Ich kann jetzt nicht, sage ich meinem Nachbarn Paul und lasse ihn selbst in meiner Küche nach all dem suchen, was einzukaufen, er vergessen hat. Anfang März gerne, vertröste ich meine Freundin und kann ihr nicht erklären, dass ich im Jahr 2001 festhänge und mir 2022 unendlich weit entfernt scheint. Meinen Freund bitte ich noch darum mir die hintersten Kartons aus dem Schrank zu holen und schüttele ihm zum Abschied die Hand, was ihn irritiert aber auch schmunzeln lässt. Ich bin irgendwo in den 90igern und da kannten wir uns noch nicht. Er verlässt das Chaos meiner Wohnung, bleibt in der Gegenwart und lässt mich und meine Vergangenheit alleine. Ich bat ihn nicht, zu gehen. Ein uraltes Mixtape hat ihn vertrieben und ich kann ihn verstehen – es ist schrecklich und nur die Erinnerung an die Person, die es mir schenkte, lässt es jetzt noch einmal meine Küche beschallen. Ein aller letztes Mal, dann kann es weg. Muss es weg, weil es mir nicht mehr wichtig ist.
Früher war es einfach, meinen Besitz nach „wichtig“ und „kann weg“ einzuteilen. Alles was sich lohnte, in einem meist selbst organisierten Umzug, in Kartons verpackt zu werden, war wichtig. Kein Frage – Dinge die man drei Stockwerke nach unten schleppte, vier nach oben hievte und in diverse Autos verfrachtete, waren es wert aufgehoben zu werden. Eine natürliche Auslese, die fehlt, seit ich im Vorderhaus dauerhaft meinen eigenen Platz gefunden habe. Das Aussortieren scheint mir wichtig zu sein, denn alle paar Jahre habe ich das Gefühl in meinen „Dingen“ zu ersticken. Dann sitze ich eine Woche auf den Böden meiner Wohnung und öffne jeden Schrank, jede Schublade und jede Schachtel um zu sehen was mir den Atem raubt. Zimmer für Zimmer wird gründlich beäugt und am Ende steht im Flur ein kleiner oder großer Karton mit Dingen die weg können. Diese Jahr geht es schnell und ich wundere mich. Es reicht mir nicht, dass so wenig weg kann und es dauert eine Weile bis mir bewusst wird, was eigentlich zu viel ist.
Zufällig beim Suchen einer Mail merke ich was mich schon lange stört – es ist die unendlich groß erscheinende Datenmenge meiner E-Mail Konten. An sie habe ich noch nie gedacht, noch nie ausgemistet und noch nie durchgesehen. Wahrscheinlich macht man das nicht, ignoriert diesen Speicher und akzeptiert, toleriert oder wertschätzt, dass ein halbes Leben an Kommunikation nur ein paar Klicks entfernt verfügbar ist. Für mich, der das Konzept einer Cloud noch immer fremd und etwas unheimlich ist, nicht. Seit Freitag sitze ich jetzt vor dem Rechner und durchforste meine E-Mail Accounts. Seit über zwanzig Jahren ist dort noch jede – jede, jede, jede – E-Mail, die ich in meinem Leben verschickt habe zu finden. Der Posteingang ist halbwegs aufgeräumt, die Unterordner lassen mich erahnen, was aufzuheben mir wichtig war und ich habe nicht das Bedürfnis, in ihnen aufzuräumen. Ihr Inhalt schadet nicht, vielleicht brauche ich ihn irgendwann…er ist mir gleichgültig. Was mich erschreckt sind die verschickten Mails. Es sind tausende und keine einzige wurde je gelöscht. Mein komplettes erwachsenen Leben ist dort dokumentiert. Jeder gute und jeder schlechte Tag. Jedes in einem Streit geschriebene Wort kann nachgelesen werden. Meine und die des Empfängers, dessen Antworten meist darunter hängen. Dinge die man sagt und für die man sich später entschuldigt, dürfen vergessen werden. Mehr noch…ist es nicht schön, sich an den Grund eines Streites schon nicht mehr zu erinnern, wenn man sich Stunden später wieder in den Armen liegt? Schön und wahrscheinlich auch wichtig. In meinen Mailaccounts wird nichts vergessen. Alles ist haarklein nachzulesen. Wer tut das schon, frage ich mich und kenne die Antwort. Ich…jetzt wo och weiß, dass alles noch da ist.
