Eine Hütte im Wald (aus dem Archiv 10.11.2015)

Wenn ich die Herbstsonne vor meinem Fenster auch um neun Uhr noch aussperre und ein Tag auf dem Sofa eine wenig verlockende Vorstellung ist, dann bin ich krank. Dann mag ich keine Bücher, keinen Radio und keine Ablenkung. Dann will ich nur schlafen. Kann ich es nicht, rolle ich mich wie ein kleines trotziges Kind ein und warte schmollend bis es besser wird. Am besten lässt man mich dann in Ruhe. Krank und nicht zu gleich ungeduldig und missmutig sein, kann ich nur an einem Ort. Einer kleinen Hütte in den Bergen. Auf ganz wundersame Weise dehnt und streckt sich dort die Zeit und lässt innere und äußere Uhren in einem viel gleichmäßigeren und langsameren Rhythmus ticken.

Längst kann man die kleine Lichtung mit dem Auto erreichen. Einem Auto, dass zum Fahren bestimmt ist. Tiefergelegte oder schick/hässlich verbreiterte Karren scheitern am nicht geteerten Weg und den Schlaglöchern. Manchmal auch ich, an einer Kuh, die den Weg unter den Bäumen für sich erobert hat. Ab und zu kommen Wanderer vorbei. Dann geht es mir wie der Kuh. Ich schaue, nicke freundlich und ignoriere sie. Sie sind nur einen kurzen Augenblick auf meiner Lichtung, bevor es wieder einsam wird. Ich schaue und träume meistens an die Holzwand der Hütte gelehnt. Fast immer ein Buch im Schoss. So langsam lese ich sonst nirgends. Der Wald lenkt mich ab. Ein Wald sieht nie gleich aus und er ist nie still. Im Gegenteil, er ist sehr laut. Im Lauf der Jahreszeiten ändert sich sein Bild und seine Geräusche. Neben dem hellen Grün des Frühlings und dem sanften Zwitschern der Vögel mag ich den Wald im Herbst am liebsten. Das satte Grün des Sommers wird stumpf und vermischt sich mit dem kräftigen Braun der Buchen, die zwischen den Nadelbäumen stehen. Schaurig schön, wenn der Wind der Herbststürme in die Äste fährt und die Bäume sich mit lautem Rauschen so tief über die kleine Lichtung neigen, dass man kaum glauben mag, wie elastisch sie sind. Sie hoffentlich sein mögen und unser Hüttchen verschonen. Obwohl es sich nur um ein kleines Holzhäuschen handelt, lässt es mich glauben, dass es allen Stürmen und Schneemassen trotzen wird. Man muss es fest glauben, sonst ängstigt man sich und beäugt die langen, dünnen Stämme der Fichten misstrauisch. Dass sie brechen können, habe ich oft gesehen. Dann war der Weg nach oben übersäht von Stämmen entwurzelter Bäume und armdicker Äste. Dennoch habe ich in der kleinen Hütte nie Angst. Sie steht schon immer und kindlich naiv vertraue ich darauf, dass sie es auch immer tun wird.
Ich war noch ein Kind und nicht dabei, als der Orkan Wiebke die Lichtung 1990 mit Bäumen übersähte. Aber ich kenne die Fotos. Dass ich trotzdem keine Angst habe, liegt an der Standfestigkeit der Hütte. Sie ist direkt am Hang gebaut. Eigentlich müsste sie hinten über kippen und den steilen Hand hinunter rutschen. Dass sie es nicht tut liegt an Wurzeln der Bäume, die das Erdreich am Hang befestigen. Oder am Zauber dieses Ortes.

