Herbstputz – da müssen Sie jetzt durch

Ich mag es nicht, wenn mir jemand beim Schreiben über die Schulter schaut. Da ich einzelne Sätze, Absätze oder ganze Erzählungen immer wieder lösche, ruft ein kurzer Blick auf meinen Bildschirm viel zu oft ein Stirnrunzeln hervor, weil das was da steht keinen oder noch keinen Sinn ergibt. Eigentlich runzelt aber nur einer die Stirn, weil meist nur einer hinter mir steht, wenn ich schreibe. Und das auch nur, weil er an mir vorbei muss, wenn er sich etwas aus der Küche holen möchte. Heute runzelte er so oft die Stirn, dass ich mich verpflichtet fühlte ihm zu sagen, dass dieses Runzeln einer der Hauptgründe für die zwei dünnen, immer breiter werdende Falten über seinen Augenbrauen ist, die ich seit längerem schon beobachte. Er zieht die Stirn jetzt weniger in Falten und grinst dafür. Auch das verursacht Falten, aber das teile ich ihm nicht mit, weil mir die feinen Linien um die Augen bei ihm durchaus gefallen. Nicht zuletzt, weil ich selbst welche habe und großen Wert darauf lege langsamer oder maximal mit gleicher Geschwindigkeit wie mein Partner zu altern. Mindestens genauso wichtig ist mir ein halbwegs aufgeräumter Ordner mit den Entwürfen meiner Erzählungen. Die letzten fünf Jahre war er mir herzlich egal, seit ich gestern aber etwas suchte, geht er mir gewaltig auf die Nerven. Er enthält gefühlte 458 Entwürfe „Ohne Titel“ und ich frage mich, wann zum Henker ich die geschrieben habe. Am 01.03.2016 zum Beispiel. Da schrieb ich: „Limes!!!“ Ob ich damit die römischen Grenzwälle oder den Erdbeerlikör meinte, kann ich heute beim besten Willen nicht mehr sagen. Im März 2016 aber schien ich einen ganz wunderbaren Einfall  für eine Erzählung gehabt zu haben. Anders lassen sich die drei Ausrufezeichen nicht erklären. Die fehlen bei etwa 200 Entwürfen ohne Titel. Das macht allerdings nichts, weil in denen auch sonst alles fehlt. Nicht ein einziges Wort steht darin und ich frage mich ob man fünf Jahre lang so blöd sein kann, versehentlich einen komplett leeren Entwurf zu speichern. Man kann. Ich habe sie gestern Nacht alle gelöscht.

Weitere 50 bis 60 kleine Notizen habe ich mit einem Titel versehen um irgendwann eine Erzählung daraus zu machen. Sie müssen an Tagen entstanden sein, als ich meine Notizbuch nicht zur Hand hatte und eine Beobachtung, einen Einfall oder eine Begebenheit ersatzweise ins Handy tippte. Um den Verstand bringen mich die restlichen Entwürfe. Jene bei denen ich noch weiß, dass ich etwas wirklich wichtiges oder schönes schreiben wollte, mir aber partout nicht mehr einfällt, was das gewesen sein könnte. Das was in den Entwürfen steht hilft mir nicht weiter. Es ist so wenig, dass es nur ein kurzes Stirnrunzeln hervor ruft. Diese Entwürfe sind also völlig nutzlos und gehören gelöscht. Nur dass ich das nicht kann, weil ich ja weiß, dass es einen Moment gab in dem sie wirklich wichtig waren. 

Zum Beispiel am 07.10.2019. Da steht: „Der klügste meiner Freunde, ist wirklich klug. So klug, dass ich nach all den Jahren noch immer ab und zu anerkennend mit der Zunge schnalzen muss. Das mache ich immer dann, wenn mich jemand extrem positiv überrascht. Und auch nur dann, wenn…..“ Ich wüsste zu gern, warum er gerade an diesem Tag so klug war, dass ich Ihnen davon erzählen wollte. Seine Freundin, die ich gerade fragte, meinte, dass er so klug eigentlich gar nicht sei. Aber das ist vermutlich eine andere Geschichte. Oder am 30.06.2020 „Mein Nachbar Paul ist von mir verursachte Kolateralschäden…“ Gerade habe ich im Kalender nachgesehen. An diesem Tag bin ich mir wirklich keiner Schuld bewusst. Allerdings war Paul im Sommer eine Weile arg ruhig. Vorhin habe ich ihn gefragt und er hat mich ganz giftig angefaucht, dass ich gründlich nachdenken soll und dass er mir, sollte ich es, nachdem es mir einfällt, veröffentlichen, den Hals umdrehen würde. Ich glaube, ich frage mich lieber ob der letzte Satz wirklich so viele Kommas braucht. 

