Fast hätte ich sie nicht erkannt, die abgespannt aussehende Frau, die sich im übervollen Bus zwischen Kinderwagen und Rucksäcken an eines der Fenster presst. Länger als höflich sehe ich sie an, weil sie mir bekannt vorkommt. Ihr Gesicht gleicht dem meinem, das sich müde in der regennassen Scheibe spiegelt. Erst als sie meinen Blick erwidert, erkenne ich ihn ihren Zügen, das 13-jährige Mädchen, das ich einmal gut kannte. Trotzdem hätte ich sie fast nicht angesprochen. Zwischen dem Mädchen, das zu erkenne ich glaube und der Frau am Fenster, liegt ein ganzes Leben. Eher zwei Leben, denn auch ich habe mich verändert und sie braucht einen Moment bis sie mich einordnen kann. Dann lächelt sie und kämpf sich durch die Menschen im schmalen Gang zwischen den Türen.
Die Wahrscheinlichkeit dass wir uns kurz unterhalten und danach wahrscheinlich für immer aus den Augen verloren hätten, war recht hoch. Dass man bei einer solchen Begegnung spontan zwei feststehende Termine absagt und sich für eine Stunde in ein Café mitten in der Stadt setzt, ist nicht selbstverständlich. Weil man keine Zeit hat, weil wir als Erwachsene doch eigentlich nie spontan Zeit haben oder besser, sie uns nicht nehmen. Vielleicht saßen wir nur in diesem Café, weil die Teenager, die wir einmal waren, noch immer irgendwo in uns sind und angesichts der Aussage, keine Zeit zu haben, die Augen verdrehten. Sie und ich kennen uns aus Jahren, in denen wir nicht viel hatten, aber eines im Überfluss: Zeit. Wir laufen durch den Regen, trinken einen schnellen Kaffee, reden über nichts, weil man sich nach Jahrzehnten spontan nichts zu erzählen hat und finden gefallen an diesem belanglosen Nichts, das im Gleichklang mit dem Regen tröpfelt. Wir trennen uns und treffen uns direkt am Abend wieder. Nach 25 Jahren Funkstille, Corona und ein klein bisschen Lebenserfahrung ahnen wir, dass man Zufallsbegegnungen nutzen muss und überhaupt viel weniger auf die lange Bank schieben sollte. Und dann sitzen wir da. Zwischen uns ein Gedankenkarton mit den Sachen die wir aus unserer gemeinsamen Schulzeit aufgehoben haben und noch immer mit uns rumschleppen.
Die Gesichter auf dem Klassenfoto, das wir im Internet finden, wirken vertraut. Von jedem Mädchen kenne ich den Namen und bin mir sicher, dass die meisten längst einen anderen Namen angenommen haben. Vielleicht sind sie aber auch schon wieder zu ihrem Mädchennamen zurück gekehrt. Nur zu wenigen habe ich noch Kontakt und von kaum einer kann ich behaupten mit ihr befreundet zu sein. Auch sie, die mir gegenüber sitzt nicht. Seltsam, dass uns die Gesichter dennoch so vertraut erscheinen. Manchmal, erzähle ich ihr, frage ich mich, wenn mir die alten Bilder in die Hand fallen, wie es sich anfühlen würde, wenn man uns heute alle wieder in das kleine Kloster stecken würde, auf dem wir die erste Nacht der Klassenfahrt verbracht haben. Wäre ich noch immer die, die sich nach Mitternacht nicht auf die Toilette traute, weil ihr die langen, stockdunkeln Gänge Angst machten. Und wäre die, die damals schon die Mutigste war es noch immer und würde auch heute noch, nachts heimlich am Fenster rauchen? Sie lacht und ich nicke – klar, sie war die mutigste von allen. Wir stellen fest, dass ich wohl noch immer Schiß hätte und sie sich rauchend aus dem Fenster lehnen würde. Wir fragen uns was aus den anderen geworden ist. Wie würden wir heute auf die unangebrachten und sexistischen Sprüche unseres Lehrers reagieren? Lachen wie damals oder ihn zurechtweisen, weil wir viel zu oft erlebt haben, dass es als Frau manchmal eher zum Heulen als zum Lachen ist, wenn einem so etwas um die Ohren gehauen wird. Und was wurde aus unseren Träumen? Fragen über Fragen. Der einen oder anderen würde ich sie gerne stellen. Am liebsten einer, die nicht mehr antworten kann. Auch sie und kurz schauen wir einfach nur in den Regen, den eine aus unserer Klasse schon so lange nicht mehr sieht.
Auf sie trinken wir an diesem Abend ein Glas Wein. Und eines auf unsere alten Träume, die verblassten und deren Erfüllung vielleicht gar nicht so gut gewesen wäre. Bei einem Wasser erzählen wir uns noch von unserem doofen Montag. Von den letzten dreißig Jahren vielleicht ein anderes Mal. Wir haben Nummern ausgetauscht.
Ach, liebe Mitzi, das ist wieder eine gelungene kleine Erzählung. Klein nicht im Sinne von banal, sondern niedlich. Eine freundliche Geschichte wie eine Tasse heisse Schokolade an einem trüben, kühlen Tag. Ich wünsche euch noch viele weitere schöne Heisse-Schokolade-Momente.
