Alltag – Fotos IV

Würde es brennen, ich wüsste, was ich aus den Fenstern werfen würde. Es wären meine Fotos, die ich retten müsste. Längst sind sie auf Sticks und Platten gesichert und ich müsste sie nicht auf die Straße herab regnen lassen. Und doch würde ich im Falle eines Brandes wahrscheinlich mit ihnen unter dem Arm auf die Straße rennen. Als Backup, falls der Stick nicht funktioniert, die Festplatte versehentlich gelöscht wurde und mit jenem Karton aus der Zeit als es noch keine digitalen Bilder gab. Gerne schmückt man sich damit, dass Besitz nur belastet und die Erinnerung hundert mal wertvoller als ein Abzug sei. Für mich nicht. Ich brauche meine Fotos und kann mir einen Alltag ohne nicht vorstellen. Im Vorbei gehen brauche ich den Blick auf all die Erinnerungen, auf meine Familie, meine Freunde und mein Leben. Es macht mich glücklich, meine Eltern küssend auf einem Balkon stehend zu sehen. Ich lächle, wenn mich mein zweijähriger Neffe anstrahlt und ab und zu frage ich mich was aus jenem Jungen geworden ist, dessen Bild seit Jahrzehnten bei mir hängt und den ich nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen habe. 

Eine Wand, nicht mehr. Der erste Freund mit dem ich zusammen wohnte, stellte diese Regel vor vielen Jahren auf und sie hat noch heute Bestand. 200 Fotos sollte man besser nicht über die ganze Wohnung verteilen. 20 vielleicht, aber 200 Stück auf denen man selbst  mit drauf ist, wären eine Freude für jeden Hobbypsychologen. Womöglich hätte ein solcher dennoch große Freude an mir, schließlich würde mein halbes Leben offen vor ihm liegen, sobald er meine Wohnung betritt. Nicht unbedingt die Orte an denen ich war, aber jeder Mensch, den ich in mein Herz geschlossen habe. Manche seit ich denken kann, viele über Jahrzehnte und manche, die meinen Weg nur für wenige Stunden gekreuzt haben. Zum Beispiel die vier, mit denen ich vor über zwanzig Jahre an Neujahr in einem völlig überfüllten Zug am Boden saß und von Neapel nach Verona fuhr. An ihre Namen kann ich mich nicht mehr erinnern auch nicht an ihre Heimatorte, aber an das Lachen und das muntere Plappern über Stunden. Das Lachen sehe ich, wenn ich ins Bad gehe – das Bild von ihnen hängt neben dem Lichtschalter. 

Man sagt, die besten Partys enden in einer Küche. Meine Küchen waren immer zu klein. Bei mir stehen Freunde und Bekannte früher oder später im Flur. Dort an den zwei Wänden über Eck, hängt auch ihr Leben. Jeder ist dort verewigt und von jedem erzählt mindestens ein Foto seine Geschichte. Sie und ihre Geschichten bleiben auch hängen, wenn uns das Leben längst auseinander getrieben hat. Mein Exfreund hängt noch immer dort. Das Ende war nicht gut, aber der Tag am Meer, von dem das Bild erzählt, der war wunderbar und erinnert mich an Herzklopfen und pappsüße Cocktails. Neben ihm hängt das Foto einer Freundin, die keine mehr ist. Wir haben uns nichts mehr zu sagen, aber am Tag der Aufnahme, da hatten wir es noch und strahlen so dreckig und fröhlich in die Kamera, dass ich bei jedem Ansehen gute Laune bekomme. Auf einem Holifest hatten wir uns mit Farbbomben beworfen und hätten wohl kaum geglaubt, dass dies der letzte Sommer unserer Freundschaft war. Und dann ist da noch Claudia, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Ihr Bild ist abgewetzt. Nie habe ich gesehen, wie es einer meiner Freunde berührt hat und doch müssen es viele getan haben. Zu schwer war es zu glauben, dass jemand mit gerade einmal zwanzig einfach stirbt und von heute auf morgen nicht mehr da ist. Ihr Bild bleibt, auch wenn viele der Menschen die mit mir und ihr damals studiert haben, heute nicht mehr in meinem Flur stehen. 

Ab und zu bekomme ich ein Foto in die Hand gedrückt. Für die Wand, sagen sie dann und immer ist es ein besonderes Bild. Der Platz im Flur ist endlich und kaum ein Schnappschuss schafft es noch dort hin. Nur jene Bilder, die wirklich eine Geschichte erzählen. Längst ist es bei uns zum geflügelten Wort geworden. „Na, der schafft es sicher nicht an die Wand“ oder „Wenn das kein Wand-Moment ist!“. Letztes Jahr an Weihnachten, stand der neben mir, der vor vielen Jahren auf nur eine Wand bestanden hat. Betrachtete seine Geschichten und schnalzte dann mit der Zunge. Wenn jemand, so wie ich, drei Flure sein eigen nannte, dann wäre es wohl ok, wenn man den einen gänzlich zu Dokumentationszwecken nutzte. Meine Freunde und ich sind nun für die nächsten vierzig Jahre gerüstet und jetzt wo wieder ein bisschen Platz ist…könnten Sie, die sie mich hier schon so lange begleiten, sich vielleicht untereinander kurzschließen, einen Treffpunkt vereinbaren und dann ein Foto für mich machen auf dem Sie alle sind? So langsam gehören Sie wirklich an die Wand. 

