Sehnsuchts Orte

Es gibt Orte, nach denen man sich ein Leben lang sehnt. Dabei ist es völlig egal, wie oft man sie besucht. Wann immer man an sie denkt, spürt man ein zartes Ziehen im Magen. Schön ist es, wenn die Orte nicht aus der Welt sind und immer die Möglichkeit einer Rückkehr besteht. Dann ist das Ziehen ein wohliges und die Sehnsucht etwas Schönes. Manchmal bezieht sich die Sehnsucht auf ein ganzes Land und wurde durch viele große und kleine Begebenheiten geprägt. Mein Sehnsuchts Ort ist natürlich Italien. Das Land habe ich mir ausgesucht. Ein zweites Land wurde mir schon bei der Geburt mit auf den Weg gegeben. Schuld daran ist Fritz.

Fritz kenne ich mein Leben lang. Er war der beste Freund meines Vaters und fester Bestandteil meiner Kindheit. Fritz muss ein Mann gewesen sein, der wusste was er wollte.  Vielleicht auch nicht. Aber ganz sicher wusste er genau was er wollte, als er Anfang der Sechziger Jahre eine junge Griechin kennenlernte und sich in sie verliebte als sie in München zu Besuch war . Kurz nach dem Kennenlernen stieg Fritz nämlich ins Auto und fuhr nach Athen um die hübsche junge Frau….nein, nicht zu treffen. Da kennen Sie Fritz schlecht. Fritz fuhr nach Athen, um sie zu heirateten. Und er tat es. Er heiratete die wunderschöne Penelope und legte damit den Grundstein für die Deutsch-Griechische Freundschaft, die meine Kindheit geprägt hat. Und die Jugend meines Vaters gleich mit. Der fuhr 1967 das erste Mal mit Fritz und zwei weiteren nach Athen. Mit einem Ford 15 M wie ich mir eben sagen lies und glauben Sie mir, als ich ihn fragte, hörte ich in seiner Stimme, dass Griechenland nicht nur mein Sehnsuchtsort ist. Vielleicht ist es bei ihm auch das leichte Ziehen, wenn man an die eigene Jugend denkt und sich daran erinnert, wie man zu viert 1.500 Kilometer durch Europa fährt, ohne ein Wort griechisch zu können in einer fremden Familie landet, im Garten zeltet und nach weiteren 8 Stunden fahrt mit der Fähre auf einer Insel landet, die damals noch keiner in München kannte. Ich finde es klingt schön und habe gleich wieder ein Ziehen im Bauch.

Als ich 9 Jahre später die Bühne betrat, war Griechenland bereits ganz nah bei München und griechisches Stimmengewirr mir sehr vertraut. Wenn man erst einmal einen Sehnsuchtsort zugeteilt bekommt, dann kann man ihm nicht entrinnen. Griechenland war überall. In der Küche der Freunde meiner Eltern, wo Penelope kochte. Auf unserer Hütte, wo wir das griechische Osterfest mit gefühlt vier Duzend Griechen und ebenso vielen Deutschen feierten und nicht zuletzt durch den Freundeskreis meiner Eltern, der schon immer groß, stabil und herzlich offen war. Noch heute muss ich nur die Augen schließen und habe das Bild vor Augen, wie wir grillten. Höre die Männer singen und die Frauen schnattern. Athen und München scheinen gut zu passen. Aus der Nähe von Athen kam auch der Papa meines ältesten Freundes. Costa gehört ebenso zu meiner Kindheit wie Fritz und all die anderen. Auch Nenja, die an der griechischen Schulte unterrichtete, die im gleichen Haus wie meine Grundschule untergebracht war und wohl irgendwie mit Penelope verwand gewesen sein muss. Ich habe längst den Überblick verloren. Ich weiß heute nicht mehr, bei welchen Verwandten wir unsere Sommerurlaube verbracht haben. An welchem Strand wir ohne Zelt mehrere Tage gelebt haben und in welchem kleinen Ort der Bauer war, bei dem wir untergekommen sind. Deutsch sprach dort auf Milos damals niemand, aber ich konnte etwa 10 Worte die für eine Fünfjährige völlig ausreichten. Es waren die schönsten Ferien meines Lebens. Aber Griechenland auch ist noch heute an jeder Ecke.

Dann wenn mir mein ältester Freund plötzlich das Telefon in die Hand drückt und ich nach über zwanzig Jahren Costas Stimme höre und mich sofort wieder wie ein kleines Mädchen fühle. Oder wenn mir auf einer Beerdigung Männer und Frauen über die Wange streichen, die es schon als Kind taten und mir ihr leichter Akzent so vertraut wie mein eigener Dialekt vorkommen. Wenn auf der gleichen Beerdigung mitten in München ein griechisches Lied gespielt wird, das ich längst vergessen habe, das ich aber mein Leben lang erkennen werde. Und auch dann wenn ich in der Wohnung meiner Eltern einen schneeweißen Stein in der Hand alte und genau weiß, dass er von der Insel kommt auf der ich damals stundenlang im Wasser war, zwischen den Felsen kletterte und mich niemand suchte, weil ich mit einer Handvoll älterer Kinder unterwegs war. Die passten schon auf, dass ich nicht im Wasser unterging oder zwischen den Felsen hinfiel. Nur das Experiment, mir die Schwimmflügle um die Knöchel und nicht die Arme zu schnallen, wäre fast schief gegangen. Sonst hatten sie ein Auge auf mich und erzählten mir herrliche Schauergeschichten. Geschichten die Fritz auch auf der Hütte erzählte. Ihm ist es zu verdanken, dass ich den Schrank auf unserer Hütte bis heute nicht öffne, wenn ich alleine bin. So ist auch dieser Schrank in einer Hütte auf einem bayerischen Berg ein bisschen griechisch.

