Wir müssen den Rest nicht auch noch zerschlagen, sagt der eine von euch beiden und blickt auf den Scherbenhaufen vor seinen Füßen. Klirrend wirft der andere ein weiteres Glas in Form eines Satzes durch den Raum und schüttelt Schulterzuckend den Kopf. Das wäre nun wirklich nicht mehr nötig, stimmt er zu und erhöht den Scherbenhaufen schon mit den nächsten Worten. Es wäre nicht mehr nötig, aber auch schon egal. Zwei stehen in meiner Küche, bewerfen sich mit Wortgläsern und kümmern sich nicht darum, dass es mein Boden ist, der sich in ein Meer aus Scherben verwandelt.
Ich muss da noch gehen und stehen, sage ich und deute auf die Trümmer. Es tut uns leid, erwidert der eine. Der andere nickt und entschuldigt sich dafür, das dünne Eis auf dem sie sich bewegen, ausgerechnet in meiner Küche ausgebreitet zu haben. Wir hätten wissen müssen, dass es nicht trägt, sagen beide und ich überlege ob ich nicht auch etwas zu zerbrechen hätte. Mir fällt ein, dass ich euch darauf aufmerksam machen könnte, dass ihr euch nicht auf dünnem Eis bewegt, sondern schon vor Wochen eingebrochen seit. Ihr merkt es nur nicht, weil ihr anstatt zu versinken, brusttief im eiskalten Wasser steht. Meine Worte erhöhen den Scherbenhaufen kaum und ich hole weiter aus. Wo doch gerade alles so schön zersplittert, könnte ich mitmachen, schlage ich vor. Macht ein bisschen Platz und ich springe mit Anlauf auf die letzten, noch nicht zersplitterten Reste. Sie werden schon brechen, wenn ich mir ein bisschen Mühe gebe. Ihr bittet mich, das zu lassen. Brusttief ist es nur für euch, meint ihr, mir würde das Scherbenmeer zu schnell über den Kopf wachsen. Ob ihr merkt, wie dumm das eben gesagte ist, wo doch ich die einzige von uns bin, die noch am Tisch sitz und nicht zwischen Splittern und Trümmern steht.
Wir dürfen den Rest nicht auch noch zerschlagen, wiederholst du und ich schüttle den Kopf. Dafür ist es zu spät. Jetzt muss alles zerschlagen werden. Jede einzelne Scherbe gehört zertrümmert. Auf jedem noch so kleinem Stück Glas muss herumgetrampelt werden. So lange bis es wieder zu Sand wird. Schöner, weicher Sand, an dem sich keiner mehr blutige Finger holt. Los, fordere ich euch auf und bitte darum, die Scherben in meiner Küche wenigstens ordentlich zu zertreten. Ich will es knirschen hören, wenn ich schon hier sitzen muss. Sand brennt wie Salz, wenn du es auf die falsche Stelle streust, sagst du und ich höre es leise klirren. Ein Anfang, ich bitte dich weiter zu machen. Sag doch etwas stärkeres. Wirf ein paar mächtige Glassätze auf die Küchenfliesen, damit alles schön zerspringt und nichts mehr übrig bleibt. Ich hasse dich, sagst du, lehnst dich an den Türrahmen und der hinter dir steigt für dich auf einige Scherben. Für dein deplatziertes Lachen, deinen widerliche Optimismus und die hässlichen, grünen Augen, höre ich dich flüstern. April, April, frage ich dich und du nickst. Natürlich, April, April. Ich liebe dich, dein deplatziertes Lachen, deinen widerlichen Optimismus und den braunen Fleck im rechten Auge.
Möchte noch jemand einen dummen Witz machen? Wenn ihr fertig seid, dann könnte ich ja noch. Ich könnte euch sagen dass ich mitkommen werde. Dass ich mich eurem Weg anschließen werden, einfach nur so, um zu sehen ob es sich im Glas schwimmen lässt. Ich sage es euch und nur eine lacht. Zwei blicken betreten auf dem Boden und hören auf das Knirschen und Krachen, das bei mir viel lauter ist. April April, fragst du tonlos. Ich nicke und es wird still. Natürlich springe ich nicht. Irgendwer muss den Sand ja auch wieder zusammenfegen. Da, ganz am Rand, sind die Scherben schon so klein, dass sie nicht mehr gefährlich sind. Ihr müsst nur noch ein paar Jahre darauf rumtrampeln, dann werden sie zu Sand. Ob ich ihn aufheben will, fragt ihr beide und ich zeige euch das kleine Fläschchen in das ich ihn füllen werde. Den deinen nach unten und den deinen darüber. Kein Unterschied sagt ihr und ich lache, weil ihr gar nicht wisst wie verschieden ihr seid. Der eine hinterlässt ein Trümmerfeld weil er muss und der andere, weil er nicht anders kann. Das ist ein großer Unterschied.
