Sehend blind

Es gibt Menschen, die alle kennen, die jeder schon einmal gesehen und getroffen hat und die dennoch auf eine seltsame Art unsichtbar sind. Bei alten Menschen ist es häufig so. Ein jeder kennt sie, begegnet ihnen regelmäßig auf der Straße oder im Supermarkt und könnte dennoch nicht sagen, wer genau sie eigentlich sind. Sie verschwinden in der Masse namensloser alter Menschen, die immer da und doch kein Teil der Gemeinschaft mehr sind. Bei manchen von ihnen weiß man nicht einmal den Namen und stellt nach Jahren erschrocken fest, dass sie im eigenen Haus leben. Der oft zu flüchtige Blick gaukelt denen, die sie nicht mehr sehen vor, dass sie sich alle ähneln und kaum auseinander zu halten sind. Wenn man nicht mehr ins Gespräch kommt, dann wird es schwer einen Menschen zu beschreiben obwohl man ihn ständig sieht. Auch der, der mir erst letztes Jahr auffiel, ist nicht mehr jung. Die meisten kennen ihn und doch gehört auch er zu jenen Menschen, die auf eine seltsame Art unsichtbar sind. Trotz seiner immer gleichen und  immer etwas grellen Kleidung, fällt er nicht auf. Fast erscheint es unheimlich, dass ein Mensch, der aufgrund seines ungewöhnlichen Verhaltens so deutlich hervorstechen müsste, im alltäglichen Leben der meisten untergeht. Auch ich weiß erst, seit dem Lockdown, wo genau er wohnt – mir gegenüber. Erst jetzt, nachdem ich das erste Mal über ihn nachdachte, sehe ich ihn ständig und nehme seine Präsenz an allen Ecken und Enden war. Seit ich ihn sehe, ist mir seine Bedeutung klar geworden. Für mich ist er der Hausmeister unseres Viertels. Einer, den niemand bezahlt und einer, der von niemandem eingestellt wurde. Dennoch ist er genau das – unser Hausmeister.

Das ist keineswegs abwertend gemeint, denn ein guter Hausmeister ist die Seele einer Wohngemeinschaft. Und wenn sich einer sogar um ein ganzes Viertel kümmert und sich verantwortlich fühlt, dann ist das ein Mensch auf den man nicht verzichten möchte. 

Manchmal kehrte den Weg in der Nähe des Spielplatzes. Das müsste er natürlich nicht. Er hat keine Kinder und keinen Grund sich um das Laub zu scheren. Es scheint ihm aber Freude zu bereiten und einen Menschen zu sehen der etwas tut was ihm Freude macht, ist ein Lichtblick an einem sonst grauen Tag. Manchmal ist er schlecht gelaunt. Immer dann, wenn jemand seinen Müll neben und nicht in den Papierkorb wirft. Auch das ist gut und wichtig anzusehen, denn es erinnert einen, dass man sich ruhig auch einmal selbst bücken und etwas das daneben gegangen ist aufräumen könnte. Wir leben schließlich alle hier. Oft aneinander vorbei, aber manchmal auch miteinander. An der U-Bahn hat er für die Zigarettenkippen einen alten Pappbecher gefüllt mit Wasser aufgestellt und dazu einen Zettel geschrieben, der erklärt das man die Kippe kurz hinein taucht und dann in den Mülleimer werfen kann. Es ist nicht nötig sie am Rand auszudrücken und damit das ganze Blech zu verschmutzen und unansehnlich zu machen. Die Leute lachen über dieses in ihren Augen übertriebene Engagement und doch… Die meisten halten sich daran. Wahrscheinlich weil er es ihnen so einfach macht. Man muss einfach nur das nutzen, was er schon vorbereitet hat. Einfach geht es nicht. Ab und an, wenn er eh beim Aufräumen ist, nimmt er die eine oder andere Pfandflasche aus dem Müll und stellt sie neben die Tonne. Auch hier folgen viele seinem Beispiel. Es ist nicht nötig, dass die, die sammeln müssen auch noch im Müll suchen müssen. Sein Zettel erklärt es – das was noch etwas wert ist, bitte neben und nicht in die Tonne. Eigentlich ganz simpel. So simpel wie sich selbst zu bücken, selbst ein bisschen Dreck im Vorbei gehen in den Müll zu werfen und selbst die Türklinke im Müllraum abzuwischen, wenn der wirkliche Hausmeister erst wieder drei Tage später kommt. Manchmal braucht es nur einen, der anfängt. Einen, dem es  völlig egal ist, was andere über ihn denken. Einen, der ohne es zu wollen für mich schon lange ein Vorbild ist.

Als ich Herrn Meier fragte, ob ihm der Hausmeister von Gegenüber schon einmal aufgefallen ist, hat er mich seltsam angesehen. Natürlich, kennt er den Karl, sagte er. Er sei ja nicht blind. 

