Schüssel zum Glück

Die Sonne schafft es nicht mehr über die Baumspitzen und die kleine Lichtung mitten im Wald bleibt im Schatten. Nur kurz nach Sonnenaufgang zeigten sich die Buchen, die Ahornbäume, die Büsche und die Fichten im herbstlichen Glanz. Nur der obere Raum unserer kleinen Hütte wird von den Sonnenstrahlen dieses schönen Herbsttages noch gewärmt und in helles Licht getaucht. Die breiten Betten dort oben sind am bequemsten, wenn es taghell ist und die Strahlen der Sonne sanft die Nasenspitze kitzeln. Früher wusste ich nicht warum es genau dann, tagsüber, wenn man gar nicht müde ist, dort oben so herrlich ist. Heute weiß ich es. Es liegt daran, dass man mitten am Tag die Muse und die Zeit hat, sich einfach auf oder in ein Bett zu legen und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Natürlich kann man ein Buch lesen, aber fast immer lenken einen die vielen Geräusche ab und man legt die Geschichte der fremden Menschen zur Seite und wendet sich den eigenen Gedanken zu. Gedanken die einem sonst gar nicht kommen. Es mag an der Stille und ihren sanften Geräuschen liegen. Wind in den Baumwipfeln oder – wie an diesem Wochenende – das Fallen eines einzelnen Blattes. Wie laut ein einzelnes fallendes Blatt doch ist wenn es sich den Weg noch viele andere Bahnen muss, hört man nur hier oben.

Wenn es nicht regnet und keine Herbststürme toben, ist es im Oktober still auf meiner Hütte. Ungewohnt still und es dauert einen Moment bevor ich begreife, was fehlt. Es sind die Siebenschläfer, die im warmen Halbjahr durch die Zwischenwände und das Gebälk toben. Kleine Tiere, aber sie machen einen Radau, wie in eine Schafherde nicht zu Stande bringt. Ende Oktober haben sie ihren Winterschlaf begonnen. Ich wünsche ihnen schöne Träume und freue mich, dass sie hier im Hüttchen einen geschützten Platz gefunden haben. Im Frühjahr werde ich sie wieder sehen. Die Feuersalamander schlafen noch nicht. Den ganzen Samstag hat es geregnet und wann immer ich vor die Tür trat um Holz zu holen, saßen sie auf den Steinen und reckten die Köpfe nach oben. Ich störte sie, das sah ich ihnen an und entschuldigte mich beim Vorbeigehen, weil ich weiß, dass ich in ihren Augen schließlich nur ein Gast bin. Mit Holzscheiten unter den Armen schleiche ich wieder ins Haus und lasse sie in Ruhe – nicht ohne kurz stehen zu bleiben um ihnen einen schönen Abend und feuchtes Wetter zu wünschen. Die kleinen schwarzgelben Echsen brauchen mich nicht, aber ich, ich brauche sie. In trockenen Jahren fehlen sie mir, denn sie gehörten hier oben im Wald zu meiner Hütte und ich beruhige mich mit dem Wissen, dass sie gut und gerne zwanzig Jahre alt werden und nicht weg, sondern nur unter den Steinen in der feuchten Kälte bleiben. Selbst mit den Spinnen, jenen Tieren die mir einen Schauer über den Rücken jagen, habe ich mich hier arrangiert. Wir nicken uns im Vorübergehen kurz zu und ich bitte sie, für die nächsten Nächte mein Kopfkissen zu meiden. Überall sonst dürfen sie ruhig krabbeln. Es sind ja sie, die hier wohnen und bleiben, wenn ich zurück in die Stadt muss. Zu allem was hier oben lebt habe ich ein freundschaftliches Verhältnis. Es wundert mich nicht, wenn Menschen die sehr abgeschieden leben, mit den Tieren zu sprechen beginnen. Mit einem Hund oder eine Katze, das kennt man, aber auch mit Siebenschläfern, Feuersalamandern, Spinnen und hoch am Himmel kreisenden Greifvögeln freundet man sich an, wenn man abseits von Menschen lebt. Nach jahrelangem testen kann ich bestätigen, dass schon am zweiten Tag erste zarte Bande geknüpft werden.