Schön auch das hier: „Steht auf vielen Beinen. Microfinanz. Da steht er geistig dahinter. Amazon. Ein Brocken. Pantomime und kreischen beim Chart. Erdöl schlechter als Gold zu lagern. Nachbarinsel Banker. Sie muss das Konto kündigen.“ Gesprächsfetzen aus der S-Bahn. Das hätte etwas werden können. Damals 2017. Heute habe ich keine Ahnung mehr worum es ging. Bei einem anderen Entwurf fiel es mir vorhin wieder ein. Am 06.11.2017 schrieb ich : „Man wünscht sich, dass genau die beiden noch bleiben. Dass sie die letzten sind, wenn die anderen gegangen sind. Drei Flaschen Wein sind noch da, das reicht. Eine würde reichen – an jedem anderen Abend – an diesem schaden die anderen beiden auch nicht. Obwohl…auch Wasser würde reichen. Es wäre egal, wichtig ist die Kombination: Ein Tisch, wir vier und weit nach Mitternacht. Es hat uns auseinander gespült. Nicht ganz, aber ein bisschen. Es ist egal, weil es einen Kern gibt, der bleibt. Ein Kern, der binnen Minuten Wurzeln schlägt und altes Gedankengestrüpp aufblühen lässt. In der Kombination waren wir früher nicht. Es ist egal. Mein Exfreund fehlt nicht und seine Freundin ist, als wäre sie auch vor zwanzig Jahren schon neben uns gesessen.“ Es ist der Entwurf, der mir zu löschen am schwersten gefallen ist. Mit jedem der dreien, die damals am Tisch saßen, werde ich befreundet bleiben. Aber wir vier, wir werden in dieser Konstellation kaum wieder bis früh morgens zusammen lachen und reden. Paare finden und trennen sich. Bei diesem hätte ich es nicht für möglich gehalten. 

Fragen Sie mich nicht nach dem Beitragsbild. Es gehört, wie Sie sich sicher schon denken können auch zu einem Entwurf und zu einer Erzählung an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Vielleicht auch zu dem Abend, der mich heute wenn ich an ihn denke traurig macht. Dann ist es wahrscheinlich gut, dass man den Text des Bändchens im Glückskeks nicht lesen kann. An diesem Abend hätten wir keinen Blick in die Zukunft werfen wollen. Heute weiß ich das.

25 Gedanken zu “Herbstputz – da müssen Sie jetzt durch

  1. sehr bekannt. Ach,die vielen Zettel, aber auch Heftchen und sogar Bücher mit Eintragungen! Sogenannte Tagebücher. Es kommt vor, dass ich einen Blick hineinwerfe und dann dieselben Schwierigkeiten habe wie du: Wo war das, was war denn da eigentlich so wichtig? Wegtun? Doch lieber nicht.

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    1. Lieber nicht, oder? Gerade bei Tagebüchern fällt einem das doch schwer und so viel Platz nehmen sie nicht weg. Überhaupt finde ich es aber oft seltsam die alten Aufzeichnungen in die Hand zu nehmen. Ich, aber so lange her, dass dieses Ich manchmal fast fremd erscheint.

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  2. Schöne Idee, über Textskizzen zu schreiben, liebe MItzi.Glücklicherweise gehts nicht wirklich ums Putzen. Also musste ich als Leser nicht die Füße hochnehmen. Mit Textentwürfen schlage ich mich auch manchmal herum. Meistens versuche ich, etwas daraus zu machen, das durch die Maschen der Qualitätskontrolle kommt.

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  3. Danke für Deine Schilderung von Entwurfsablagen. Auf Deine Weise anregend, nachdenklich und ermutigend.
    Bei Deinen Beitragsbildern mag immer gerne die handschriftlichen Zettel. Nix gegen das Glück von Glückskeksen, wiederum schmecken sie mir nicht wirklich. Lieber hab‘ ich die frischen Lebkuchen …

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  4. „Aber wir vier, wir werden in dieser Konstellation kaum wieder bis früh morgens zusammen lachen und reden. Paare finden und trennen sich. Bei diesem hätte ich es nicht für möglich gehalten.“ von so einer trennung habe ich vor 2 wochen erfahren und sie sitzt mir grad immer noch in den knochen. manchmal verliert nicht nur das paar, das sich trennt etwas.
    schade, dass du nicht mehr notiert hättest, zu gern hätte ich all diese dinge erfahren, aber eine schöne idee sie hier so zu sammeln, dann kannst du dich weniger schweren herzens davon trennen.

