da du aus Untergiesing bist, dachte ich mir, dass für dich vielleicht auch mein Projekt, die ZEITKAPSEL Giesing am Grünspitz interessant sein könnte. Komm doch gern mal vorbei, wenn du wieder da bist!
Mehr auf http://www.zeitkapsel.tel [18] Anbei auch noch eine Pressemitteilung, in der steht ganz gut drin, um was es bei der umgebauten gelben Telefonzelle geht 🙂
Am Sonntag beginnt das zweite Zeitintervall, die Gegenwart!
Liebe GrüÃe aus Obergiesing,
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Liebe Miriam, vielen Dank für den Link. Obwohl ich so oft am Grünspitz vorbei gehe, habe ich die Zeitkapsel noch nicht entdeckt. Ein schönes Projekt! Momentan ist richtig viel los bei uns in Giesing – gut so!!
Herzliche Grüße
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Beeindruckend erzählt, auch diesmal. Danke!
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Danke, dir!
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Mitzi, ich bin auch der Auffassung, es gibt einfach Dinge oder Sprüche oder Flüche im Leben, die man durchaus kennen und verstehen sollte, auch wenn man sie nicht unbedingt selbst aus seinem Munde lässt.
Das waren wirklich sehr lehrreiche Italienjahre in Verona.
Gruß zu dir
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Waren sie, liebe Clara. Ich versuche die Gossensprache im Zaum zu halten ;). Liebe Grüße
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wieder mal ein mitzitypischer gänsehauttext… so gerne hätte ich etwas ähnliches erlebt, aber manchmal muss man eben second hand erfahrungen nehmen. ich kann mir vorstellen, dass das auf die bestmögliche art prägend war.. und um ein fluch-repertoire beneide ich dich. manchmal könnte ich sehr gut eines gebrauchen, aber ich kenne nur die landläufigen wiener schimpfwörter. wie langweilig!
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Ich kann gar nicht glauben, dass die Wiener Schimpfwörter langweilig sind. Allein schon der Dialekt ist großartig. Solltest du aber einmal einen Schwall italienischer Flüche brauchen, dann schreib mir einfach, ich teile gerne. Sag mir aber unbedingt dazu ob du sie im persönlichen Gespräch oder schriftlich und anonym brauchst. Nicht dass ich dich in eine prekäre Situation manövriere 😉
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😀 die wiener schimpfwörter generell vielleicht nicht, nur die, die ich kenne 😉 meistens gehen mir welche im persönlichen gespräch ab. nicht, weil ich jemanden beschimpfen will, sondern weil es manchmal gut tun würde, so richtig fluchen zu können 😉
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Stimmt. Das kann befreiend sein. Auf deutsch mach ich das übrigens auch nicht. Da fehlt mir tatsächlich auch das Vokabular oder ich bin gehemmter. 😉
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wahrscheinlich eher 2teres.. abgesehen davon würde mein gefühl jetzt irgendwo behaupten, dass fluchen im deutschen eine andere wertung hat als im italienischen?
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Absolut 🙂.
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Liebe Mitzi, ich spreche leider kein Italienisch, habe mir aber erlaubt, deutsche Wörter für XXX und XXXX einzusetzen und möchte behaupten, ich habe die passenden gefunden.
Zudem gibt es noch die Zeichensprache. Beispielsweise den Mittelfinger. Den würde ich jedoch nicht einsetzen. Dazu hat mich der lange Lockdown zu sehr geschwächt. Ein Weglaufen wäre zwecklos. Man würde mich nach wenigen Metern einholen… 😉
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😂 Das weglaufen hätte bei mir vermutlich auch vor dem Lockdown noch nicht sehr viel gebracht. Würde man mich nicht fangen, dann würde ich vermutlich über meine eigenen Füße fallen😉
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Ist das nicht schon eine alte Theorie: man kann eine Sprache erst, wenn man ihre Schimpfworte und Redewendungen versteht? Ich setze noch eine andere, weniger drastische Voraussetzung dazu (die einzige Nicht-Mutter-Sprache, in der mir das schon gelang, ist englisch. Und da war ich froh, dass mir keiner meiner alten Englischlehrer zuhörte und korrigierte): in dieser Sprache auch zu träumen.
Was ich hier voraussetze. Mir ganz sicher bin. Wenn auch, hoffentlich, nicht und bestimmt nicht nur diese Flüche und Beschimpfungen! Sondern andere Worte, Texte, Lieder…
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In einer fremden Sprache zu träumen ist sicher die Königsdisziplin. Das ist mir noch nie gelungen. Denken, ja. Das kommt irgendwann, aber träumen…..
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