Geschenkte Tage, nennt meine Mutter sie. Tage, die so schön und kostbar sind, dass man sie auf keinen Fall verstreichen lassen darf. Tage, von denen man ahnt, dass es für lange Zeit die letzten ihrer Art sein werden und Tage, die durch ihre Vergänglichkeit zu einem kostbaren Schatz werden. Heute ist ein geschenkter Tag. Ein Sonntag im Oktober, der so herrlich warm ist, dass man doch noch einmal in offene Schuhe schlüpft und wohlig seufzend den ersten Kaffee des Tages auf dem Balkon genießt. Freilich, der Sommer ist vorbei. Wir hatten schon Tage, da waren es morgens nur vier Grad und Tage, in denen man fröstelnd auf den Bus wartete und dem Sommer hinter her trauert. Aber heute nicht. Gesten und heute wurden uns Münchnern zwei Tage geschenkt, die so herrlich sind, dass man dem Sommer gar nicht hinterher trauern kann.
Milder ist sie, die Sonne. Wärmt nackte Arme und Zehen und bringt dennoch nicht mehr zum Schwitzen. Eine sanfte Umarmung sind diese Sonnenstrahlen. Ein versöhnlicher Kuss auf die Stirn. Ein bisschen Kraft hätte sie noch, sagt so eine Herbstsonne und die Münchner machen noch einmal das, was sie mindestens so gut wie die Italiener können. Stühle und Bänke raus und die Nase in die Sonne halten. Noch einmal ein Aperol Spritz auf der Straße in den Cafes getrunken und die Sonnenbrille auf die Nase gesetzt. Wir trinken ihn ein wenig früher, schon um zwei, weil wir uns ab fünf Uhr nachmittags nichts mehr vor machen können. Dann wird es kühl, zwei Stunden später dunkel. Aber jetzt, am hellen Tag ist es herrlich. Fast schöner als im Sommer, denn die Stadt glänzt. Nicht nur die Augen die Münchner, sondern auch die Bäume. Goldgelb die Blätter der Linden, bronzebraun, die der Kastanien und feurigrot, die Ahornbäume. Sie glühen im strahlenden Licht der Herbstsonne und sind so schön, wie das ganze Jahr nicht. Damit ein Tag zu einem geschenkten Tag wird, reicht es nicht, dass die Sonne noch einmal scheint. Nein, es muss alles passen. Ein geschenkter Tag ist am besten ein Sonntag. Ein Sonntag an dem die Wohnung bereits geputzt und die Einkäufe schon erledigt sind. Aber auch das reicht im Herbst nicht. Im Herbst ist ein Tag vollkommen, wenn die Bäume es noch sind. Wenn die Blätter zwar fallen, die Kronen aber noch nicht licht sind. Wenn sie leuchten, wenn sie glänzen und wenn sie so wunderschön sind, dass man sich nicht sattsehen kann. Heute ist ein geschenkter Tag.
Ob ich es bereue, nicht mit an den Gardasee gefahren zu sein, fragen mich meine Freunde und wundern sich, weil ich es nicht tue. Nix mit Italien, schreibe ich und schicke ein Foto von strahlend blauem Himmel und leuchtend gelb, rot, grüner Ahornbaumkrone. Italien ist herrlich, aber nicht heute. Nicht an einem geschenkten Oktobertag. An solchen Tagen bin ich Münchnerin mit Herz und Seele und möchte nirgends sonst als in Bayern sein. Haben sie einmal an einem Herbsttag bei Sonnenschein auf einer Alpenwiese gelegen dem Leuten der Kuhglocken gelauscht? Oder sind Sie an einem goldenen Oktobertag schon einmal durch einen Münchner Friedhof gegangen und haben bemerkt wie unglaublich würzig, gut, warm und unverwechselbar dort das Herbstlaub in der Sonne riecht? Und haben Sie sich schon einmal an einem warmen Herbsttag auf eine Bank aus unbehandeltem Holz gelegt und dort die Wärme all der gespeicherten Sommer-Sonnen-Stunden auf ihrer Haut gespürt? Wenn Sie nur ein einziges Mal genickt haben, dann ahnen Sie warum ich heute um nichts in der Welt woanders sein möchte als Zuhause. Nix mit Italien, würde ich heute sagen, wenn ich mich mit einem Fingerschnipsen nach Verona oder Ligurien befördern könnte. Heute müssten sie schnipsen. Die Freunde in Italien. Schnipsen und zu mir kommen.
Ein geschenkter Tag, sagt meine Mutter, die gerade auf unserer Hütte in den Bergen ist. Ich weiß, dass sie Vormittags durch das Herbstlaub des Waldes gestreift ist. Mittags auf einer Alpenwiese lag und jetzt wahrscheinlich auf der Holzbank vor der Hütte sitzt. Sie macht es richtig und ich auch. Ich sitze am Ostfriedhof und rieche das Laub. Liege auf der Holzbank meines Balkons und kann mich nicht satt sehen am grellen, goldenen Laub der Bäume vor meinen Fenstern. Heut, nix mit Italien. Das läuft ja nicht weg. Heute ist ein geschenkter Tag und geschenkte Tage, die so endlich und besonders sind, die muss man genießen. Und mit die schönsten von ihnen, die gibt es in Bayern.
