Es wird

Über die Macht der Rhetorik in der Antike hätte sie gerne etwas geschrieben, sagt sie und wirft ein Beispiel zwischen die alten Grabsteine des alten Münchner Nordfriedhofes, durch den wir im Sonnenlicht des Nachmittags schlendern. Gerade noch waren wir woanders. In der U-Bahn und bei einem anderen Thema und schon sind wir es wieder. Der Moment über ihr Beispiel nachzudenken ist verstrichen und ich lächle nickend über den nächsten Gedanken, der zwischen den alten Bäumen aufblitzt und ihrem wachen Verstand entspringt. Ein Verstand der nicht stillsteht und Gedanken so schnell und sprunghaft in den Raum ihres Geistes wirft, das wohl nur ein Bruchteil den Weg über ihre Lippen findet. Sie plappert und plaudert und doch hört man, dass fast alles was sie sagt, schon einmal an-, be- oder durchdacht wurde. Ihr Verstand ist flinker als der meine und ich spüre, dass sie im Begriff ist mich zu überholen. Bei ihr trete ich gerne zurück. Bin still, damit ihren Gedanken mehr Raum bleibt. Gedanken, von denen mir die meisten noch vertraut sind, manche aber bereits vergessen waren und jetzt wieder durch ihren hübschen Mund geformt und ausgesprochen werden. Fasziniert werfe ich ihr ein Stichwort zu und lache als sie es stirnrunzelnd aufschnappt, kurz darauf kaut und es dann in ganz neuem Gewand ausspuckt. Es war zu einfach. Für geworfene Stichworte ist er zu schlau, der Verstand, und das Zuhören zu schön. Längst sind wir auf Augenhöhe und werden es jetzt die nächsten Jahre bleiben. Ihr Geist ist wacher und flinker, der meine ruhiger und erfahrener. Heute morgen wünschte ich mir im Lotto zu gewinnen. Viel lieber aber möchte ich, dass sie weiter anruft, wenn sie in der Stadt ist und mir von der Macht der Rhetorik in der Antike erzählt. Oder von Platon. Von gestern Abend und von letzter Woche. Von Seneca. Vom Hund und der Katze und von allem was ihr durch den Kopf schießt. Weniges ist faszinierender als eine Neunzehnjährige, die gestern noch ein kleines Mädchen war. Weiterlesen

Friederike vs Bergwald

Man sagt, dass bei uns in Bayern die Uhren anders ticken. Das ist natürlich Blödsinn. Hier, kurz nach München, ist es jetzt genauso spät wie in Hannover oder Wien. Trotzdem legen wir Bayern sehr viel Wert auf Individualismus. Besonders wir Münchner, die wir den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Während gestern Deutschlandweit grosse Teile des Schienenverkehrs dank des Sturmweibs Friederike lahm gelegt waren, kamen wir – ordentlich durchgeschüttelt und mit verwehtem Haar, aber sonst unbeschadet – fast störungsfrei durch den Tag. Wenn aber die halbe Nation ächzt und schimpft, dann wollen wir das auch. Verspätet nehmen nun auch wir, die Münchner S-Bahn-Fahrgäste, am Chaos teil. Nicht alle. Eigentlich nur die Fahrgäste der S7. Das man gerade uns ausgewählt hat, verwundert nicht. Von allen Linien sind wir mit Abstand die erprobtesten, wenn es sich um Störungen und Verspätungen handelt. Wir, die S7 und ihre Fahrgäste bewegen uns auf unserer Strecke nämlich noch überwiegend eingleisig und sind damit extrem anfällig für Störungen jeder Art. Wir lächeln nur müde, wenn die Bahnen im Herbst regelmäßig im gesamten Streckennetz ausfallen, weil feuchtes Laub auf den Schienen liegt. Kein Nutzer der S7 fragt sich, ob man die Bremsleistung der neuen Bahnen nicht vielleicht doch so hätte konstruieren können, dass sie mit dem in Deutschland doch ab und zu fallenden Laub fertig werden. Auch wundern wir uns nicht über Schneefall bedingte Verspätungen im Winter. Mit reichlich Flocken kann man in Bayern schließlich nicht rechen und bei uns an der S7 kommt es darauf eh schon nicht mehr an. Wir sind nämlich die mit Abstand schwierigste Strecke. Die schönste und die schwierigste. Weiterlesen

