Hinterfragen Sie nie ein perfektes Lächeln

Ende letzten Jahres sind mit binnen weniger Tage drei Menschen begegnet, die ich nicht kannte. Das wäre nicht ungewöhnlich, da sie aber alle im Besitz eines Hausschlüssels waren und sich an den Briefkästen zu schaffen machten, musste ich erkennen, dass ich meine Nachbarn anscheinend doch nicht so gut kenne, wie ich dachte. Da ich mich, neben Frau Obst, für die mit Abstand am besten informierte Bewohnerin halte, ist das eine Tatsache die mich irritierte und – vermutlich auch der erhöhten Kalorienzufuhr der Feiertage geschuldet – in eine Sinnkrise stürzte. Kannte ich überhaupt die anderen? Wusste ich von ihnen wirklich mehr als den Namen und die Eigenheiten bei der Mülltrennung? Beim Familienessen am zweiten Weihnachtsfeiertag dachte ich darüber nach. Zwischen 24 Verwandten kann man das in aller Ruhe machen, schließlich liegt es in der Natur der Sache, dass – wenn man die jüngste Schwester ist – über einen und weniger mit einem gesprochen wird.

Kenne ich zum Beispiel….Paul. Der fällt mir ein, weil er mir nichts zu Weihnachten geschenkt hat und ich unser Verhältnis über all die Jahre eigentlich einem Geschenk für würdig empfunden hätte. Man sollte meinen, dass ich ihn nach all den Jahren ganz gut kennen würde. Schließlich sehen wir uns fast täglich und haben schon mehr als eine Krise überwunden. Präziser hat Paul schon mehr als eine Krise überwunden. Und noch präziser war ich an ihnen nicht ganz unschuldig. Es liegt also nahe anzunehmen, dass wir uns kennen. Tun wir aber nicht. Immer wenn ich meine, ihn zu kennen, überrascht er mich. Lange glaubte ich zum Beispiel, dass er ein unsensibler Vollidiot ist. Dann überraschte er mich damit, dass er einer heulenden Nachbarin die halbe Nacht lang dabei half das Kellerabteil von den Resten ihrer Beziehung zu befreien. Und als ich ihn dann für doch ganz nett hielt, weil er mich zum Beispiel nachts von der U-Bahn nach Hause begleitete, dann machte er mich vor der versammelten Nachbarschaft zur Sau, nur weil ich eines seiner blöden Pakete verbummelt hatte. Aus Paul werde ich nicht schlau. Was auch immer ich denke, dass er denken könnte, ist falsch. Er denkt in einem anderem Rhythmus als ich. Oder in eine andere Richtung. Vielleicht auch nur geradeaus und ich in Schleifen. Männer verstehen zu wollen, ist etwas, das ich mir bereits kurz nach der Volljährigkeit abgewöhnt habe. Sinnlos. Aber einen Gedankengang von Paul nachvollziehen zu können, das ist etwas, von dem ich mir wünsche, dass es mir gelingt. Es ist eine Schande, dass wir uns nicht kennen. Man muss die Menschen in seinem Umfeld unbedingt kennen. Dass ich meine Nichte fragte, wer der Typ neben ihr sei, zeigte mir – am Rande – dass ich anscheinend auch in der eigenen Familie Defizite an den Tag lege. Paul kennen zu lernen erschien mir aber einfacher und ich nahm es mir für das neue Jahr fest vor.  

