Alltag VIII – einmal noch

Obwohl die Sonne in diesem Frühjahr noch nicht oft schien, reichten ihre Strahlen, um die Haut der Unterarme deines Bruders zu bräunen. Eine Bräune, die ich am Ende des Hochsommers nicht erreiche und die in deiner Familie noch fast als blass gilt. Man sollte einem Menschen ins Gesicht sehen, wenn man sich mit ihm unterhält. Ich blicke auf einen Unterarm und halte mich an feinen, hellbraunen Härchen fest. Ab Juli sind sie blond und kurz nach Weihnachten dunkelbraun. Obwohl ich diese Härchen, diese Haut und diesen Menschen kaum kenne, weiß ich, dass es bei ihm nicht anders ist als bei dir. Ihr seht Euch ähnlich. Viel zu ähnlich für zwei Männer von denen einer viel später als der andere geboren wurde. Es irritiert mich, obwohl es mich nicht wundern sollte. Deine Uhr ist stehen geblieben, die seine nicht. Jetzt seid ihr etwa gleich alt und die Familienähnlichkeit ist unverkennbar. Es tue ihm leid, sagt er verlegen lächelnd und macht es nicht besser, weil sein Lächeln fremd und doch vertraut ist. Es tue ihm wirklich leid, wiederholt er und ich muss ihm in die Augen sehen, weil man das tut, wenn einer höflich um Entschuldigung bittet. Seine Augen sind braun und ich bin erleichtert. Braun und nicht grün, das ist gut. Seinem Schneidezahn fehlt ein winziges Stück, das du hattest und über seiner Augenbraue fehlt die kleine Narbe. Gleicher Schlag, das ja, aber doch ganz anders. Blödsinn, sage ich und schüttle den Kopf, weil es albern ist sich zu entschuldigen, nur weil man jemanden ähnlich sieht.

München ist ein Dorf, irgendwann trifft man jeden. Heute also deinen jüngeren Bruder. Drei, vier Sätze wechseln wir, wünschen uns einen schönen Tag und sind uns zu fremd um mehr und länger zu sprechen. Was sollen sich auch zwei erzählen, die zurück geblieben sind und die nichts weiter verbindet, als dass sie dich kannten. Mach´s gut, sagen wir und drehen uns um. Zurück in den Alltag. Er kann es vielleicht, mir fällt es schwer. Er sah dir zu ähnlich und hätte ich länger mit ihm gesprochen hätte ich mich erblödet ihn zu fragen ob er sich nicht für einen kurzen Moment zu mir auf die Bank bei den Magnolien setzten könnte. Wenn er den Mund halten würde und ich mich auf seinen Unterarm konzentrierte, dann könne ich mir vielleicht vorgaukeln nicht neben ihm, sondern neben dir zu sitzen. Wenn wir still blieben, dann würde er mich sehr an dich erinnern und vielleicht würde es mir für einen kurzen Moment gelingen, zu glauben, dass du noch bei mir wärst. Nur für einen Tag. Einen Tag wie heute, einen ganz alltäglichen. Einen, an dem die Haut an deinen Unterarmen gerade braun zu werden beginnt und die feinen Härchen heller werden. Einen an dem gar nichts besonderes passiert. Einkaufen, für den Abend, weil wir grillen würden. Eine Ladung Wäsche in die Maschine stopfen und dann runter an die Isar. Auf den warmen Kieseln liegen und das T-Shirt das erste Mal im Jahr ein Stück nach oben schieben, um zu testen ob sich die Sonne auf dem Bauch noch genauso schön wie im Jahr zu vor anfühlt. Das erste Mal die Schuhe ausziehen und wacklig durch das Wasser zum anderen Ufer laufen. Wacklig, ich. Du nicht, weiß der Henker warum dein Stand immer fester als der meine war, aber ich würde sehr gerne noch einmal meine Hand in der deinen spüren und wissen, dass ich nicht falle, weil du mich fängst. Ich will nichts besonderes. Nur noch einmal ein Eis essen gehen und mich so lange nicht für die Sorte entscheiden können, bis du mir ungeduldig die Hand auf die Schulter legst und ungefragt für mich bestellst, weil ich ja doch immer Zitrone nehme. Ich würde wirklich sehr, sehr gerne noch einmal deine Stimme hören, weil ich bereits beginne mich nicht mehr an sie zu erinnern. Ein Satz würde mir reichen. „Sie nimmt Zitrone in der Waffel“, wäre ein schöner Satz. So alltäglich und banal. Ehrlich, mehr würde ich gar nicht wollen, als nur einmal noch ein bisschen Alltag. Eine Hand, die mich zurück reißt, wenn ich die Augen beim Eisessen schließe und fast in ein Auto laufe. Dein Lachen, wenn ich behaupte, dass eine Kugel reicht und mir dann doch eine zweite hole. Wir müssten gar nicht viel mehr machen, als abends noch ein bisschen auf dem Balkon zu sitzen. Nur bis es kühl wird, damit ich noch einmal deinen Pullover anziehen kann, noch einmal deinen Duft rieche und einmal noch dein Motzen höre, weil ich nie selbst an einen denke. Ein ganz alltäglicher Abend und nur eines würde ich dann noch wollen, eines wäre so schön, dass ich viel dafür geben würde. Einmal noch neben dir einschlafen und zu wissen, dass du am morgen noch neben mir liegst. Nur ein bisschen Alltag, mehr nicht.

