Trampeltier – mittelalt

Ich bin eine mittelalte Frau. Wenn Sie meine Erzählungen und mich schon etwas länger verfolgen und über rudimentäre Kenntnisse der Mathematik verfügen, dann können Sie sich in etwa vorstellen, wie alt ich bin. Nicht alt, aber mit etwas Realismus betrachtet, in der zweiten Lebenshälfte. Das ist okay. Die Alternative wäre, dass ich nicht mehr am Leben bin und das käme mir doch recht ungelegen. Ich hänge nämlich sehr am Leben. Auch an meinem mittelalter Leben. Nur eine Sache, die geht mir wahnsinnig auf die Nerven. Mein mittelalter Körper neigt seit einiger Zeit dazu unkontrolliert zuverfetten. Seine Neigung in kürzester Zeit Fettpölsterchen (alleine schon das Wort…) an den denkbar ungeeigneten Stellen anzulegen, nehme ich meinem Körper wirklich übel. Es ist ja nicht so dass ich kurz nach dem vierzigsten Geburtstag angefangen habe, doppelt so viel zu essen. Ganz im Gegenteil. Ich esse wesentlich kontrollierter (trotzdem natürlich Genuss orientiert, Sie kennen mich) und gesünder. Trotzdem hat mein Körper sich entschieden mir jegliche, minimal über die strenge schlagenden, Exzesse nachzutragen. Das hat er auch früher. Aber da hab ich mich danach drei Tage am Riemen gerissen und hatte danach wieder das auf der Waage, was auch vorher dort stand. Das hat sich im übrigen auch jetzt gar nicht mal so wesentlich geändert, aber diese mir vertrauten Kilos sehen seit einigen Jahren anders aus. Nicht besser, wenn Sie wissen was ich meine. Und kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass ich froh sein soll, dass mich mein Körper gesund ist und mich stabil durchs Leben trägt. Das haben er und ich schon lange ausgehandelt: Ich kümmere mich um ihn und dafür funktioniert er. Nur die Verteilung dieser minimalen kleinen Fettpölsterchen ist eine Unverschämtheit. Weil ich schlau genug bin zu wissen, dass Hungern und Diäten kompletter Schwachsinn sind, haben mein Körper und ich (in erster Linie ich, also der Teil mit dem Verstand) beschlossen, dass wir uns wohl oder übel etwas mehr bewegen müssen. Wir haben jetzt ein paar Monate Diskussionen hinter uns und haben erkannt, dass für unsere Zwecke Yoga und ausgedehnte Spaziergänge alleine nicht mehr ausreichen. Angesichts des nahenden Sommers werden seit einigen Wochen härtere Geschütze aufgefahren.

In diesem Zusammenhang ist es mir übrigens sehr wichtig, zu betonen, dass es nicht darum geht, seinen Körper zu quälen, indem man ihm die Nahrung verweigert, sondern ganz im Gegenteil, mit ihm Freundschaft zu schließen und ihn davon zu überzeugen, dass manche Dinge, die immer möglich waren doch bitte auch weiterhin machbar sein sollen. Zum Beispiel mit gestreckten Beinen die Handflächen auf den Boden legen zu können. Das konnte ich immer, bis es von einem Tag auf den anderen nicht mehr ging und eine Fünfjährige mir bewies, dass sie das besser als ich kann. Eine Tatsache, die absolut indiskutabel ist. Ich bin erst mittelalt, also sollte das doch noch machbar sein. Der Spagat muss ja nicht mehr sein, aber man sollte zumindest aus dem Schneidersitz aufstehen können, ohne sich dabei abzustützen. Gut, ich habe das nicht mehr probiert, seit ich 20 Jahre alt bin, aber ich denke, dass ich das noch können sollte ohne wie ein Mops auf den Hintern zu rollen.