Vor Jahren habe ich mal eine alte Schulfreundin im Zug getroffen; sie hat mich wiedererkannt, ich sie nicht, weil ich sie mit ausgebleichter Dauerwelle in Erinnerung hatte. Sie meinte, sie hätte nie niemals nicht helle oder gewellte Haare gehabt. Daheim hab ich also ein altes Foto ausgegraben und, äh, doch. Fand ich frappierend, woran wir uns erinnern und woran überhaupt nicht. Wir waren nämlich auch noch was trinken und alle übrigen Erinnerungen stimmten überein… 😁
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Oh das klingt aber schön – wie eine Tasse heisse Schokolade. Das passt auch gut zu so einem verregneten, kalten Frühlingstag 🙂
Die verschiedenen Erinnerungen sind wirklich interessant. Wir hatten auch einige Punkte an die wir uns ganz unterschiedlich erinnerten. Meistens bei Details. Ich vermute, weil jeder Mensch auf unterschiedliche Details achtet. 🙂
Viele Grüße
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Ja, das, und auch unterschiedlich wertet und noch unbewusst modifiziert. Faszinierendes Teil, dieses Gehirn!
Meins allerdings ist jetzt müde und imaginiert bloss noch Heissgetränke. 😉
Liebe Grüsse nach München
Eva
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Besser hätte es doch nicht ausgehen können – Nummer austauschen KANN, aber MUSS keine Verpflichtung sein.
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Genau so, Clara.
Es war wunderbar locker und so, dass wir beide Lust hatten das irgendwann zu wiederholen ohne uns verpflichtet zu fühlen. Liebe Grüße
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hach schön… wenn die verbundenheit bleibt, das ist schon etwas besonderes.
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Finde ich auch. Ich glaube, dass die ganz frühen Freundschaften so besonders starken Verbindungen führen. Auch wenn man sie als Erwachsene nicht mehr empfindet, war man gemeinsam Kind. Vielleicht ist das etwas besonderes.
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das ist es ganz bestimmt
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Es zeichnet dich aus, dass aus dieser Wiederbegegnung etwas wird, liebe Mitzi. Ein neues Miteinander und eine hübsche Erzählung. Ich kenne das Gegenteil, dass man sich nach langen Jahren wieder sieht, aber keine Seite ergreift die Gelegenheit, sondern man drückt sich drumrum.
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Auch das kenne ich, lieber Jules. Bei einem Klassentreffen der höheren Schule vor vielen Jahren, hatte ich das Gefühl, dass sich keiner mehr wirklich etwas zu sagen hatte und auch kein Interesse da war. Die Regel Begegnung war Glück. Liebe Grüße
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merkwürdig: hatte einen Kommentar geschrieben
und nu isser verschwunden – ärgerlich… 🙄
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Sehr ärgerlich. Im Spam ist nichts… Liebe Grüße
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WordPress halt… 🙄
In letzter Zeit hakt es
wieder an allen Ecken
und Enden…
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Danke, ich liebe solche Begegnung und Geschichten. Es ist immer spannend und faszinierend zu sehen, was sich verändert hat und was nicht, beim anderen und bei sich selbst, letzteres wahrgenommen aus der Erinnerung und dem Blick des anderen. Dabei sind gerade auch Begegnungen mit Menschen spannend, mit denen man damals nicht unbedingt eng befreundet war und viel ausgetauscht hatte. Da können sich ganz neue Perspektiven eröffnen 😅
Und es ist immer auch eine Inspiration zum Schreiben eigener Geschichten.
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Ich mag solche Begegnungen auch. Im ersten Moment weiß man nicht, wie sie sich entwickeln. Es ist Glückssache. Allein schon, ob man sich darauf ein lässt, oder es bei einem kurzen Hallo belässt. Und du hast völlig recht, man kann darüber schreiben. 😉
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Das gefälligste Wort für mich ist „Gedankenkarton“, ansonsten mag ich die ganze Geschichte. Außerdem fiel mir ein, dass ich irgendwo las, dass ein alter Lehrer mit seiner Klasse von vor 25 Jahren auf Rememberklassenfahrt ging, auch eine schöne Idee!
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Den Schluß fand ich nicht so schön, auch wenn ich weiß, was es heißen soll: wir haben Nummern ausgetascht. Man wird dies zukünftigen Generationen, die Nummern statt Namen tragen (unveränderliche Steuer – ID, wird nur einmal vergeben…) erklären müssen, auch, was ein Telefon ist, versteht sich. –
Aber ansonsten eine anrührende G’schicht. Ich hätte grad eine andere… habe dieser Tage gehört, dass ein Studienkollege von einst verstorben ist. Ein lebenslustiger Bursch, ein Musikus und einer – ach je, fast meine einzige konkrete Erinnerung an ihn – der sich nicht mehr einkriegte, als man seinerzeit ins Schwäbische fuhr und er mit der Tatsache konfrontiert war, dass es den Namen Mösle tatsächlich gibt. Ja, er lachte sich damals nur halb tot. Was taten die Mitfahrer und -innen? Ich weiß es nicht, weiß es nicht mehr, ich hielt mich ohnehin am Lenkrad meines vollbepackten Kleinwagens fest. – Ach, gar nicht dazu passend, aber, so meine ich, etwas leichtfertig – fröhlicher: ich habe versucht, deine Spannung aufzulösen und die mit dieser erwartete Geschichte (918., Kapitel 3, da es ja Märchenform annahm) zu schreiben. Ob das Märchen so konveniert weil ich freilich nicht, aber zumindest endet es genretypisch mit Happy End.
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