24 Gedanken zu “Sehend blind

  1. Liebe Mitzi, deine Geschichte berührt mich, der „Hausmeister“ berührt mich. Traurig ist, dass solche Menschen oft nicht wahrgenommen werden, schlechtenfalls belächelt werden. Gut, wenn sie eine Stimme bekommen.
    Hab Dank.
    Liebe Grüße
    Ulli

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      1. Die Menschen haben das Gefühl verloren für das, was wirklich zählt, das ist ja aus meiner Sicht das Dilemma.
        Ich bin ja seit gut einem Jahr vermehrt auf Twitter unterwegs, dort kann ich gut beobachten, was „Maistream“ heißt, manchmal bin ich wirklich erschüttert.
        Pflegen wir eben weiterhin die Mitmenschlichkeit und werden wir niemals leise.
        Nochmals herzliche Grüße an dich, Ulli

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      2. Ich bin selbst zwar auch auf Twitter, lese dort aber selten. In letzter Zeit bin ich viel zu oft auf Instagram. Eigentlich um die wirklich schönen Beiträge meiner Nichten und Neffen zu sehen. Was ich dort aber sonst sehe, finde ich zum Teil sehr seltsam. Eine ganz neue und andere Art der Oberflächlichkeit. Da bin ich froh, nicht in dem Alter sein zu sein, in dem andere mich nach meinem Profil dort beurteilen. Da ist es hier schon schöner! Hier sind wirklich viele Menschen die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Liebe Grüße

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  2. Liebe Mitzi, schöne Geschichte. Mein Mann ist so ein Hausmeister: immer, wenn er unseren Müll entsorgt, sammelt er auch anderen herumliegenden Müll auf, auch unterwegs beim Spazierengehen sammelt er, was sich so an Plastik und Papier in der Natur herumtreibt. Er sortiert auch falsch deponierte Tüten, Recycling zu Recycling, Normalmüll zu Normalmüll. Ich stehe dann mit laufendem Motor und werde ungeduldig, aber er lässt sich nicht hetzen. Sein Verhalten hat anscheinend Vorbildfunktion, so dass unsere Straße fast müllfrei ist. Auch unsere Albaner trauen sich nicht, ihren Plastikmüll einfach rumzuschmeißen, wenn sich der Herr Professore dann wortlos danach bückt.
    Solche Menschen werden durchaus wahrgenommen, Herr Meier steckt es dir.

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    1. Es ist schön, dass es einige solche Menschen gibt. Ich selbst bin wohl so ein Mittelding, ich zupfe die Plastiktüten aus der Bio Tonne, schaue aber auch viel zu oft weg. Je mehr mir aber Karl auffällt, umso achtsamer werde ich auch selbst. Das schadet nicht. Genauso wenig, wie zu erkennen dass andere weit weniger blind waren als ich.

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  3. Deine Beschreibung dieses „Hausmeisters“, liebe Mitzi, ist so zutreffend. Er tritt bei dem, was er tut. ja leise auf. Seine Zettel und sein Verhalten werden meist belächelt, im allerbösesten Fall nennt man ihn gar einen Blockwart.

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    1. Das ´leise´ macht es wahrscheinlich aus. Einen Blockwart stelle ich mir laut einfordernd vor. Der hier Beschriebene lässt die Wahl. Der agiert wie jemand, der weiß, was er tut. Alleine dies ist nicht selbstverständlich und hoch zu schätzen. Da ist denn auch schöner, sich ein Beispiel zu nehmen. Das vergeht einem Blockwart ja von vornherein. 🙂

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      1. Das sehe ich auch so. Wahrscheinlich nennen ihn trotzdem einige so. Wobei ich glaube, dass die Mehrheit es eigentlich sehr gut findet, was er da so tut. 🙂

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  4. Mein Vater war solch ein Hausmeister, fühlte sich für unser Viertel zuständig. Er räumte, kehrte, säuberte, ordnete, reparierte und instruierte. Hochzeit im Herbst und der tägliche Kampf gegen das Laub. Infolge seines Engagements Ansprechpartner für so ziemlich alles, obwohl er alles immer freiwillig machte. Aus den Abfallcontainern holte er halbe Hausstände heraus. „Was die Leute alles wegwerfen!“ Jetzt ist er gebrechlich, kratzte aber in der vergangenen Woche tapfer Schnee und Eis vom Gehweg; diese Leipziger Seltenheit läßt sich ein 82-jähriger Mann nicht entgehen!

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  5. Ach Mitzi, es ist so schön, dass jemand wie du solche Menschen siehst, würdigst und dich darüber freust, was sie für andere machen. – Zum Glück setzt sich das mit den Pfandflaschen NEBEN die Papierkörbe zu stellen, immer mehr durch.
    Wenn München nicht so weit weg wäre und die Leute zum Teil so anders sprechen würden, zöge ich ja in deine Straße ins Haus gegenüber – da wüsste ich doch, dass mich eine immer wieder mal nicht nur sieht, sondern auch grüßt und mit mir spricht. – Das ist ganz schön wichtig geworden in der letzten Zeit.
    Und tschüss sagt Clara

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    1. Das ist es Clara. Aber ich habe dich auch aus der Entfernung im Auge ;). Solltest du doch nach München ziehen, dann würde ich gerne für dich übersetzen, wenn es nötig ist.
      Und das mit den Pfandflaschen wird sich hoffentlich noch deutlich mehr verbreiten. Liebe Grüße

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  6. Der wirkliche Hausmeister ist nicht zu überhören beziehungsweise sein Gerät, wenn er im Winter mit dem Traktor den Schnee beiseite schiebt. Herr Karl auch nicht, der in meinem Fall eine Frau Karl ist, die beim Gehsteig fegen immer so laut schimpft, dass ich sie höre kann bevor ich sie sehe… 😉

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