Sie sehen also, dass ich momentan recht beschäftigt bin. Jeder der mich näher kennt, weiß das und gibt mir und meinen Körper etwas Zeit für die Beziehungpflege. Meine Freunde sind schlau genug, mich derzeit nicht zu fragen, ob ich mit ihnen Essen gehe. Gerne im Sommer wieder, wenn das mit dem Schneidersitz wieder klappt. Aber bis dahin möchte ich es meinem Körper nicht zumuten, mich nach einem opulenten Essen nach oben wuchten zu müssen. Und das würde ich, denn seit einigen Wochen mache ich morgens und abends Sport. Jeden Tag. Ausnahmslos. Macht Spaß. Ehrlich! Die ersten drei Wochen hätte ich meine virtuelle YouTube Cardio-, Aerobic- und Bauch-Beine-Potrainerin an die Wand klatschen können, aber mittlerweile habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu ihr. Ich lasse mich Abend für Abend dazu motivieren, Seilzuspringen, einen Medizinball zu balancieren (lohnenswerte Anschaffung) und auf einem Bein quer durch das Wohnzimmer zu springen. Ich gebe alles und das mit Freude. Nur kostet es Zeit. So viel Zeit, dass ich meine Nachbarn gestern Abend abgesagt habe und nicht mit ihnen in die Kneipe unter mir zum Essen gehe. Erstens, weil ich noch ein Date mit der YouTube Cardio Tante hatte und zweitens, weil ich nicht verstand, was sie da unten überhaupt wollten. Seit mehreren Wochen höre ich mir im Treppenhaus von den Nachbarn über und unter mir ständig an, dass es in der Kneipe unglaublich laut und der Wirt reichlich rücksichtslos ist. Meine Nachbarn sind zum Großteil jetzt auch mittelalt. Keine Ahnung ob sie altersbedingt auch verfetten, aber sie werden immer nörgeliger. Bis vor ein paar Jahren waren es die Fußballfans in der Kneipe über die sie sich beschwerten, dann die schrecklich laute Musik. Jetzt passt ihnen das Scheppern und Stühlerücken anscheinend nicht. Ich selbst hab ehrlich gesagt noch nichts davon gemerkt, habe aber auch kein Verlangen danach, dort unten essen zu gehen, um dem Geplolter auf die Schliche zu kommen.

Um es kurz zu machen – der Wirt ist unschuldig. Als meine Nachbarn beim Essen saßen, ging es wieder los und es war eindeutig, dass den Wirt und seiner Belegschaft keine Schuld trifft. Irgendein Vollidiot im Vorderhaus, vermutlich im zweiten Stock, scheint der Ursprung der Geräuschkulisse zu sein. Ich war´s nicht. Ganz klar, mein mittelalter Körper ist schuld. Er scheint das sanfte Abrollen bei den Ausfallschritt nicht ganz auf die Reihe zu bekommen und ihm fehlen (noch) die nötigen Bauchmuskeln, um den Medizinball sanft von einer Seite auf die andere zu legen. Stattdessen knallt er ihn mit voller Wucht auf den Boden, weil er ihm ein ums andere Mal durch die Finger rutscht. Geräuscharmes Seilspringen liegt ihm auch nicht. Oder, um mit meinem Nachbarn Paul zu sprechen, es ist erstaunlich, wie eizelner Mensch so laut trampeln kann. Laut Paul ist nicht nur mein mittelalter Körper schuld. Er zweifelte auch an meinem Verstand, als ich ihm mit einem Springseil in der Hand die Tür öffnete.

18 Gedanken zu “Trampeltier – mittelalt

  1. Hm, ob Paul wohl noch lebt? Oder mit einem Springseil um den Hals in dem Loch liegt, das du ja vermutlich inzwischen in den Boden geturnt hast?

    Meine Bewunderung ist dir sicher! Ich feiere mich schon, wenn ich das Wasserglas nicht mit dem Sandwich zusammen ins Wohnzimmer transportiere, einfach weil ich dann zwei Mal in die Küche gehen muss. Jep, so sportlich bin ich.

    Ich wünsche dir weiterhin viel Freude an deinem Bewegungsprogramm und deinen nörgeligen Nachbar:innen oben und unten hoffentlich anhaltende selige Unwissenheit.

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    1. Wasserglas UND Sandwich ist die perfekte Übung fürs Gleichgewicht. Oder beim doppelt gehen…da sehe ich echtes Engagement!

      Im Erst…ich bin die Letzte, die als gutes Vorbild dient. 😉

      Paul geht es übrigens gut. Er hat schnell genug den Rückzug angetreten.

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      1. Ja, engagiert bin ich – heute habe ich das Laptop schon drei Mal vom Schreibtisch zum Sofa getragen! Und wer weiss, womöglich tue ich es noch ein, zwei Mal… 😁

        Dass Paul gut davonrennen kann, wenn er einer mit Springseil und Medizinball bewaffneten Nachbarin gegenübersteht, glaube ich sofort. Doch bestimmt ist es eine Fehlinterpretation meinerseits, dass man dich sogar im Hinterhaus turnen hört. Und sogar wenn: Tante Wiki sagt, freilebende Trampeltiere sind eine hochgradig bedrohte Art, also ist es doch sehr lobenswert, wenn du eins davon besonders gut pflegst.