Manches ist schön zu lesen. Vieles sogar. Zwei Stunden lang las ich die Mails zwischen mir und dem klügsten meiner Freunde, die sich um meine Diplomarbeit drehten. Alleine auf dem Bett liegend lachte ich herzhaft über seine Kommentare und seine zunehmende Verzweiflung über das, was ich ihm und meinem Professor als „wissenschaftliches Arbeiten“ unterjubeln wollte. Die Entwürfe sind haarsträubend und ich bin ihm heute noch dankbar für seine Geduld und die sanften Tritte in die richtige Richtung. Ohne ihn hätte ich weder mein Abitur noch meine Diplomarbeit geschafft. Seine Mail mit „Willst du mich verarschen?!? Die BILD Zeitung als Quelle?“ als Betreff hebe ich auf. Sie ist sehr, sehr lang und zerlegt mich und meine Arbeit so radikal und brutal, dass ich mein Studium kurz vor Ende noch fast geschmissen hätte. Zum Glück schrieb er sie, denn so offen hätte er mir nie ins Gesicht gesagt, was er damals dachte und ich wäre ohne Diplomarbeit zurück nach Italien gegangen. Unbedingt aufzuheben auch meine Mails an die engsten Freundinnen in denen ich ihnen ehrlicher als am Telefon von Dingen erzählte, die mir noch heute wichtig sind und die von einem, der manches besser schreiben als sagen konnte. Sie alle sind jetzt in einem Ordner, der stellvertretend für einen Karton im Keller steht. Einen, den man ab und zu öffnet, um sich zu erinnern. Viele hunderte unwichtiger Mails befinden sich noch immer im Ordner der gesendeten Nachrichten. Sie stören und belasten nicht. Gelöscht aber habe ich ausnahmslos alle E-Mails an zwei bestimmte Personen. Die einen schweren Herzens, weil ich die Empfängerin noch immer vermisse, mittlerweile aber weiß, dass sich manche Türen schließen müssen und das nur geht, wenn nichts mehr im Keller oder auf dem Dachboden steht. Die anderen lösche ich schnell, ohne nachzudenken und anschließend auch noch sofort aus dem Papierkorb. Auch das lernt man mit den Jahren, manche Türen, Schachteln oder Kartons darf man auf keinen Fall ein zweites Mal öffnen. Noch einmal verschickt habe ich nur eine einzige. Ihr Text lautete: „Ok, dann heirate ich dich eben.“ und meine Antwort damals war: „Aber nur wenn echt alles schief läuft.“. Ich ergänzte sie vorhin um: „Steht dieser Plan B eigentlich noch?“ Die Antwort kam schnell: „Ja. ist es soweit? ;)“ Ich konnte mit nein antworten, aber die Mail landete im Ordner „Aufheben“. Vorsichtshalber.
Das habe ich zum Glück von Anfang an gemacht: regelmäßig ausmisten. Nur ganz wenige Mails werden aufgehoben und auch immer wieder mal einer Prüfung unterzogen. Einige Crashs diverser PCs haben ihr übriges getan, wenn dann sowieso alles „verloren“ war. Und Back-Ups gibt es bei mir nicht… 😉
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Das wirklich wichtige habe ich auf Festplatten gesichert. Die Ordner aber….die hab ich völlig ignoriert. Jetzt wird es aber besser 😉
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Der Computer spiegelt das Leben. Hier kann nur aufgeräumt werden wenn man auch bei sich über viele Entscheidungen klar ist.
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Das stimmt. Online Ordner oder Kartons im Schrank….das trifft auf beides zu.
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Ich denke darüber nach, ob die virtuellen Kartons denen im Keller wirklich vorzuziehen sind
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Je mehr wir uns an all das virtuelle gewöhnen, umso weniger Unterschied macht es wahrscheinlich. Auch wenn mir das haptische immer noch wichtig ist, wenn es um „vergessen“ und „ausmisten“ geht, macht es fast keinen Unterschied – außer dem Platz.
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Dass die gespeicherten Mails ein Leben dokumentieren, ist ein interessanter Aspekt deines Textes, liebe Mitzi. Eigentlich kennt der Mensch, dass Ereignisse und Erlebnisse, Gesagtes, Streit und dessen Anlass der Gnade des Vergessens anheimfällt. Indem auch noch alles Mögliche im BIld festgehalten wird, ist’s aus mit dieser Gnade. Ich weiß nicht, ob mir der Gedanke gefällt. Jedenfalls werde ich es dir gleichtun und einiges löschen.
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Genau das meinte ich, lieber Jules. Die Gnade des Vergessens. Vieles haben wir heute gar nicht mehr in der Hand. Das aber zum Glück schon noch. Mir hat es gut getan auf „Löschen“ zu drücken 🙂
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Ich habe mir immer oder zumindest sehr oft gesagt: „Wenn ich schon meine mit so viel Aufwand und Liebe gestaltete Fotobücher viel zu selten ansehe, um Erinnerungen zu wecken – wie viel seltener würde ich alte Mails lesen – deswegen sind es ganz wenige, die älter als 3 Jahre sind. Und diese wenigen tun immer noch weh, wenn ich sie lese – also mache ich das nicht oder kaum – und lösche wie vielleicht doch irgendwann.
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Das denke ich auch, liebe Clara. Mir war nicht bewusst, dass die gesendeten sich nicht irgendwann selbst löschen. Seit ich wusste, dass alle da sind und ich manche nun wirklich nicht rauskramen wollte….weg damit. Mir tut das aufräumen gut 😉
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ohhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh………………………………was für eine schöne Geschichte? Erinnert mich an den Film „Die Hochzeit meines besten Freundes“…
Also ich musste mein Postfach schon des öfteren Aufräumen, weil ich die kostenfreie Datenmenge überschritten hatte.