Leerer Platz – U-Bahn Gedanken

Fast jeden Freitag sehe ich das alte Ehepaar in der Bahn sitzen. Wenn ich nach Hause fahre, machen sie sich auf den Weg in die Stadt. Einholen gehen sie. Das weiß ich, weil er es immer murmelt, wenn er sich etwas schwerfällig in den Sitz am Fenster fallen lässt. Seine Schwerfälligkeit ist dem Alter geschuldet und scheint ihn selbst zu überraschen. Jedes Mal sortiert er schmunzelnd seine Arme und Beine, klemmt den Gehstock umständlich zwischen Sitz und Abfallkasten und atmet dann einmal tief durch, bevor er auf das Polster neben sich klopft und seiner Frau die Hand reicht, damit auch sie sich setzen kann ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Sie sind ein eingespieltes Team. Beide sicher in ihren Neunzigern und doch noch immer mit hellwachem Blick. Ich freue mich, wenn ich sie sehe. Mag ihre leisen, angenehmen Stimmen und höre ihnen gerne ein paar Stationen lang zu. Fast immer ist die Innenstadt ihr Ziel. Auch wenn der Weg aus einem Münchner Vorort längst beschwerlich geworden ist, fahren sie jeden Freitag mitten in die Menschenmassen um dort ihre Besorgungen zu erledigen. Draußen vor der Stadt scheint es ihnen manchmal zu still und zu ruhig zu werden. Weiterlesen

Ein Rätsel U-Bahn Gedanken

Ich komme gerade vom Kurs. Gewaltfreie Kommunikation. Sagt die, die mir beim Hinsetzen ihren Rucksack ins Gesicht rammt.  

Da lernt man Rücksicht, berichtet sie in ihr Handy. Gegenüber anderen und gegen sich selbst. Vor allem letzteres vermute ich, weil sie sich schräg auf den Sitz fallen lässt, ohne den schweren Rucksack abzunehmen. Zwei Drittel der Sitzbank nimmt sie ein und presst ihr knochiges Knie gegen meinen Oberschenkel.

Ich rutsche ein Stück, weil ich Berührungen von Fremden nicht mag und überlasse ihr drei Viertel der Bank. Dankbar und ohne jede Rücksicht, beansprucht sie den gewonnen Platz und referiert telefonierend über die fehlende Rücksicht in Großstädten. Weiterlesen

Jetz´samma beinand! U-Bahn Gedanken

Ich entschuldige mich gleich am Anfang bei Ihnen. Nicht für diesen Text. Der könnte noch etwas werden. Nein, für die grausame Einleitung, mit dem Lamenti, dass früher alles besser war.

Früher war es besser.

War es aber wirklich. Jedenfalls die Kampagnen der Münchner Verkehrsbetriebe. Die aus meiner Kindheit kann ich noch heute auswendig zitieren. Zum Beispiel: „Aus dem Walkman tönt es grell, dem Nachbarn juckts im Trommelfell“. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass mir dieser Satz auf den Lippen liegt obwohl es seit bestimmt zwanzig Jahren keine Walkmänner mehr gibt. Vor Augen habe ich dann die herrliche Zeichnung von Ernst Hürlimann, die jeder Münchner kennt. Aus der Abendzeitung wo sein Blasius allgegenwertig war, aus den Büchern Sigi Sommers oder eben aus den Kampagnen der Münchener Verkehrsbetriebe gegen den Krach aus Kopfhörern oder den damals noch nicht verbannten Rauchern auf den Bahnsteigen. Auch die Kampagnen in den Jahren danach waren ganz in Ordnung. Nicht mehr so charmant wie die Karikaturen aber doch noch ganz ok. Ich erinnere mich an die Plakate, auf denen die Fahrgäste Hand in Hand brav in Zweierreihen wartete, um geordnet einzusteigen. Oder das Bild eines Bahnsteiges der übersäht mit Schuhen war, da man diese vor dem Betreten – ganz wie zu Hause – auszieht. Freilich  hatte das auch schon nicht mehr viel mit München zu tun. Aber wenigstens die Texte hatten in ihrem Hochdeutsch einen Hauch von München. Stand da „Sauber!“ dann war nicht nur die Abwesenheit von Schmutz gemeint, sondern auch ein Ausruf, der in Bayern gleichbedeutend mit „Sehr gut!“ ist. Da warf man seinen Müll doch gleich viel lieber in die entsprechenden Tonnen. Weiterlesen