Mehr zum Alltag hier bei Ulli

23 Gedanken zu “Alltag – Fotos IV

  1. Liebe Mitzi, ich habe mir vorgestellt was ich da auf die Straßewerfen müsste, wenn … nein, das wäre nicht möglich, aber das allererste von mimir gestaltete Fotoalbum, ja, das müsste gehen. Ich würde mich für alle meine Gedankenauffangbücher entscheiden, es sind nun mal eben keine klassischen Tagebücher, also musste ich ein neues Wort für sie erfinden, die würde ich gerne alle retten, auch wenn selbst das zwei Kisten voll heißt, eine kleine und eine größere.
    Hab herzlichen Dank für deine Facette zum Februaralltag, ich finde solch eine Wand eine tolle Idee. Ich hatte lange Zeit eine Collage mit Familie und Liebsten hängen, Zurzeit sind es nur sehr wenige, aber das ist auch diesen Wänden hier geschuldet (viele Schrägen) und ich mag es nicht mehr so voll … ein Flur ist wie dafür geschaffen!
    liebe Grüße
    Ulli

    Gefällt 3 Personen

    1. Liebe Ulli, ich kann verstehen, dass du die Gedankenauffangbücher werfen würdest. Ein schöner Name für etwas, das mir sehr wichtig erscheint. Bleibt zu hoffen, dass wir nie wählen müssen, was wir retten. Ich würde mich am Ende doch sehr schwer tun.
      Liebe Grüße

      Gefällt 1 Person

  2. Die Zeit mit lieben Menschen, auch wenn sie endlich war, nicht vom Ende her zu denken, sondern die Erinnerung an das Schöne zu bewahren – das ist die Kunst im Leben. Und mir scheint, Sie beherrschen das bestens! Auch für mich sind Fotos ein wichtiges Instrument zur Lebensbewältigung und -bereicherung. Zwischen 2000 und 2017 habe ich jeden Tag ein (analoges) Foto gemacht. Wenn ich mich später mal an diese Zeit erinnern will, mache ich kich über diese fünf Kartons mit Fotos her. Das wird ein Fest. Immer inspirierende Texte hier, danke fürs Teilen!

    Gefällt 1 Person

    1. Schön gesagt. Das Schöne zu bewahren ohne über das endliche oder vergangene zu weinen ist sicher einer der Schlüssel zur Zufriedenheit.
      Solch Fotoprojekte wie Sie beschreiben sind großartig. 17 Jahre….eine unglaublich lange Zeit. Warum haben Sie aufgehört?

      Gefällt 1 Person

      1. Irgend wann wurden die analogen APS-Filme, die ich für meine kleine kompakte und eigens für dieses Projekt angeschaffte Kamera benötigte nicht mehr hergestellt. In weiser Voraussicht dieser Entwicklung hatte ich mir zwar rechtzeitig auf ebay einen Restposten mit hundert Filmen gesichert, aber auch die waren schließlich verknipst. Ich versuchte dann, mit einer kleinen Digitalkamera weiter zu machen, merkte aber schnell, dass das nicht mehr das gleich war. Mir ging es von Anfang an um Abzüge als physische Objekte, mit allem Aufwand den das bedeutet, und weggepackt in Kisten für die Ewigkeit. Manchmal grübele ich darüber nach, ob sich das Projekt doch fortsetzen ließe, bin aber noch nicht weiter gekommen…

        Gefällt 1 Person

      2. Ich bin versucht zu fragen, warum die Bilder nicht mit Handy oder Digitalkamera weiter geknipst werden. Vermute aber, dass das überhaupt nicht das selbe wäre.
        Wer weiß was daraus noch wird. Aus dem Karton oder aus einer Idee die dir plötzlich noch kommt. Aber selbst wenn es damit abgeschlossen ist…17 Jahre – es ist ein Schatz!

        Gefällt 1 Person

      3. Es ist nicht leicht, darauf eine Antwort zu geben. Es spielen so viele Aspekte hinein, und es ist letztlich mehr ein Gefühl, was den Ausschlag gab. Als ich mich mit der Idee zu dem Projekt trug, war mir klar, dass am digitalen Fotografieren eine gewisse Beliebigkeit hing, man macht ja leicht mehrere, vielleicht viele Fotos an einem Tag, und muss dann im Nachhinein das „Foto des Tages“ auswählen. Genau diesen weiteren Schritt wollte ich vermeiden, dieses nachträgliche Abwägen und Aussortieren. Der fest installierte Rahmen eines Films mit vierzig Aufnahmen für vierzig Tage legt mir hingegen einen Zwang auf, der mich von allen weiteren Entscheidungen entbindet. Es kam einzig darauf an, den Moment während eines Tages zu bestimmen, an welchem das Foto gemacht werden sollte. Diese Entscheidung war dann unwiderruflich. In der (künstlichen) Verknappung lag für mich, wie so oft im Leben, der Mehrwert. Das Schöne an dieser analogen Variante waren zudem die Indexprints pro Film, da hatte ich ich die vierzig Tage im Überblick. Aber: Nur der Versuch einer Rationalisierung dessen, was letztlich aus dem Bauch kam. Danke für deine Neugierde!

