Akkusa…was?

Alter… murmle ich leise und verwende dabei das aktuelle Lieblingswort des fünfjährigen Nachbarsjungen. Alter! Als ob ich schon jemals gewusst hätte um was es sich bei einem Plusquamperfekt handelt. Allein schon das Wort….es klingt nach Quallen und ist sicher noch um einiges ekliger als diese eigentlich doch sehr hübschen und filigranen Tiere. Plusquamperfekt also… eine Zeitform, mit der besonders die Vorzeitigkeit (im Verhältnis zu etwas Vergangenem) ausgedrückt wird; Vorvergangenheit, vollendete Vergangenheit, sagt Google. Vielleicht hättest du sie mir damals so erklären sollen. Die vollendete Vergangenheit. Damit hätte ich sicher etwas anzufangen gewusst. Vielleicht mit einem Beispiel. Das Plusquamperfekt von „ich lebe“ lautet „ich hatte gelebt“. Das hätte es damals ganz gut getroffen, denn so wirklich gelebt hast du nicht mehr. Nur selten wurdest du noch lebhaft. An jenem Abend zum Beispiel. Dem Abend an dem du verzweifelt versucht hast mir die Zeiten beizubringen. Nicht auf Latein, Englisch oder einer anderen Fremdsprache – nein, an diesem Abend scheiterten wir an unserer Muttersprache. Ich beim Begreifen und du beim Erklären.

Mein Italienisch wurde schlechter. Ich merkte es, wenn mich Freunde anriefen und ich gezwungen war unvorbereitet die Sprache zu wechseln oder wenn die Autokorrektur meine E-Mails rot färbte. Nach über einem Jahrzehnt fiel mir auf, dass meine Sätze einfacher und mein Wortschatz kleiner wurden. Das Verstehen war kein Problem, aber es wurde zunehmend schwerer mich detaillierter auszudrücken und ohne nachzudenken spontan zu antworten. Besonders bei Themen die an der Oberfläche kratzten. Das nervt, sagte ich dir und holte die alten Lehrbücher aus dem Keller. Wer schon einmal eine Sprache fließend gesprochen hat, der muss sich nur wieder ein bis zwei Wochenenden mit den Feinheiten auseinander setzen, behauptete ich und ignorierte dein Grinsen. Ein wenig wiederholen, etwas mehr sprechen und ich bin wieder drin, sagte ich und setzte mich an den Schreibtisch. Die Bücher waren so gut wie neu. Bevor ich nach Italien zog, hatte ich sie gekauft, aber doch nie benutz, weil mir die Zeit fehlte. Es war auch nicht nötig – ich lernte die Sprache im Land. Lernte sie, als ich dort zu arbeiten begann und das erste Mal einem Klempner erklären musste, was in meinem Bad kaputt war. An die wenigen Sprachkurse erinnerte ich mich kaum und wenn, dann nur daran, dass ich dort so gut wie nichts verstand. Schon damals hatte ich keine Ahnung worum es sich beim Imperfekt – dem Deutschen – handeln könnte und hatte nur eine wage Vorstellung von dem was sich hinter Personalpronomen verbarg. Ich erinnere mich, dass du hinter mir standest, als ich das erste Mal wütend wurde. Direkte und indirekte Objektpronomen…was zum Henker… Geduldig hast du dich an jenem Nachmittag hinter mich gesetzt und zu erklären begonnen. Und ja, natürlich kannte ich den Unterschied zwischen „dir“ und „dich“, aber was  das mit betont und unbetont zu tun hatte blieb mir ein Rätsel. Du hattest Geduld. Ich nicht ich. Bei Akkusativ und Dativ, flog das erste Buch an die Wand. Niemand glaubt mir, dass diese Themen an meiner Schule nicht durchgenommen wurden. Vermutlich wurden sie es auch und nur ich hatte nichts mitbekommen – wahrscheinlich war ich verliebt und hatte den Kopf in den Wolken. Ein Funke Sprachgefühl schien mich damals gerettet zu haben. Auf dieses hast auch du mich nach dem dritten Wutanfall verwiesen und fluchtartig die Wohnung verlassen. Mach´s nach Gefühl, hast du im Gehen noch gerufen, gelacht und gedroht erst wieder zu kommen, wenn ich wieder normal sei. Die Bücher verschwanden und ich sprach weiter nach Gefühl.

