Guten Morgen, Giesing

Heute morgen um kurz nach sieben hat es auf meinem Balkon nach Italien gerochen. Es mag albern klingen, aber überall auf der Welt kann es unter bestimmten Umständen nach Italien riechen. Vermutlich gibt es Tage an denen es in Toronto nach München riecht und in Amsterdam nach Wien. So wie jede Stadt und jedes Land hat seine ganz eigene Geräuschkulisse hat, so hat sie auch ihren Geruch. Italien riecht man hier in München meist früh morgens und ausschließlich an Tagen, die versprechen besonders warm zu werden. Um kurz nach sieben ist die Luft noch frisch, aber man riecht bereits die Sonne, die gerade erst über die Hausdächer klettert. Damit es nach Italien riecht muss Kaffee auf dem Tisch stehen. Kein Filterkaffee versteht sich und es hilft wenn die Morgenluft vor dem Einatmen an der offen stehenden Tür einer Bäckerei vorbei gekommen ist. Heute morgen roch es nach Italien und klang nach München. So sehr ich die anfangs fast gespenstische Stille meines Viertels in den letzten Wochen genossen habe – der Klang der Stadt hat mir gefehlt. Heute nun beides. Mit geschlossenen Augen Italien riechen, München hören und den ersten Schluck Kaffee schmecken. 

Andere Viertel waren nie richtig ruhig, habe ich mir sagen lassen. Giesing schon. In Giesing wurde es Ende März von einem Tag auf den anderen still. Über mein Viertel stülpte sich etwas weder sicht- noch begreifbares. Etwas, das all das ausblendete, was wir längst nicht mehr wahrgenommen haben und erst in der Stille langsam begriffen, wie viel Leben sich auf unseren Straßen abgespielt hatte. Das kaum noch Autos fuhren, bemerkten wir zu erst. Große Teile der Nachbarschaft arbeiteten von zu Hause aus und all die sonst so alltäglichen Besorgungen und Fahrten fielen aus. Besonders Abends verirrte sich kaum ein Auto in meine Straße. Wo hätte es auch hinfahren sollen. Dann die Flugzeuge. Es dauerte etwas, aber als es wärmer wurde und wir auf den Balkonen saßen, bemerkten wir, dass sie fehlten. Sah man eines, fiel es auf. Schmerzlich vermisst wurden die Stimmen. Die der Alten, die in meinem Viertel an den Ecken zusammen stehen und ratschen und die der Kinder, die sich vor Corona in den Höfen und den ruhigen Straßen zusammen gerottet haben und mit ihrem Lachen und Plärren das Viertel beschalten. Und dann natürlich all die Kneipen und Läden, aus denen immer Geräusche zu hören waren. Fast zwei Monate lang, hörte sich mein Viertel an, als würden seine Bewohner auf Zehenspitzen laufen und nur noch flüstern. Und das obwohl andere Geräusche zunahmen. Als es wärmer wurde, verlegten wir das Leben auf unsere Balkone. Unzählige geschäftliche Telefonate tagsüber und abends eine Fülle an Face-Time und Zoom Unterhaltungen mit denen die Nachbarschaft beschallt wurde und eine Fülle an Musik die aus den geöffneten Fenstern zu hören war. Dazu die vielen, stundenlangen Gespräche von Balkon zu Balkon. Ohne diese Geräusche hätten wir uns einsam gefühlt und doch klangen sie anderes. Es war die Corona-Geräuschkulisse, die an Münchner Sommernächte erinnerte und doch anders klang. 

Heute, das erste Mal, klingt die Stadt wieder vertraut. Giesing wacht auf. In der Kneipe unter mir wird renoviert, vor dem kleinen Laden steht eine Schlange und am Spielplatz im Hof darf endlich wieder gespielt werden. Noch ist es anders. Die Menschen in den Schlangen vor den Läden halten Abstand und tragen Masken. Die Kinder spielen in kleinen Gruppen und noch wissen Gastronomen und Eckkneipen nicht, wie und wann genau das Geschäft wieder anläuft. Aber doch, mit geschlossenen Augen, dem Geruch Italiens in der Nase und Kaffee aus der Moka auf der Zunge, erkenne ich mein München wieder. Wie sehr ich es vermisst habe, merke ich erst jetzt, wo es langsam wieder aufzuwachen beginnt. Guten Morgen Giesing, schön dass du noch da bist. 

 

17 Gedanken zu “Guten Morgen, Giesing

  1. Manchmal ist es auch eine Interpretationsfrage, Gerüche sind sehr individuell interpretierbar und sehr emotional beladen . Zum Beispiel könnte „Italien“ auch Spanien sein, oder Griechenland …..

