Weihnachten ist mir heilig. Da bin ich kompromisslos. Es ist mir schnuppe, ob sich die ganze Welt über den Konsumrausch oder den fehlenden Schnee echauffiert. Ab dem ersten Advent bin ich in Weihnachtsstimmung. Keinen Tag eher und keinen Tag später. Weihnachten ist mir heilig. Der Wahnsinn drum herum ist mir egal. Von meinem Weihnachten habe ich eine klare Vorstellung. Es gibt fünf Fixpunkte: Der Baum – die Kirche – der Brunch mit Freunden – der eine Freund aus Italien – der familiäre Wahnsinn. Diese fünf Dinge müssen sein. Alles andere zu planen wäre sinnlos. Die Katastrophen, das Schöne und das Schlimme im Leben fragen nicht nach Weihnachten. Sie kommen einfach. Springen einen hinterrücks an und werfen einen zu Boden. Man muss sie dann um diese fünf Punkte herum drapieren.
Bis zum 24.12.2019 wäre mir kaum etwas eingefallen, was mein Weihnachten ändern sollte. 2020 hat gezeigt, dass sich binnen weniger Monate alles ändern kann.
Seltsam ruhig war es gestern Abend. Das dröhnen der Weihnachtslieder in der Kneipe unter mir fehlte. An hl. Abend wird es selbst in einer Münchner Fußballkneipe ruhig, am Vorabend dagegen nie. Vielleicht fiel es mir deshalb so unangenehm auf, wie ruhig es auf der Straße nach neun Uhr abends jetzt ist. Die Sirene eines Krankenwagens wirkte in der ausgestorbenen Stadt noch schrill und bedrückend und nur die Kerzen am eben aufgestellten und geschmückten Christbaum konnten das hässliche Geräusch mit ihrem warmen Licht übertönen. Gestern Abend hörte man in meiner Straße nur wenig – heute Abend vermutlich gar nichts. In meiner Wohnung wird es besonders still sein. Ich hoffe es wird eine weiche und warme Stille sein, vielleicht aber auch eine unangenehm laute und kratzige. Ein so stilles Weihnachten kenne ich nicht und ich vermisse das Chaos, das mich seit Jahrzehnten durch diesen Tag trägt. Schöne Weihnachten schreiben meine beiden älteste Freundinnen, die ich seit dem Sandkasten kenne und schicken augenzwinkernd Fotos vom Chaos ihrer Kinder, die den Abend nicht erwarten können. Ich verstehe den Hinweis. Mir ist es zu ruhig, sie könnten besonders nach den letzten Wochen gut eine Stunde Ruhe vertragen. Egal in welcher Konstellation wir den heutigen Tag verbringen – er ist ungewohnt und anders. Heute werden wir uns nicht in der Kirche um die Arme fallen. Der erste Punkt meiner unumstößlichen Weihnachtstradition ist ersatzlos gestrichen.
Kurz vor zehn und ich sitze noch im Schlafanzug bei der dritten Tasse Kaffee vor dem Adventskranz und höre Radio. All die Jahre davor stand ich um diese Zeit im Bad, hatte die Zahnbürste im Mund und trug mit frisch aufgetragenen Nagellack einen Kampf mit meinen Haaren aus. Die störrischen Haare gewannen immer und ich nehme es ihnen übel, dass sie ausgerechnet heute perfekt fallen ohne dass ich sie auch nur gekämmt hätte. Heute Vormittag sieht sie keiner. Der Brunch mit Freunden, bei dem wir uns Jahr für Jahr in der selben kleinen Wohnung versammeln und ich mich immer frage, wie so viele Leute überhaupt hineinpassen, fällt aus. 40 Menschen aller Altersgruppen auf ebenso viele Quadratmeter zu pressen, ist immer Wahnsinn – bisher ein herrlicher, dieses Jahr ein dummer Wahnsinn. Wir werden uns über Zoom sehen. Ich sie, sie mich nicht, da die Kamera an meinem Rechner kaputt ist. Ich bleibe im Schlafanzug, werde der Tradition halber aber natürlich mit einem Glas Champagner mit allen anstoßen und alleine vor dem Bildschirm sitzend mit ihnen „Last Christmas“ und „War is over“ singen. Wüsste man nicht, dass dies der Ersatz für meine zweite unumstößliche Weihnachtstradition ist, müsste man sich Sorgen machen. Vormittags mit einer Pulle Schampus alleine im Schlafanzug Wham Lieder grölen – das klingt nach einem emotionalen Zustand nahe des Abgrunds. Vielleicht beschreibt es das nahe Ende dieses Jahres aber auch besser als alles andere. Hoch die Tassen, da kommen wir jetzt auch noch durch!