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  5. Liebe Mitzi,
    nun weiß ich, warum ich so wenig schreibe. Ich kann ebenso wenig löschen wie etwas wegzuwerfen.
    Ich habe allerdings einen Trick gefunden. Alles auf einem PC speichern, kein Backup erstellen und wenn meine Dummheit, höhere Gewalt oder Microsoft dafür sorgt, dass alles auf dem PC gecrasht ist, ist ein wundervoller Neuanfang möglich.
    Wie das allerdings mit meinen Bastelkisten, Schränken und „Ecken“ ist, habe ich keine Idee. Ich hoffe, dass die Wohnung nicht einmal abbrennen muss, um „Ordnung“ zu schaffen. 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich,
      es heißt ja zweimal umziehen ist wie einmal ein abgebranntes Haus. Notfalls würde ich einen oder mehrere Umzüge in Betracht ziehen. Zu technischen Neuanfängen wurde ich auch bereits gezwungen….gruselig.
      Kisten und Schränke dagegen sollte am gar nicht allzu sehr aufräumen. Es ist doch immer wieder erstaunlich was man dort (schönes) nach Jahren findet ;).
      Herzliche Grüße

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  6. Heinrich Böll schrieb eine Kurzgeschichte, die hieß (meine ich): „Murkes gesammeltes Schweigen.“ Im Falle des Tontechnikers nachvollziehbar, aber warum nicht der vollkommene Text: ohne Worte? Ähnlich wie das tiefste deutsche Gedicht (Fisches Nachtgesang). Worte sind genug gemacht, nun laßt uns Leerzeichen sehen…
    Aber diese Kiste mit den angefangenen oder mißratenen Schätzchen, die hat doch wohl jeder, oder?? Geht es nur mir so? Und auch, dass ich an ihnen hänge, teils, weil aus ihnen ja noch was werden könnte, teils aber auch trotz oder gerade wegen des Gegenteils. Und all diese, die mit Elan begonnen wurden und nach wenigen Worten versandeten – und heute ist nicht mehr erinnerlich, um was es überhaupt geht, was der Antrieb war. Ach ja, unser Gehirn. Der ständige Erinnerungsumbauer und -optimierer mit all seinen Schwächen.

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      1. Ich habe es in dem Band „Heinrich Böll – Erzählungen“. Gerade jetzt entdecke ich, dass 2017 im Hörverlag eine CD herausgekommen ist. Die reizt mich selbst auch. Ich höre die Bücher ja zunehmend mehr, als dass ich sie lese. Es liegt nicht an den Augen, sondern am Multitasking und daran, dass meine alten Knochen im Bett keine bequeme Lesehaltung mehr finden.

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    1. Ich glaube auch, dass wir sie alle haben. Wahrscheinlich sogar die, die nicht schreiben. Dann hängen seit Jahren Gedankenfragmente im Gehirn fest und warten darauf irgendwann fertig gedacht zu werden. Das gesammelte Schweigen hat mich neugierig gemacht. Ich werde es mir holen. Danke für dien Tipp.

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  7. Dein Text gefällt mir sehr. Ich habe vor Jahren unter dem Sammeltitel „Anfängerin“ Anfänge von Geschichten geschrieben mit dem Vorsatz, sie nie zu beenden. Ich selbst und jeder andere Leser sollten die Geschichten im Kopf weiterspinnen. Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee war, aber ich mag es immer noch, Geschichten weiterzuspinnen, von denen ich nur den Anfang kenne. Deshalb unterhalten mich Leseproben oft besser als der komplette Roman. Vielleicht kannst Du die Fragmente unter diesem Aspekt betrachten.

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  8. Scuci, aber mit mir geht wieder mal die Spottlust durch: das gesammelte Schweigen als Hörbuch: eine ganze CD lang Stille… Nein, aber! Contenance! – Böll ist gut, gerade auch in seinen Kurzgeschichten, kann ich nur empfehlen. Manches natürlich geprägt durch seine Zeit, Krieg, Nachkriegszeit. Und seine Prägung, erzkatholisch. Vielleicht finde ich ihn auch deshalb gut, etwas jünger aber zwar nicht rheinisch, aber doch süddeutsch (barock? Aber ich habe das eigentlich immer für mich abgelehnt).
    – Und? Wie war der Ausflug in die jüngere deutsche und mediale Vergangenheit?
    Schweigen ist eine Tugend, die bei uns (außerhalb sogenannter Lock-downs) viel zu wenig geübt wird, oder täusche ich mich da? Jedenfalls, nochmal mit Bezug auf die kulturelle Prägung: wenn Kloster, dann eins, wo man die Klappe halten darf/muß! Aber wo bekomme ich dort Schreibpapier her…

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