Es klappte immer weniger. Deutsche Freunde merkten nichts. Ich plapperte noch immer wild drauf los, aber die italienische, die grinsten immer öfter und während des Corona Lockdowns holte ich nach all den Jahren die Bücher nach oben. Du warst längst weg, aber ich wünschte, du wärst noch hier gewesen. Jetzt habe ich es begriffen. Es ist eigentlich ganz einfach, nicht wahr? Pietro schreibt MIR und Leo grüßt MICH. War es damals schon so einfach? Wahrscheinlich. Vermutlich war es einfacher als all der Rest, mit dem wir uns in jener Zeit beschäftigten. In einem der Bücher liegt noch der Zettel von damals. Die lateinischen Bezeichnungen der vier Fälle. Erbärmlich, dass du sie mir damals aufschreiben musstest und noch erbärmlicher, dass dieser Zettel jetzt über meinem Schreibtisch hängt, weil er zu den wenigen Dingen gehört, die ich von dir noch habe. Die vier Fälle…anstelle einer Kiste mit Liebesbriefen. Vielleicht ist der Zettel aber sogar schöner. Seit drei Tagen hängt er jetzt da und jedesmal wenn ich an ihm vorbei gehe, höre ich dein Lachen. Manchmal auch deine Stimme. Wem, Herrgott nochmal, das ist doch nicht so schwer! Und dann wieder dein Lachen. Ich hatte gedacht, dass wir mehr Zeit haben. Ist das der Plusquamperfekt? Keine Ahnung, aber ich dachte wirklich, dass uns mehr Zeit bleiben würde. Hätte ich gewusst, wie knapp sie am Ende geworden ist, hätte ich sich kein ganzes Wochenende mit idiotischen Objektpronomen und italienischer Grammatik verschwendet. Das kann ich alleine, aber beim Rest fehlst du mir noch immer. Zwischen den vier Fällen an meiner Wand lachst du. Dein Lachen bringt mich zum Lachen. Es fühlt sich an wie damals, als ich mir zwei Rippen gebrochen habe und trotzdem über deine Witze lachen musste. Manchmal tut lachen weh. Auch ohne gebrochene Rippen. Ich vermisse dich – Akkusativ, oder?

16 Gedanken zu “Akkusa…was?

  1. Was wie ein Text über Gramatik daherkommt, ist doch die Geschichte einer Liebe, die leider zu früh endete, wie du schon mehrmals auch in anderen Texten angedeutet hast, liebe Mitzi. Ich mag diese Texte sehr, in denen du den Liebsten auferstehen lässt.

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    1. Ein bisschen wie mit Coster. Auch deine Texte über ihn mag ich besonders gern. Manche Menschen bleiben uns nahe, das merkt man auch hier auf unseren Bloggen, Blogs…wie lautete die Mehrzahl, lieber Jules? In unseren Texten 😉

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  2. Als ich die Überschrift las,dachte ich: nun lernt Mitzi Griechisch. Akussa (άκουσα)- „ich hörte“.
    Ιch liebe Grammatik und Syntax, und die Beschäftigung damit finde ich keinesfalls verschwendete Zeit, wie vermutlich auch dein damaliger Liebster. Dir oder dich – welch wundersame Differenzierung, welch Schatz gegenüber dem einheitlichen englischen „you“…. Im alten Griechisch gab es sogar noch mehr Fälle, zum Beispiel eine Extraform für zwei Personen, angesiedelt zwischen Singular und Plural. Die hätte ihm sicher gefallen. Wieviel lernt man über ein Volk, wenn man auf die Logik seiner Sprache lauscht! Im Deutschen diese merkwürdige Umschlingung des Satzes durch das Verb, die bis zum Satzende aufrecht erhaltene Spannung, wie der Satz wohl enden wird….(zB Ich habe dich, bevor du …. , nicht …. geliebt, gehasst, gekannt???). Ich gerate ins Schwärmen.