Mein Sehnsuchts Ort hat dieses Jahr ganz laut gerufen. Ich solle doch mal wieder vorbei schauen und die Erinnerungen auffrischen. Ich habe es getan und mich unfreiwillig an das alte Gefühl, der unendlich langen Anreise gehalten. Damals brauchten wir mit dem Auto und der Fähre fast drei Tage nach Griechenland. Letzte Woche schaffte ich es mit dem Flugzeug 27 Stunden zu brauchen. Das ist ein Kunststück von München aus. Fast hätte ich mich über die Anreise geärgert, aber dann fiel mir ein, wie das alte Lied hieß. Siga, siga. Übersetzt „Langsam, langsam“. Ich scheine mich diesem Sehnsuchtsort nur langsam nähern zu dürfen. Notfalls muss ich über Warschau anreisen. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

39 Gedanken zu “Sehnsuchts Orte

  1. Wunderbar solche Erinnerungen zu pflegen!!
    Ich verbinde mit Griechenland die Musik und den Tanz, Haris Alexiou (und nicht nur sie) hat mir schon viele schöne Tanzmomente mit ihrer Musik bereitet.Die Sprache klingt so innig emotional – allerfeinst! Keiner kann so sehnsuchtsvoll singen, wie die Griechen, glaube ich! 🙂
    Leider war ich nie dort.

    Liebe Grüße,
    Silbia

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    1. Die Musik trägt dich verlässlich über die Grenzen. 😚
      Schöne Erinnerungen entstehen sich so und wer weiß, vielleicht landest du noch in einer Taverne und hörst dort eines „deiner“ Lieder.

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  2. ❤ danke für diesen wunderschönen text. es ist lustig, in meinen geplanten blogbeiträgen für die nächsten wochen (ich glaube, sogar für nächste woche) liegt ein artikel zu ziemlich genau dem thema und bei mir ist es das "andere" land. auch wenn meine erinnerungen sich nicht in dem ausmaß abspielen, vor allem nicht im persönlichen, glaube ich, deine gefühle doch gut nachvollziehen zu können. danke, dass du uns dran teilhaben gelassen hast.

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    1. Ich freu mich auf deinen Text. Er wird sicher ein wenig Italien Sehnsucht hervor rufen. Und die genieße ich immer gerne. Vielleicht ist es der Sommer, der uns noch mehr an die südlichen Länder denken lässt. 😀
      Liebe Grüße

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  3. Wie schön, du bist zurück, liebe Mitzi! Lang schon habe ich dich vermisst. Das fiktive Blogland taugt vielleicht nicht als Sehnsuchtsort, kann zumindest nicht konkurrieren mit den reichen Erinnerungen, die du mit Griechenland verknüpfst. Aber hier hast du gefehlt, weil es dir immer wieder gelingt, der Welt Farbe zu geben. Und indem wir alle ja nur mit einem Bein im Digitalen herumtappen, das andere aber noch im realen Leben steht, machst du auch unser Leben bunter.
    Fühl dich digital gedrückt,
    Jules

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    1. Eine herzliche Umarmung für deine Worte, lieber Jules.
      Auch ich spüre wie die Grenzen manchmal verschwimmen und man nicht nur die Inhalte eines Blogs, sondern auch dessen Verfasser vermisst. Es ist sehr schön, mit so lieben Worten willkommen geheißen zu werden.

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  4. Beim Lesen Deines Berichts bekam ich sofort Gänsehaut. Ein Prickeln. Kein Ziehen im Bauch, eher ein wunderschönes, wohliges, wehmütiges Gefühl. Du beschreibst Deine Kindheit so wundervoll. Was für herrliche Erinnerungen, auf die Du zurück blicken kannst. Eine so schöne Herzlichkeit, Wärme, beim Lesen habe ich sie fast gespürt. Danke!

    PS: Sehnsuchtsort Italien. Wie schön. Ich komme gerade aus Rom wieder und der Bagelmann und ich sind so sehr verliebt, nicht nur in uns, sondern auch in diese Stadt. Sturzverliebt. Es war mein erster Besuch in Rom, komisch, dass ich, die ich so italophil bin, noch nie dagewesen bin. Aber kaum hatten meine Füße italienischen Boden berührt, bin ich sofort angekommen. Ich war wieder ein Stück zuhause. Zuhause des Herzens.

    Nachdem wir wieder in Hamburg gelandet sind, bin ich am nächsten Tag gleich zum italienischen Großhändler meines Vertrauens gefahren. Eindecken mit Lebensmitteln gegen die Fernsucht. Oder das Sehnweh.

    Genieße die Zeit, Du großartige Schreiberin. Jedes Wort welches Du bloggst hat so eine wunderschöne Tiefe und ist trotzdem leicht, wie ein Biscotto Tenerezze al Limone.

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    1. Ach wie schön das klingt. Sturzverliebt ist ein herrliches Wort. Es lag sicher nicht nur an Rom. Aber Rom ist schon etwas besonderes. Ich bin einmal die ganze Nacht durch diese Stadt gelaufen, weil wir uns damals kein Hotelzimmer leisten konnten. Seltsam, daran habe ich ewig nicht mehr gedacht.
      Lebensmittel sind ein schönes Trostpflaster. auch wenn sie nie ganz so schmecken wie vor Ort trösten sie doch sehr über das ganz akute Vermissen hinweg.
      Ich danke dir für das „großartige Schreiberin“. DAs freut mich sehr und ich kann das Kompliment nur freudig erwidern – auch du packst mich ganz oft mit deinen Texten und ich finde mich darin wieder.

      Herzliche Grüße

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