Wenn meine Freundinnen denken, Weihnachten mit ein bis zwei Kindern ist anstrengend, dann lächeln meine Schwestern milde. In unserer Familie ist es nicht anstrengend, aber der Höhepunkt eines wunderschönen familiären Chaos. Dieses Jahr nicht. Selbst bei großzügiger Auslegung der gelockerten Kontaktbeschränkungen an den Feiertagen, würden wir diese mit Leichtigkeit sprengen. Wir sind viele. Sehr viele. Zu viele für 2020. Dennoch sind sie da und nur das macht es erträglich, sie dieses Jahr nicht zu sehen, weil wir uns aufteilen müssen. Das und die Tatsache, dass ich Nachmittags zu meinen Eltern fahre und weiß warum ich die letzten zwei Wochen wirklich fast niemanden mehr getroffen habe. Die zwei sind die wichtigsten und weil ich ahne, dass wir es auch zu dritt schaffen ein schlichtes gemütliches Essen in familiäres Chaos zu verwandeln. Darin sind wir gut – der dritte Punkt meiner unumstößlichen Weihnachtstradition ist gesichert. Heute Nachmittag ist es bis neun Uhr (nächtliche Ausgangssperre – ich versuch noch die richtige Betonung zu finden, um es etwas weihnachtlicher klingen zu lassen) ist es nicht ruhig und das ist gut so, denn danach wird es wieder sehr still. Die Nachbarskinder werden nicht klingeln und mir ihre Geschenke zeigen und mein Nachbar Paul wird nicht um Wein, Salz oder Schokolade bettelnd vor der Tür stehen – sie sind bei ihren Eltern, die sie in diesem Jahr viel zu selten gesehen haben. Als Ausgleich hingen in der Stille unseres Hauses ungewöhnlich viele Tütchen mit kleinen Geschenken an den Türen. Das Jahr hat uns gezeigt wie gern wir uns alle haben und unter meinem Baum lagen selten so viele Päckchen wie heuer. Der Baum….der vierte Punkt unumstößlicher Weihnachtstradition. Selten war er mir wichtiger und doch macht er mich ein wenig traurig.
Der mutigste meiner Freunde wird nicht kommen. Er ist dort wo ich dieses Jahr zu selten war – in seiner Wohnung am Meer in Italien – und kann nicht zu mir und seiner Familie. Er ist der fünfte und vielleicht der wichtigste Punkt meines Weihnachtens. Er gehört zu den Menschen mit denen ich Weihnachten auch in einem überfüllten Zug bei Neapel, einer sterilen und hässlichen Küche, bei zerstrittenen Freunden oder frierend in einer Wohnung ohne Heizung glücklich wäre. Wir haben es getestet, alles davon. Ein paar Bilder davon unten. Vielleicht wird er mir den Hals umdrehen wollen, weil ich sie öffentlich poste. Egal. Bis der Lockdown vorbei ist, wird der Wunsch verflogen sein.
Anders Weihnachten…seltsam, nicht wahr? In einer meiner Weihnachtskarten steht: „Ein ganz besonderes Jahr neigt sich dem Ende zu…Wir haben gelernt, fünf statt drei Bälle zu jonglieren, mit den Augen zu lächeln, uns auf Distanz nah zu sein und uns über Selbstverständlichkeiten zu freuen.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihnen trotz allem oder gerade wegen allem, frohe Weihnachten. Anders, aber wir werden es uns schön machen. Weihnachten ist Weihnachten ist Weihnachten. Das lassen wir uns von einer dummen Pandemie nicht nehmen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss den Champagner entkorken und mich schleunigst in eine Weihnachtskleidchen werfen und etwas herrichten – die Chance, dass Facetime Anrufe kommen ist mir dann doch etwas zu groß. Schick und hübsch mit einem Gläschen in der Hand alleine – das ist charmant. So wie ich hier gerade sitze, der Anfang vom Ende. Und das ist noch lange nicht erreicht – das Ende! Durchhalten! Eine Umarmung aus München und herzliche Grüße.