(Mein Nachbar, Herr Meier, hat auf den letzten Satz bestanden. Am Ostfriedhof saß er neben mir auf der Bank und seit er weiß, dass ich schreibe, lektoriert er meine Texte. Zumindest die, die entstehen, während ich neben ihm sitze. Und eigentlich hat er auch Recht. Ich streiche ihm noch das „mit“. Die schönsten geschenkten Tage gibt es in Bayern. Punkt. Was soll ich als Münchnerin auch anders schreiben.)
Liebe Mitzi,
auch, wenn man das ja alles schon weiß, oder zumindest ahnt. Man braucht jemanden, der einen sanft bis energisch darauf hinweist. Und niemand schafft das mit solchen liebevollen Worten, wie Du! 🙂
Und jetzt setz´ich mich auf meinen Balkon.
Liebe Grüße,
Werner
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Lieber Werner, ich wünsch dir feine Sonnenstrahlen. Ganz liebe Grüße aus München
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Liebe Mitzi, ein herrlich geschilderter, geschenkter Sonntag, auch in Nürnberg. Der goldene Oktober macht Lust darauf, die Herbstgedichte wieder rauszusuchen. Schöne Grüße, Bernd
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Das stimmt. Da gibt es einige, die diese herrlichen Tage wunderbar in Worte umsetzen.
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Heute bin ich herbstsonnenmilde und lass euch mal in dem Glauben, dass dem so ist 😌
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Mild, aber beständiger Dauerregen 🙄, ok, wir Nordlichter lassen Euch den Vortritt, nehmen nur Anlauf für die schönsten Oktobertage ever 😉😎.
Liebe Grüße 😘
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So ist es richtig. Ein jeder soll die schönsten Oktobertage haben und ich finde es nur fair, wenn es jeder bei sich am schönsten empfindet. Der Norden ist mindestens so schön wie der Süden (wäre Herr Meier dort ansässig, dann würde er diese Meinung vehement vertreten 😉 )
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Ja, Herr Meier hat recht: Bayern ist schöner als Köln, das kann ich bestätigen. Aber auch hier war ein besonders schöner Tag: Viel Sonne und – Köln-Marathon. Daß die Läufer sich ihren Kick holten, ist dabei gar nicht das Besondere, sondern, daß die halbe Stadt für den Autoverkehr gesperrt war. Wäre es doch nur immer so, die Lebensqualität würde für alle enorm wachsen. Manchmal zweifle ich an der Intelligenz meiner Zeitgenossen, die täglich aus der Innenstadt mit dem Auto zur Arbeit fahren – mit dem Rad bin ich genau so schnell. Aber was soll man machen, ich sitze im Park oder auf dem Friedhof, genieße wie Du die Herbstfarben und atme. Ganz ruhig.;-)
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Wie gut ich diese Gedankengänge nachvollziehen kann. In München ist es nicht anders. Auch wir hatten erst den München-Marathon und die vielen gesperrten Straßen waren toll. Nicht für die Autofahrer, aber die spinnen – da bin ich ganz bei dir – eh.
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Soviel Lokalpatriotismus regt zum Widerspruch, sollte Herr Maier mal zur Kenntnis nehmen. Aber so schön wie du die geschenkten Tage geschildert hast, liebe Mitzi, mag mans freiweg bestätigen. Obwohl es an anderen Orten auch schön ist.
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Das ist es zweifellos, lieber Jules. Und es ist zu hoffen, dass ein jeder sein Fleckchen Heimat als am schönsten Empfindet – so ist es am Ende fast überall schön.
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grade heute habe ich diesen geruch geruchen. herrlich, diese tage. ich hab sie dieses jahr verpasst, wie auch den sommer, aber das macht nix, weil ich mit anderen dingen beschäftigt war. trotzdem mag ich die erinnerung an diese tage, das gefühl daran, das kenne ich nur zu gut.
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Manchmal gibt es solche Jahre. Und, das glaube ich ganz fest, auch die Erinnerung an zum Beispiel diesen Geruch, macht auch schon froh. Nächster Herbst, dann wieder. und Frühling und Sommer :-*
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genau ❤
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:-*
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Eine wundervolle Erzählung, einen solchen Tag hatten wir letzten Sonntag. Ohne Friedhof, dafür mit Hafen und Kaffee… Ich freue mich jetzt schon auf die „Frühlingstage“, bei denen die Temperaturen um die 15°C liegen und jeder hier seine kurzen Shorts und Tops rauskramt
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Ein ganz anderes Kältempfinden. 🙂 15 Grad und Shorts…
Hafen und Kaffee….das würde mir auch gefallen.
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