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    1. Das ist wahrscheinlich recht individuell. Italien ist ja auch für jeden anders. Der eine riecht die Toskana, der andere das Meer und ein weiterer Rom. Wenn es hier morgen nach Griechenland riecht hätte ich auch nichts dagegen.

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  2. Und was war das alles, die letzten Wochen über? Ein Spuk, ein Spaß auf Kosten vieler oder tatsächlich bittere Notwendigkeit? Falls Letzteres, wie passt es, dass plötzlich all diese Einschränkungen nicht mehr nötig sein sollen? All die Kräfte davor umsonst aufgebracht? Und „Normalität“ herrscht längst auch noch nicht für alle. Sehr ambivalente Gefühle bei mir, wenn ich jetzt merke, wie der „Alltag davor“ so unbekümmert von vielen wieder aufgenommen wird.

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    1. Natürlich herrscht noch keine Normalität. Die wird noch lange nicht einkehrten. Und ich persönlich glaube, dass sich die letzten Wochen nur gelohnt haben, wenn jetzt nicht alle sofort wieder komplett und dicht aufeinander hocken. Ein Spaß war es jedenfalls nicht. Für kaum einen und für manche ganz besonders nicht. Aber so ein bisschen Alltag ist fein. Ein bisschen Hoffnung, dass wir langsam wieder aufwachen- oder atmen dürfen.

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  3. Liebe Mitzi,
    was für eine Liebeserklärung an Deinen Stadtteil, einschließlich der italienischen Düfte.
    In Nürnberg mochte ich in den letzten Wochen den ruhenden Verkehr, die bessere Luft und den frühlingsblauen Himmel ohne Kondensstreifen. Ein guter Freund sagte, er habe noch nie so einen klaren Blick gehabt von der Burg aus über die Stadt.
    Schönen Sonntag und viele Grüße
    Bernd

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    1. Das sind die schönen Begleiterscheinungen gewesen. Ich habe das auch genossen. Obwohl mir das Erwachen gefällt – es gab einiges das man schön finden konnte. Auch wenn ich die Geräusche meiner Stadt mag – den Verkehrslärm werde ich nicht lange willkommen heißen 😉

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  4. Ah – so sieht’s also aus auf Deinem Balkon und in Deinem Hinterhof. Das hatte ich mir anders vorgestellt, enger. Man macht sich halt immer eigene Bilder, je nach den eigenen Erfahrungen. Gut, daß Du so viel Raum hast, sowohl auf dem Balkon als auch im Hinterhof. Du kannst Dich glücklich schätzen.:-)

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    1. Ich habe erst gestern gemerkt, dass ich die falschen Bilder hochgeladen habe. Aber vielleicht passen die eh besser – man sieht den Laubengang zum Hinterhof und der ist wirklich gold wert. Besonders während Corona.

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  5. Wir haben auf Zehenspitzen gelebt, zum Glück im Frühling und zum Glück ohne echte Ausgangssperren. Aber noch fühlt es sich an wie ein zaghafter Versuch auf dünnem Eis. Wenn es trägt, wird es ein Vergnügen.

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    1. Das ist der Punkt, oder? Wenn es trägt. Ich hoffe es sehr. Und ich sehe es wie du – Frühling und nicht ganz eingesperrt. Es ging, aber doch….ein Vergnügen wenn es ganz vorbei sein wird.

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  6. oh ich weiß genau was du meinst. damit, wie italien riecht. JA das kenne ich. und auch, mit dieser geräuschkulisse. und überhaupt. bei mir war es sicher nicht ganz so still wie bei dir in giesing, aber auch. gespenstisch war es vor allem in der innenstadt. momentan merkt man gar nicht sooo viel davon. vielleicht schon, hätte man den direkten vergleich. aber mit den wochen shutdown dazwischen fühlt sich vieles grade wieder nach normalem leben an, vom mundschutz abgesehen. freitag sollen die restaurants wieder öffnen. mit einschränkenden auflagen, aber dennoch.

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    1. Mittlerweile haben die Restaurants bei euch wieder geöffnet. Bei uns derzeit die Außenflächen. Auch das schon richtig schön. Schöner vielleicht sogar als drin, wo ich mir den großen Abstand noch nicht richtig vorstellen kann.

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      1. Also ich muss sagen dass das mit dem Abstand drin weniger schlimm ist als ich es mir vorgestellt hab. Es fühlt sich alles schon wieder ziemlich normal an… ziemlich. Ich hoffe halt, dass es in dieser Richtung weiter geht…

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