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    1. Nach den letzten Monaten kann ich ein wenig nachvollziehen was die Liebe zu einer Sprache ausmacht. Praktisch konnte ich das vorher schon, aber die Theorie war mir immer zu nervig. Das Bauchgefühl reichte. Nach den Coronawochen hatte ich erstmals Spaß daran, mich damit auseinander zu setzten. Und ja…die Feinheiten sind durchaus etwas, bei dem sich ein zweiter Blick lohnt. Die Extraform hätte ihm sicher gefallen. Wenn schon ich das faszinierend finde.
      Danke für dein schwärmen…es steckt an. Liebe Grüße

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  3. „wen klage ich an?“ dich. Akkustiv. Im Italienischen heißt „anklagen“ sicher etwas ähnliches wie „acusare“. Meine berufsbedingten Verhaltensweisen gehen mit mir durch 🙄😊😇

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    1. Acusare und dare (wem gebe ich etwas)…ich glaube das kann ich mir sehr gut merken! Überhaupt kann ich das jetzt alles viel besser nachvollziehen. Ich glaube ich war wie ein bockiger Schüler, der einfach trotzig behauptet hat, dass ihm das alles egal ist. Manchmal ist man auch als Erwachsener ein wenig doof.

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  4. Liebe Mitzi,
    dass Sie beim Plusquamperfekt traurig zurückblicken, kann man sehr gut verstehen, weil perfekt war es eben „vorher“.
    Nun muss man warten, bis Quam (die Qual) verblasst und das Lebensfrohe wieder ins Plus kommt.
    Oder so ähnlich. 😉
    Gruß Heinrich

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  5. Ach ja, die Grammatik. Die wir gebrauchen, wie uns der muttersprachliche Schnabel eben gewachsen ist (im Nordosten, hihi, da gibt es Leute, die können mir und mich nicht unterscheiden. Das klingt vielleicht lustig! Aber der eigentliche Witz dabei ist, dass sich manche einbilden, das sei dann Hochdeutsch.). Wir gebrauchen locker die doppelte Verneinung, weil von so etwas Verdrehtem, ja, da hat man doch noch nie nichts gehört! Und gar die Zeiten, die schmeißt man im mündlichen Gebrauch, zumal im Dialekt, doch nur so umher! Fragt mal einen Schwaben nach der aktuellen Zeit – dann wird euch die Relativität von Zeiten schnell bewußt und zumindest die Zeitangabe bleibt rätselhaft.
    Und dann das alles noch in fremden Zungen. Aber das ist doch einfach, sagt der Englischlehrer, du mußt nur die und die Ausnahmen beachten und am besten Auswendiglernen, ganz selbstverständlich nickt der Französischlehrer dazu. Was für ein Witzbold, ich hatte doch gerade in jenen Jahren Besseres zu tun gehabt, als irgend etwas auswendig zu lernen! Es galt die Welt, zumal die innere, zu entdecken, und nicht ihre Regeln!
    Außerdem wurden auf diese angesprochen regelmäßig alle Mädchen rot. Das war damals noch so.
    Akkus gelten inzwischen als überaus attraktiv, bis sie ihren Geist aufgeben.
    Das Elektroauto war gefahren worden, der Fahrer hatte vergessen gehabt, den Akkumulator aufzuladen… Ach, Grammatik! Ach, Sprache!
    Meine technisch begabtere Verwandtschaft glaubt mir nicht, dass es auf die Sprache ankommt, dass wegen falsch gesetzter Kommata schon mindestens so viele Menschen umgebracht wurden, als wegen so einer falsch gesetzten Zahl.
    In einer unbekannten Zukunft werden die Elektromobile weiter gefahren sein. Wir hatten uns das früher nicht vorzustellen gewagt.
    Wer mit Deutsch Probleme hat, lese einen Fachmann, der sich den Tücken der Sprache von außen zu nähern versuchte, ich empfehle Mark Twain.

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