Wir konnten es nicht. Beide, dein jüngerer Bruder und ich, sind wir stehen geblieben. Ob ich Zeit für ein Eis hätte, fragte er und ich nickte. Vielleicht gelang es ihm, sich vorzustellen, dass er zufällig die Freundin seines Bruders getroffen hat. Die Freundin, die er nicht gut kannte, weil er damals als alles passierte in einer anderen Stadt lebte. Und vielleicht schaffte er es, sich für einen kurzen Moment vorzustellen, dass du noch hier bist. Bei uns und am Leben. Du fehlst mir noch immer. Am meisten der Alltag mit dir. 

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24 Gedanken zu “Alltag VIII – einmal noch

  1. Faszinierend wie wundervoll Du das Gefühl beschrieben hast, wie es ist, wenn man einen bekannten Menschen in einem anderen wiederzufinden glaubt.

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  2. Liebe Mitzi,
    … und weil es bei mir gerade so ist, dass der Liebste doch nicht endgültig gegangen ist, auch wenn sein Leben an einem seidenem Fädchen gehangen hat, kann ich all dein Wünschen so gut verstehen! Bei uns ist nun die Frage, ob wir es schaffen, diese kleinen Momente alle zu genießen, die letzten Tage sah es ganz danach aus.
    Hab Herzensdank für deinen Beitrag, der mich ganz tief berührt,
    liebe Grüße
    Ulli

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    1. Liebe Ulli, ich las es bei dir und wünsche von Herzen, dass sich der seidenen Faden als zäh und stabil erweist.
      Ihr werdet sicher etwas mitnehmen. Vielleicht nicht jeden Tag und immer, aber ein solcher Schreck führt meist dazu die kleinen Momente zu genießen. Liebe Grüße und danke dir für das feine Projekt, das mir große Freude bereitet.
      Mitzi

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  3. Mitzi, und wieder schreibst du hier Gedanken, die mich um mehr als 20 Jahre zurück versetzen. Lange, lange Jahre habe ich wie du gesagt: „Du fehlst mir noch immer!“
    Ich drücke dich als Gleichgesinnte.
    Lieben Gruß von Clara

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  4. Berührend, liebe Mitzi. In deinem Herzen lebt deine große Liebe noch, wie deine treuen Leserinnen und Leser wissen. Mir ist auch das typografische Element in deinem Text aufgefallen; die Blässe einzelner Wörter deuten wohl das Verblassen von Erinnerungen an. Die Zeit ist leider eine unerbittliche Banalisiererin.

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    1. Ich muss mir das am Rechner noch einmal ansehen, lieber Jules. Bewusst war die Blässe nicht gewählt.
      Ein schöner, richtiger Satz.
      Ein Stück bleibt. Bei mir er und bei dir Coster, der immer wieder auftaucht. Es ist schön, sie ein wenig zwischen den Zeilen bei uns zu behalten.

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      1. Mit dem Unterschied, dass Coster ein guter Freund war, keine Liebe, zumal er in meinen Texten immer schon eine literarische Kunstfigur war. Auf meinem Bildschirm ist die Blässe mancher Wörter deutlich, zweimal im vorletzten Satz: “ Bei uns und am Leben.

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  5. Oh Mitzi. Dein tiefer, schmerzhafter Wunsch ist dermaßen mächtig zu spüren in Deinem Text, dass es uns wohl allen weh tut.
    Ich verfolge Die h nun schon lange und habe schon vieles mit Dir erlebt. Viele schöne Dinge, einige traurige Dinge.
    Deine Trauer wird wohl nie genug gehen, aber auch wenn Du meinst, langsam seine Stimme zu vergessen: So tief im Herzen, wie er bei Dir ist, wird er NIE verschwinden. Das ist tieftraurig, und das ist wunderbar. Mehr Erinnerung kann ein Mensch nicht bekommen, und wir nehmen daran Teil, erinnern uns mit.
    Ich kenne Dich nicht, aber ich liebe Dich dafür!

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    1. Ich danke dir für diese schönen Worte, die mir sehr, sehr viel bedeuten.
      Auch ich kenn dich nicht wirklich, aber dein Kommentar geht mir nahe und freut mich zugleich. Der ist wie eine Umarmung. Ganz, ganz liebe Grüße. Mitzi

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  6. Mein Liebster ist, wie man so sagt, ein älterer Herr. Er hat einen Sohn, wie aus dem Gesicht geschnitten (sagt man doch auch so). Ich ahne, was kommen kann. – Ansonsten: Danke für den schönen Text. Bei dieser Trauer zu sehen, wie Liebe leuchten kann.

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    1. Danke, Stephanie. Ja, Ähnlichkeit kann schön sein, aber sie weckt auch Erinnerungen die vielleicht noch nicht lange genug zurück liegen um als schön empfunden zu werden.
      Liebe Grüße und noch eine ganz, ganz lange Zeit mit deinem Liebsten!

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