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      2. Mein inneres Trampeltier wird weiterhin gehegt und gepflegt. Dass es irgendwann zu einer Gazelle wird, ist glaube ich ausgeschlossen. Und leider fürchte ich, dass ich auf Paul nicht wirklich bedrohlich gewirkt habe. Verschwitzt und mit hochroten Kopf hätte ich den Medizinball nicht mal auf Kniehöhe hochkommen 😂

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  2. Eine in vieler Hinsicht gute Entscheidung. Nur macht jetzt in der Mitte des Hauses eine in der Mitte des Lebens (und, das hatten wir schon, Karriere) stehende Frau ein wenig Radau. Gut, gut, man sagt, Frauen würden noch zu wenig auf sich aufmerksam machen, zu wenig Lärm machen. Ich weiß nicht, ob das so stimmt und ob das, wenn, nicht gut so wäre. Es gibt schon viel zu viel Lärm!

    Jetzt kann man auch nicht verlangen, einen rundum schallgeschützten Raum (der polternde Geräte, umfallende Turnerinnen, anfallende Flüche schluckt) in einen Altbau zu integrieren. Da ist also guter Rat teuer. Sportstudio?

    Ach, ich mag’s doch auch nicht! Freilich gehe ich seit gut drei Jahren – der Rücken! – in so einen Geräteraum. Allerdings klein, überschaubar, meist wenig besucht, es ist die dörfliche Physiotherapiepraxis, das kann man also sicher nicht als Sportstudio bezeichnen. Aber was ich sagen will: doch, ja, es hat was gebracht! Natürlich wird der Rücken und der Rest nicht mehr, wie er mal war. Und über 40 wäre für mich doch sehr beschönigend, so jung samma scho lang nimma. Aber ohne jetzt auszusehen wie Apoll oder Artemis, was vielleicht auch gar nicht mehr ein Ziel sein sollte, bin ich einigermaßen zufrieden mit Aussehen und verbliebener Fitness. Schnauf ich beim Treppensteigen? Kann sein. Aber trotzdem laufe ich grundsätzlich jede hoch, mal langsamer, mal etwas schneller. Und das ist doch schon mal was!

    Ich empfehle also (zusätzlich) die Suche nach einem einigermaßen überschaubaren, nicht von Bobybuildern und schlimmerem, etwa Fancs – Glamour – Glitzer – Selbstdarstellerinnen heimgesuchten Laden.

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    1. Einigermaßen Zufrieden mit Fitness und Aussehen….das ist doch eigentlich schon richtig was wert. Klar, unsere 25 jährigen Körper die waren wahrscheinlich knackiger und fitter, aber die heutigen nehmen wir halt wie sie sind.
      Also doch Fitness Studio…ich hadere mit mir. Vielleicht übe ich vorher noch das sanfte Abrollen. Und das Seilspringen könnte ich in den Keller verlagern. Freilich, wenn mich da einer erwischt, dann halten sie mich für völlig bekloppt. Andererseits wäre auch das nichts neues für die Nachbarschaft.

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      1. Ach ja, ich ging auch ungern hin. Vor allem, da ich die erste Zeit für den (lächerlichen) Weg vor ins Dorf an Stöcken ging! Und keinen falschen Tritt tun durfte, sonst fuhr es mir durch und durch. Das ist, immerhin, anders geworden!

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      2. Greislig wars. Und manchmal holt es mich noch ein. Das heißt, dass insbesonder nach längerem Sitzen/Liegen irgendwo irgendwas wehtut ist normal, aber meist erträglich. Aber diese durch und durch gehenden Schmerzattacken, die einen stoppen wie ein veritabler Hexenschuß, die brauch ich echt nicht!

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      3. Zahn? Ja. Gibts auch. Da ist aber das Rummachen fast so schlimmer wie das andere… Wenn Du liegst und der Arzt ohne mit der Wimper zu zucken so Opiatzeug aufschreibt weißt Du Bescheid. (Die meiste Zeit hab ich mich geweigert, das zu nehmen. Aber wenn – ich lag da im Krankenhaus – hui! Das ist schon lustig. Mit einem Mal ist alles nicht mehr schlimm.
        Man kann schon verstehen…

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