Der Wohnraum hat alles was man benötigt. Einen robusten großen Tisch, eine Eckbank auf der viele Freunde dicht zusammen rücken können. Eine altmodische Küchenanrichte mit einer Armada an Gläsern, Tellern und Schüsseln die von der Gastfreundschaft meiner Eltern der Trinkfestigkeit ihrer Freunde zeugen. In der Ecke ein Holzofen der Art, der zum Heizen und zum Kochen gleichermaßen taugt und eingezwängt unter einem der kleinen Fenster ein breites Sofa, auf dem wir als Kinder zu fünft oder mehr saßen. Ich mag das Sofa. Es war die Insel für uns Kinder, wenn die Erwachsenen am Tisch saßen, lachten, tranken, aßen und erzählten. Ich weiß nicht ob sie vergessen haben uns ins Bett zu schicken oder ob es ihnen schlicht egal war, aber ich erinnere mich, dass wir bis tief in die Nacht dabei waren. Irgendwann freilich mussten wir nach oben.

Oben war eine kleine Nische mit Waschbecken und Kommoden, daran anschließend je zwei Kojen rechts und links mit Betten. Die Betten waren selbst gebaut und viel breiter als ein normales Doppelbett. Vier Stück insgesamt unter den schrägen des Daches. Als Kinder mussten wir klettern, weil sie so hoch waren. Schnell nach oben und nie unter das Bett sehen. Was sich darunter verbergen konnte ängstigte uns weit mehr als alle Gewitterstürme die draußen toben mochten. In den Betten schliefen viele Leute. Ein Ehepaar und zwei Kinder pro Bett mochten der Durchschnitt gewesen sein. Der Rest fand auf dem Sofa oder im Stockbett der winzigen Speisekammer Platz. Leer war es selten. Wir lagen in den Betten und lauschten weiter den Gesprächen von unten. Durch die dünne Holzdecke verstand man jedes Wort. Natürlich auch die, die nicht für uns bestimmt waren.

Noch heute, auch wenn ich alleine auf dem Sofa oder in einem der Betten liege, höre ich das Lachen und das Stimmengewirr der Jahrzehnte ganz deutlich. Von meiner Familie, ihren Freunden und auch meinen Freunden mit denen ich unzählige Stunden hier oben verbracht habe. Das Holz hat die Stimmung all dieser Abende gespeichert und ganz leise hallt all das Lachen wieder, wenn es still wird. Nicht nur das Lachen. Irgendwo zwischen den Balken ist auch mein erster Liebeskummer gespeichert. Zwischen den Kissen die Gespräche mit meinen besten Freunden und im Ofen das eingeschneite Wochenende mit einer guten Freundin. Hier oben fand bin ich aufgewachsen und wenn es einen Ort gibt, den ich als Heimat bezeichne – hier  und an keinem anderen Platz.

Ich bin krank und wäre gerne auf dem Sofa der Hütte. Das Holz im Ofen würde leise knacksen, der Wind in den Bäumen rauschen und das kleine Häuschen würde mir Geschichten erzählen. In der winzigen Speisekammer gäbe es alles um ein paar Tage zu überstehen und ich müsste nur die Augen schließen, ein bisschen dem Knarren und Knacksen lauschen und würde binnen Minuten einschlafen. Ich fühle mich schon besser. Es reicht an den Lieblingsort zu denken um ihm nah zu sein.

5 Gedanken zu “Eine Hütte im Wald (aus dem Archiv 10.11.2015)

  1. Das Vertraute einer Hütte, eines Daches über dem Kopf, gerade bei schlechtem WEtter, gerade auch bei inwendig schlechtem Wetter, wenn man sich nicht gut fühlt, krank ist, ist durch nichts zu übertreffen. Ein alter Küchenofen, der wärmt.
    Erwachsen durfte ich freilich noch dazulernen. Was es heißt, da Holz heranzuschleppen. Was es heißt, mit der Schneeschaufel auf dem Dach herumzuturnen, da die Nässe langsam durchzutropfen beginnt… Das waren alles Sachen, die als Kind Abenteuer, nicht Pflicht waren und dann, als Erwachsener, gerade weil ja wieder Kinder dabei waren, zuallererst ernste Pflicht (aber trotzdem auch tolle Abenteuer, vor allem, weil alles noch mal gut ausging!).
    Schön ist auf der Alm oder wo immer die Hütte steht, und da mag der Sturm noch so an den Läden rütteln, nirgens schläft sichs besser.

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