Am Sonntagnachmittag riecht mein Pullover nach Holz und Kamin, meine Gedanken treiben langsam und ich bin bis unter die Haarspitzen ruhig und gelassen. Auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, diesen wunderschönen Ort zu verlassen. Im Ofen glimmt noch ein Holzscheit, als ich das Wasser ab- und die Sicherungen rausdrehe. Mein Bett bleibt bezogen und in der Speisekammer stehen die unverderblichen Reste des Wochenendes. Mein Abschied ist leise, weil ich nicht mit dem Auto sondern zu Fuß nach oben kam. Ein letzter Blick, bevor es zurück ins Dorf geht. Nicht weil ich will, sondern weil ich muss. Nie will ich gehen und immer stelle ich mir die ersten beiden Abende zurück in München vor, wie still es jetzt auf der Lichtung und in der Hütte ist. Sie braucht mich nicht, die Hütte. Aber ich brauche sie. Damit ich sie nicht vermisse, habe ich vor Jahren schon ein paar Porzellan Schüsseln, Tassen und eine Schöpfkelle mit in die Stadt genommen. Dort oben ist so viel Geschirr, dass es niemanden auffiel. Keiner vermisst es, aber ich, ich brauche ab und zu genau eine jener Schüsseln. Es ist albern, aber wenn sie bei mir am Tisch steht und ich mich zum Essen setze, dann riecht es ganz leicht nach Holz und feuchtem Wald. Dann werde ich ruhig und sehr gelassen. Zur Hütte kann ich nicht immer, aber die Schüssel, die kann ich immer auf den Tisch stellen. In diesem verrückten Jahr 2020 benutze ich sie oft. Wenn eine zerbrechliche Schüssel in einer Hütte im Wald 50 Jahre ohne Kratzer übersteht, dann schaffen wir das auch.

26 Gedanken zu “Schüssel zum Glück

  1. Liebe Mitzi,
    da käme auch ganz natürlich vor, dass ich mich mit Siebenschläfern, Feuersalamandern oder Spinnen unterhalte. Ich würde nur stutzig, wenn ich einer Unterhaltung lausche, wie sich ein Feuersalamander mit einer Spinne unterhält, und die beiden sich über meine Essgewohnheiten lustig machen! 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, da würde ich auch stutzig werden. Zugleich aber auch sehr neugierig, was die sich zu sagen haben. Oder über mich. Es ist ihnen sicher immer ein wenig zu hell, wenn ich dort abends vor der Hütte sitze. Herzliche Grüße

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  2. Liebe Mitzi,
    danke für Deine Betrachtungen von Eurer Hütte, was Du brauchst und magst, die Tierwelt ebenso.
    Beim ersten Blick auf die Überschrift meinte ich „Schlüssel zum Glück“ zu lesen, und Dein wunderbarer Text verweist auf die „Schüssel zum Glück“.
    Herzlichen Dank und Grüße
    Bernd

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  3. Oh, das alles verstehe ich sehr gut. Ich rede immer mit den Tieren, dem Staubsauger und meinem Auto….und wenn manch einer denkt, ich hätte einen Sprung in der Schüssel 🤔 es ist meine. Einzigartig, wie die deine.

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    1. 🙂 Der eine oder andere Sprung in der Schüssel schadet nicht. Wahrscheinlich geben die meisten einfach nicht zu, genau wie wir mit Dingen oder Tieren zu sprechen. Die Einzigartigkeit dieser „Gespräche“ bewahren wir uns. Liebe Grüße

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  4. Bilche sind sehr selten geworden, ihr könnt euch glücklich schätzen, sie auf der Hütte zu haben. Hast Du auch schon mal einen Alpensalamander gesehen, die sind ganz schwarz? Übrigens gehören die Salamander zu den Lurchen und nicht zu den Echsen, aber das nur am Rande. Ich konnte mich gut in die Stimmung da oben einfühlen, die Natur beruhigt ungemein. Wünsche dir ein entspanntes Wochenende! 🙂

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    1. Das Wort „Bilche“ musste ich nachschlagen. Jetzt weiß ich das auch :). Einen Alpensalamander habe ich noch nie gesehen. Und du hast natürlich Recht, es sind Lurche. Habe ich Echsen geschrieben? Bei uns heißen die Kerlchen sogar „Lurchi“, weil wir nicht allen einen Namen geben können. Liebe Grüße und dir eine gute Zeit

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