Seit einiger Zeit denke ich mir jetzt immer wenn ich ihn sehe, schnell eine Frage aus und versuche zu erraten, was er wohl antworten wird. Ich teste mein Wissen und lerne ihn zugleich mit jeder Frage besser kennen. Ein Spiel das überraschen amüsant ist. Obwohl ich mir sicher war, dass Paul ein echter Hundemensch ist, weiß ich jetzt, dass er Katzen bevorzugt. Ich weiß nun auch was er gewählt hat und warum. Ich tippte darauf, dass er mir grinsend aber deutlich zu verstehen geben würde, dass mich das nichts angeht. Falsch. Die Antwort überraschte mich nicht. Wohl aber ihre Ausführlich- und Ehrlichkeit. Zwei Sympathiepunkte für Paul. Die Frage ob die Brünette seine neue Freundin ist, hätte ich mir schenken können. Sie ist mir rausgerutscht und war eher meiner Neugier als dem „Verstehe-Paul-Spiel“ geschuldet. Trotzdem hab ich verloren und eine nicht nur unerwartete, sondern auch reichlich giftige Antwort erhalten. Ein Minus Punkt für Paul. Danach hatte ich mir vorgenommen etwas sinnvollere Fragen zu stellen. Wissen Sie, es ist gar nicht so leicht ein Spiel mit einem fast fremden Menschen zu spielen, wenn der gar nicht weiß, dass er Teil eines Quiz ist. Da ich Paul fast täglich sehe, sind meine Fragen leider immer noch oft reichlich banal und trotzdem liege ich immer falsch. Ich war mir zum Beispiel sicher, dass er auf „Meinst es schneit morgen?“, gar nicht antworten würde. Hat er aber. Ich weiß jetzt, dass er eine Stahlschraube im Fußknöchel hat und es deshalb spürt, wenn Schnee in der Luft liegt. (Er hatte übrigens recht, es hat geschneit). So richtig zufrieden machte mich das Wissen über die Schraube aber nicht, sondern irritierte mich sogar ein wenig. Deshalb habe ich ihn gestern im Lift gefragt, ob er es auch als seltsam intim empfinden würde, Kenntnis von metallischen Gegenständen im Körper eines anderen zu haben, wenn man diesem Körper ansonsten ja gar nicht kennt. Ich war stolz auf meine nicht ganz so banale Frage und mir sicher, dass er mit einem blöden Spruch antworteten würde. Ich lag erneut falsch. Er sagte gar nichts, sondern lächelte auf eine mir völlig bisher unbekannte Art. 

Wie auch immer Sie Ihre Nachbarn kennen lernen wollen – stellen Sie ihnen lieber nicht allzu viele Fragen. Das mit Paul und mir läuft gerade ganz gehörig schief. Vorhin im Supermarkt nannte er mich „Schnecke“ und lächelt seit Tagen ein Lächeln, das längst nicht so schön wie das arrogante Rhett-Butler-Lächeln ist **. Es ist ein „Hey….geht da was?“ Lächeln und geht mir jetzt schon auf die Nerven. Vorhin hat mich Frau Iwanow ebenso angelächelt, als sie sah, dass Paul mir den Wasserkasten hoch getragen hat. Ich hab ihm jetzt gesagt, dass ich mich erst mal auf den Kerl von Weihnachten konzentrieren muss und verschwiegen, dass es sich dabei um den Freund meiner Nichte handelt. 

** PS. Sie wissen noch….Rhett wohnt im Hinterhaus

 

 

30 Gedanken zu “Hinterfragen Sie nie ein perfektes Lächeln

  1. Ich hätte eine weitere Gruppe auf die man den Beitrag fast eins zu eins ummüntzen könnte. Sie nennt sich: Kommilitonen. Vor allem die männliche Seite scheint vom banalen und sehr kurzen Smalltalk zwischen den Vorlesungen oder Seminaren reichlich beeindruckt. Vlt bräuchten wir einfach so etwas wie ein Banner auf dem steht: „Ich bin nur neugierig/ vorlaut?“

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    1. Oder ein T-Shirt. Könnte allerdings auch dazu führen, dass die falschen ein Gespräch beginnen ;).
      Mir tut es echt leid, den Blog noch nicht zu Uni Zeiten gehabt zu haben. Großes Kino, Tag für Tag. Alleine die Mitarbeiter in der Mensa. Vielleicht schreib ich mich bei Schreibblockaden noch mal ein.

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      1. Bei den Mensen kann ich tatsächlich nicht mitreden, ich war dort einmal am Anfang und seitdem nie wieder… Es kommt halt auch keine Mensa an die der Physiker rann, nur liegt die halt leider am anderen Ende der Stadt. Meine Neugier ist übrigens geweckt

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      2. Ich glaube diese Neugier solltest du erst stillen, wenn du nicht mehr in einer Mensa isst. Ein Studienfreund jobbte in der unseren und….naja, wir gingen dann dort nicht mehr essen.