Was für poetische Bilder du wieder einmal gefunden hast – und die beiden letzten Sätze sind von der Art, bei der man gleich zustimmen möchte und sich dann doch fragt, ob man sie verstanden hat. Sehr schön!
LikeGefällt 2 Personen
ohne Worte…berührt mich!
LikeGefällt 1 Person
Ein großer Unterschied.
Ja.
Und doch, wahrscheinlich (mehr wahr oder mehr scheinlich?), kein sichtbarer Unterschied?
Ein Unterschied, der IST? Oder ein Unterschied, den man MACHT? Oder ein Unterschied, der nicht ist, was man daraus macht…?
LikeGefällt 3 Personen
Du verwirrst mich auf höchst angenehme Weise.
LikeGefällt 2 Personen
🙂
Nicht gezielt…aber auch nicht wirklich unbeabsichtigt… 😉
LikeGefällt 1 Person
… aus Glasscherbenzeiten wieder Sandstrandgefühl werden zu lassen, eine solche Hoffnung kannst nur du verbalisieren Mitzi…
LikeGefällt 2 Personen
❤
LikeGefällt 1 Person
🎈
LikeGefällt 1 Person
Schönes Symbol!
Sehr gewagt, so zu tun als ob! Das kann auch schon treffen, dann knirscht es weiter zwischen den Zähnen…Gut, wenn man sich zwischendrin wenigstens versichern kann, es ist nur ein April, April…
Beste Grüße,
Silbia
LikeGefällt 2 Personen
Und auch mit dem Sand muss man ja vorsichtig sein. Der knirscht auch zwischen den Zähnen.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
LikeLike
Sand mit DNA-Spuren.
LikeGefällt 1 Person
Beweisstücke
LikeLike
Ob nun Gläser zerdeppert werden, dünnes Eis bricht oder Porzellan zerschlagen wird, diese Metaphern zeigen an, dass Worte zerstören können, weshalb ich deinen Hinweis, dass du noch laufen musst, wo all die Scherben liegen, freundlich und lebensklug finde, wie man dich als Leser deiner Texte schon kennt, liebe Mizi. Sich in einen Streit einzumischen, kann alles noch verschlimmern. Ich ahne nicht, wie konkret die Geschichte hinter der poetischen Einkleidung ist. Ehrlich gesagt, habe ich nach Hinweisen darauf gesucht und wusste zunächst nicht, was hier zu kommentieren wäre. Ich hoffe, du kanst trotzdem etwas damit anfangen.
LikeGefällt 2 Personen
Für mich, spielte sich diese Situation, vor einigen Jahren genau so ab. Nur, dass ich damals nichts gesagt habe und den hilflosen Streit zweier Brüder still beobachtet habe. Es tat weh, sie so zu sehen, aber es war ihr Streit und ihre Hilflosigkeit. Nicht die meine. Insofern habe ich so gehandelt, wie du schreibst – ich habe mich nicht eingemischt.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern worum es ging, nur dass ich mir damals bei jedem Satz vorstellte, dass die Worte wie zerbrechendes Glas klingen. Am Ende dieses Abends war alles gut. Vielleicht gerade weil zuvor auch das letzte Glas zu Bruch ging.
LikeLike
Ich muss deinen Text ein bisschen auf mich wirken lassen. Starke Bilder hast du mal wieder mit deinen Worten gezeichnet und ich weiß noch nicht, ob ich zustimme, dass man Wortscherben wirklich zu Sand zertrampeln kann, so dass sie nicht mehr weh tun? Vielleicht ist es auch die Abnutzung durch die Gezeiten, die die Kanten der Scherben glatt schleifen und gar nicht so unser eigenes Zutun. Danke einmal mehr für den Gedankenimpuls, den ich so bestimmt nicht an diesem Frühlingsabend gehabt hätte. 🙂
LikeLike
Ein literarischer Genuss.
LikeGefällt 1 Person
Ich bin versucht zu sagen: „ach was, literarisch..ich?!“ Aber ich bin still, freue mich und sage: „Danke!“
LikeGefällt 1 Person
😉
LikeLike