Es ist teilweise sehr schön, witzig oder auch sehr traurig, was man dann da so findet. Und es ist immer man selbst zwischen all den Zeilen.
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Warum auch immer mir diesmal Kommentare in den Benachrichtigungen nicht angezeigt wurde….jetzt habe ich deinen auch entdeckt :). Datenmenge ist ein gutes Argument zum Aufräumen. Ich habe wohl so wenig Anhänge oder die gesendeten zählen nicht. Ab jetzt werde ich aber ab und an radikal ausmisten 🙂
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Interessanter Aspekt, den du da behandelst. Ich habe meine E-Mail-Accounts gewechselt, und im aktuell gültigen fast nur noch „Geschäftliches“, da lohnt sich das Kramen nicht. Im Keller habe ich aber tatsächlich einen Ordner mit ausgedruckten E-Mails, die ich mir mit meiner besten Freundin Mitte/Ende der 90-er Jahre geschrieben habe. Weiß nicht, was ich mir damals dabei gedacht habe, sie zu drucken und irre, dass sie es bis nach Italien geschafft haben. Es wäre nett, sie mit ihr irgendwann zusammen durchzublättern.
Mit Männern hatte ich kaum interessanten „E-Mail-Verkehr“, früher gab es Briefe, dann SMS. Ein paar mehrdeutige Zeilen mit Kollegen, die habe ich dann auch ausgedruckt, wenn sie mir gefielen, bevor ich sie aus dem firmeninternen Netz gelöscht habe. Irgendwie war man damals noch unbefangener. Dass da einer mitlesen könnte, darauf kam man gar nicht und ich gehe davon aus, dass dem auch nicht so war. Jetzt überlegt man sich jedes „persönliche“ Wort zweimal, auch wenn es harmlose Dinge sind.
Ein leider nur mündliches Eheversprechen hatte ich von zwei Freunden im Kindergarten bekommen, leider aber längst keinen Kontakt mehr zu ihnen, als ich diese Angebote später gerne bewertet hätte. Heb du diese E-Mail gut auf, wer weiß, wozu es mal gut ist.😉 LG Anke
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Liebe Anke, irgendwie habe ich leider eine Handvoll Kommentare übersehen – entschuldige bitte. Mittlerweile werden die privaten E-Mails auch weniger. WhatsApp hat die Mail abgelöst und vielleicht geht es mir irgendwann dann mit diesen „Postfächern“ so wie mit den Mails.
Nett, dass du auch Ausdrucke hast. Während meiner Ausbildung hatten wir eine Kommunikationssystem und – warum auch immer – ich habe sehr, sehr viele ausgedruckt und die Mappe mit den Nachrichten noch immer. Auch die hatten es nach Italien geschafft und mittlerweile sogar wieder zurück. Liebe Grüße
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Es gibt dieses Buch über den einsamen Mann in Maine, der in einer Waldhütte lebt und (es muß, weil es ist amerikanisch) dann zum Mörder wird: die Wände seiner Hütte sind gut isoliert. Von Büchern noch und noch. Die offenbar überwiegend noch von seinem Vater stammen. Wie sein Gewehr (britsches Kaliber, .303). Einsamkeit in Erinnerungen konserviert oder umgekehrt… ja, wir verstehen, warum er seltsam wird. Oder seine Seltsamkeit immer dominierender wird. Mangels Leben, aktiver Ablenkung, mangels also Existenz: denn in der Vergangenheit existieren wir nicht, sondern befinden uns, modern und sozusagen, „in der Cloud.“
Andererseits, freilich: ohne Vergangenheit existiert einfach nur Nichts. Wir hängen von ihr ab, sind aus ihre geboren und bleiben ihr Produkt. Und deshalb verstehen wir unsere Erinnerungen, dinglich oder nicht, als Teil von uns. Sowas schmeißt man doch nicht weg!
Unser Körper ist klüger und wirft verbrauchte Zellen einfach weg. Tut er das nicht, nennt man das eine Krebserkrankung…
Trotz all dem: ich lebe auch in dem ewigen Spagat zwischen gedachtem Minimalismus (eigentlich könnte ich doch, wie einst, aus dem Koffer leben!) und tatsächlichem Wust. Und diese eine bekannte Japanerin würde ich, glaube ich, nicht reinlassen, da hätte ich um den einen oder anderen meiner wertlosen, seit Jahr und Tag nicht mehr beachteten, halbvergessenen Schätze doch Angst!
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Weißt du wie das Buch heißt? Es klingt interessant.
Die japanische Aufräumgöttin käme mir auch nicht rein. Zum einen halte ich zwar viel vom aufbrauchen aber wenig vom wegschmeißen (Klamotten z.B.) zum anderen sind mir die Wohnungen danach dann doch zu clean. Da ist kein Platz mehr zum Stöbern und das mag ich doch sehr gern.
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