Ehrlicher Neid – U-Bahn Gedanken

Es heißt, Neid vergiftet Gemeinschaften, spaltet Freundschaften und zerstört die persönliche Zufriedenheit. Unter anderem definiert sich Neid, als das schlechte Gefühl,  das man hat, wenn andere etwas haben, das man selbst gerne hätte, aber nicht hat. Sagt Wikipedia, das häufig recht hat. Weil schlechte Gefühle, die auf dem Glück oder dem Besitz anderer beruhen, nicht mehr zeitgemäß sind, findet man auch kaum jemanden, der offen zugibt, neidisch zu sein. Ich schon. Ich finde es nämlich albern zu behaupten, dass man nicht neidisch ist, während man seufzend und zähneknirschend genau das ist. Weiterlesen

Geschenkt – U-Bahn Gedanken

Können Sie sich noch an Anna erinnern? Anna, die ich nie gesehen habe, deren Freund aber regelmäßig mit mir in der S-Bahn fährt. Die Anna, zu der vor einigen Monaten der Satz „Ich dich nicht“ gesagt wurde? Es geht ihr gut. Anna. Zumindest glaube ich, dass es ihr gut geht. Das Rauschen ihrer Stimme klingt fröhlich. Ich verstehe nicht was sie sagt, weil ich neben ihrem Freund sitze und ihre Worte durch sein Handy nicht zu erkennen sind. Aber ich höre, das die Wellen des gesagten fröhlich klingen. Es freut mich, denn ich sorgte mich um sie. Ob das „ich dich nicht“ das Gegenstück zu einem „ich dich auch“ war, werde ich nicht erfahren und möchte lieber nicht spekulieren. Lieber freue ich mich über Annas aufgeregte Stimme. Weiterlesen

Ein Ziel braucht es. U-Bahn Gedanken

München mag ein Dorf sein, aber für Einsame kann es der gleiche grausame Ort sein, wie jede andere Grossstadt auch. Einsame sollten sich möglichst in der Einsamkeit vergraben. Da fällt es ihnen weniger auf, dass kein anderer da ist. In mitten der tiefsten Einsamkeit lässt es sich gut behaupten, dass ein jeder an so einem Ort mit sich selbst zurecht kommen müsste. Meister der Einsamkeit, können die ungewollte Stille, dann zu etwas Schönem erhöhen und sind nach einer Weile nicht mehr einsam sondern in eine angenehme Stille gebettet, in der sie niemand stört. In einer Stadt ist das fast unmöglich. Da steht und geht an jeder Ecke einer mit dem man gleich nicht mehr einsam sondern zweisam wäre. Der, der da geht, weiß das aber nicht und lässt einen vorbei eilend alleine und einsamer als zuvor stehen.  Weiterlesen

Nicht nichts

Heute mache ich nichts. Darin bin ich gut. Ich bin die Meisterin im Nichtstun. Hier reicht mir keiner so leicht das Wasser. Es ist nämlich gar nicht so leicht, nichts zu tun und sich dabei nicht zu langweilen oder sich zu fragen ob niemand etwas mit einem machen möchte. Wer nichts tun kann oder nichts tun darf, kann das Nichtstun nicht genießen. Und wer nichts tun möchte, der muss das Nichts vehement verteidigen. Regen und ein Temperatursturz sind dabei unglaublich hilfreich. Weiterlesen

Ach, Anna…. U-Bahn Gedanken

Wir sind Gewohnheitstiere, die ihre Rituale selbst dann pflegen, wenn sie diese nicht einmal als solche erkennen. Anders ist es nicht zu erklären, dass die tägliche Fahrt zur Arbeit und zurück, einem wiederkehrenden Eintauchen in einen in sich geschlossenen Mikrokosmos gleicht. Tag für Tag sitzen mir die gleichen Menschen gegenüber und obwohl ich mit keinem von ihnen spreche, sind sie mir alle vertraut. Nur ein kleiner Teil von ihnen sitzt wirklich jeden Tag am selben Platz, aber der Verstand neigt dazu, die fremden Gesichter auszublenden. Ich bin die, die morgens immer in der siebten Tür von vorne einsteigt, mit etwas zu lauten Absätzen ein bis zwei Türen nach vorne läuft, bevor sie sich ans Fenster setzt. Weiterlesen