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  2. „… wenn man die jüngste Schwester ist – über einen und weniger mit einem gesprochen wird.“
    Dies ist mir ebenfalls bekannt als jüngstem Bruder.
    Welche Geschwister-Konstellation hat denn Paul?
    Schöne Grüße, Bernd

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  3. 😀 manchmal ist es offenbar besser, doch nicht allzu viel zu fragen (zumindest, wenn man nicht hinterher selbst Antworten geben muss, die man gar nicuht geben wollte), aber die Neugier kann ich gut verstehen 😉
    Ich glaube, ich stelle prinzipiell zu wenig Fragen … dabei sind Fragen wirklich toll.
    Gute Idee für 2019!! Danke für den amüsanten Text.

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    1. Ich bin ganz bei dir. Fragen sollte man eigentlich sicher viel öfter stellen. Nicht nur aus Neugier sondern auch weil viele Menschen interessanter sind als sie auf den ersten Blick erscheinen. Ich mach es aber auch zu wenig und wenn dann wohl etwas zu plump ;).
      Liebe Grüße

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      1. Ja, dass man mehr erfährt und so mancher interessanter wird, das finde ich total. Fragen sind einfach auch Türöffner und geben Chancen, neue Räume zu entdecken.
        Na, keine Ahnung, wie du Fragen stellst, bisher bekommt man hier ja eher den Eindruck, dass es so plump nicht sein kann, eher direkt vielleicht :D. Und mutig.
        Aber das muss ja nicht verkehrt sein. Zieht halt manchmal so Sachen nach sich …
        Das ist das Leben!! 😉

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      2. Man kommt sich selbst ja auch immer blöder oder dümmer in solchen Situationen vor als es andere empfinden. Aber selbst wenn…wie du sagst, so ist das Leben und …fällt mir gerade ein, die Sesamstraße „wer nicht fragt bleibt dumm“. Mit diesem Ohrwurm liebe Grüße 😉

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  4. Liebe Mitzi!

    Oh oh, wenn der liebe Paul „Schnecke“ sagt, würde das im Schwäbischen eigentlich so viel wie „Schatz“ heißen. Und dazu dieses Lächeln … ich wäre vorsichtig.
    Dass er so undurchschaubar ist, könnte auch Teil seines Plans sein. Ihm gefallen Ihre Bücher und er freut sich, darin erwähnt zu werden. Und damit er auch immer wieder in den Geschichten auftaucht, gibt er ständig neue Rätsel auf.
    Die Stahlschraube geht ja beinahe in Richtung Krimi. Wer weiß, bei welcher Verfolgungsjagd er sich die eingehandelt hat 🙂

    Herzliche Grüße aus dem Schneetreiben ins vermutlich verschneite München
    Mallybeau

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    1. Liebe Mallybeau,

      bei uns in Bayern auch. Ein Schneckerl ist durchaus ein Kosewort und nicht unbedingt für eine Waschraumbekanntschaft geeignet. Ich bin ein wenig unsicher ob er mich nicht womöglich auf den Arm nimmt, da ich seinen Namen im Buch ja nicht geändert habe. Dabei ist Paul einfach nur zu schön um es zu ändern.
      Der Unfall….ein Fahrradunfall. Ganz unexotisch.
      Grüße aus dem herrlich verschneiten München. Ein Traum.
      Mitzi

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  5. wie schön, ein paul text ❤ mir wäre nach der info über die schraube eher eine frage nach dem unfallhergang eingefallen. aber man sieht, du bist einfach einfallsreicher als ich es bin 🙂

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    1. Das hat er mir (leider) bis ins Detail erzählt. Fahrradunfall. Im Stand an der Ampel umgekippt. Irgendwie unsexy ;). Du siehst, meine Frage war eher der Hoffnung geschuldet etwas wirklich interessantes herauszufinden.

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