        Gefällt 1 Person

      4. Vielen Dank für die ausführliche Antwort. Ich kann es sehr gut nachvollziehen und bin noch immer begeistert, über welch langen Zeitraum dieses Projekt dich begleitet hat. Eines der Dinge, das endet, wenn es vermeintlich leichter wird und am Ende doch schwerer durch Auswahl und Möglichkeiten, die man gar nicht braucht oder möchte.
        Vielen Dank und herzliche Grüße.

        Gefällt 1 Person

  3. Prächtige Fotowand, liebe Mitzi. Sowas habe ich nicht, aber vielleicht werde ich deine Idee auf meine alten Tage noch übernehmen. Es ist immer wieder erstaunlich, aber auch bedauerlich, dass Menschen, die einmal wichtig gewesen sind, so gänzlich aus einem Leben verschwinden. So eine Wand hält wenigstens die Erinnerung fest.

    Gefällt 2 Personen

  4. Das ist eine tolle Sache gegen das Vergessen von Menschen und Momenten, von Freude und Vergangenem …. Da kann ich jeden verstehen, der so etwas hat. Wir haben das nicht, nur früher einmal, da hatte wir eine ,,Totengallerie“, die uns dann aber doch irgendwie zu makaber war …
    Alles Liebe mit Deinen Lieben, Nessy

    Gefällt 1 Person

    1. Wenn nur die verstorbenen Liebsten zusammen hängen, dann ist es in der Tat ein wenig makaber oder vielleicht auch bedrückend.
      Am schönsten ist es, wenn man so viele der Liebsten wie möglich um sich hat. 🙂
      Liebe Grüße

      Like

  5. ich habe mir schon oft gedacht.. wenn meine wohnung abfackelt, ich würde einfach nur meine fotos retten wollen. auch wenn meine weniger menschen zeigen, sie fangen trotzdem den moment drumherum ein und triggern erinnerungen an all jene, die mit mir da waren, an alles, das ich empfunden habe. sie sind auch mein heiligtum. von vergangenen zeiten habe ich wenig in der wohnung hängen, aber ich hab auch wenig platz. oder vielleicht zuviel, innen drinnen, an wehmut – weil ich ganz schlecht im hinnehmen davon bin, dass gute zeiten eben auch einfach vorbeigehen und menschen im leben durchsichtiger werden.

    Gefällt 1 Person

    1. Deine Bilder sind, die Motive betreffend, fast das Gegenteil von den meinen. Was natürlich auch daran liegt, dass ich niemals etwas so schön einfangen könnte wie du. Das ist ein ganz herrliches Talent. Erinnerungen speichern aber sicher beide Varianten. Du beschreibst so gut, wie es mir manchmal beim Anschauen mancher Fotos geht. Ich schreib mich leicht, dass es eben die schönen Erinnerungen sind, die zählen, aber ganz viele Dinge könnte ich nicht aufhängen – da ginge es mir ganz wie dir :-*

      Like

      1. ach weißt du, das „können“ ist halt auch immer ein bisschen das, was man sehen und zeigen kann und ich mag mich selbst auf den wenigsten fotos. so entstehen halt einfach mehr bilder drumherum und so entwickelt sich das auge dann eben auch in diese richtung.
        fast beruhigt mich das ein bisschen. manchmal hab ich das gefühl, ich bin die einzige, die sich damit schwer tut. interessanterweise ist das anders geworden. früher hab ich viel mehr aufgehängt. jetzt hab ich das gefühl, wenn mich zuviel davon umgibt, dann hält es mich fest in einem vakuum, so wie ich manchmal ewig lange kleben bleibe am durchscrollen meines fotostreams und mich überschwemmen lasse von all den zaubermomenterinnerungen.

        Gefällt 1 Person

      2. Nein, du bist ganz sicher nicht die einzige. Es ergibt sich nur viel zu selten die Möglichkeit über die Emotionen zu sprechen, die ein solcher Fotostream auslösen kann. Egal ob schön oder traurig. :-*

        Gefällt 1 Person

  6. Würde es brennen … um Gottes Willen, gleich nachgeschaut, der Backofen ist aus, Teelichter und die Kerze brennen noch, gut, noch kommentiere ich bei Mitzi, danach ab ins Bett, dann denke ich darüber nach, würde es brennen … hoffe, ich kann heute einschlafen … 😉

    Gefällt 1 Person

  7. Pingback: Alltag 5 |

Hinterlasse einen Kommentar