Sie rennt

Sie läuft. Die etwa vierzig jährige Frau in der U-Bahn läuft davon. Obwohl sie sich langsam und keineswegs hektisch durch die dicht an dicht stehenden Körper schiebt, rennt sie davon. In einer vollbesetzten U-Bahn ist es schwer davon zu laufen. Diese Frau kann es. Sie ist geübt darin. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen bahnt sie sich zielstrebige ihren Weg und wirkt dabei nicht unfreundlich. Sie muss sich durch die Menschen schieben um zur Tür zu kommen. Das ist leichter, wenn man lächelt. Dann beachtet einen niemanden und sie läuft nicht Gefahr, dass einer sie zu lange ansieht. Blickkontakt mag sie nicht, das sieht man, denn sie vermeidet ihn eine Spur zu bedacht.
Würde man dieser Frau nur für fünf Sekunden die Hand auf den Unterarm legen, sie würde zusammen brechen. Ein Mensch, der sich so sehr konzentriert gerade zu stehen, der hat kein Rückrad mehr.

Sie erinnert mich an dich. Ich hätte es nicht ertragen, dich an diese eine, meine liebste, wunderschöne Stelle im Wald mitzunehmen. Obwohl du für mich gelogen und die goldenen Blätter der Bäume als schön bezeichnet hättest, hätte ich gewusst, dass sie für dich nicht weiter als welkes Laub gewesen wären. Ein Mensch, der die Schönheiten des Lebens zwar sieht, sie aber nicht mehr empfinden kann, hätte mir diesen  Ort verdorben. Trotzdem wäre ich gerne mit dir durch diesen Wald gegangen. Hättest du meine Hand in der deinen gehalten, wären ich leichter durch das Gestrüpp abseits der Wege gelaufen. Im Windschatten deines Rückens, lies es sich gut aushalten. Solange man nicht allzu genau hinsah. Wer uns beobachtete, hätte nicht geglaubt, dass es ich gewesen bin, die uns den Weg durch die letzten Monate gebahnt hat. Es sah ja immer aus, als würdest du ein Kind hinter dir her ziehen. Selten hast du meine Hand genommen, meistens nur mein Handgelenk umschlossen und warst mir dabei immer einen Schritt voraus. Man hat nicht gesehen, dass du die letzten Wochen überhaupt nicht mehr vom Fleck gekommen bist, sondern dich längst nur noch im Kreis gedreht hast. Für energisch und zielstrebig hielt dich nur noch, wer dich nicht kannte. Und dass dich kaum noch einer kannte, dafür hattest du seit langem gesorgt.

Es ist so leicht, langsam zu verschwinden. Man ruft seltener zurück, meldet sich weniger und hält die Fassade eines zufrieden Lebens gerade soweit aufrecht, dass niemand nachfragt. Die wenigsten fragen ja nach. Ein Lächeln und wenn man sich zufällig trifft, werden ein paar belanglose Floskeln ausgetauscht. „Läuft“ ist eine ausreichende Antwort und zwei, drei Kommentare im Quartal bei Facebook genug um ein Lebenszeichen gegeben zu haben. Ich frage mich, wann deine Freunde bemerkt haben, dass du endgültig verstummt bist. Hat es ihnen jemand gesagt oder glauben einige von ihnen noch immer, dass du dich einfach nur zurück gezogen hast?

Ich hätte dich auch nicht mitnehmen können, an diesen See. Von der Westseite seines Ufers sieht man die Berge am besten. Es ist ein so schöner Blick, dass man ihn nur mit jemanden teilen sollte, der die Schönheit noch empfinden kann. Mit dir an meiner Seite hätte ich mich nur gefragt, was genau du bei etwas so schönem überhaupt noch empfindest. Wärst du bei mir gewesen, dann wärst du hinter mir gestanden und hättest die Arme von hinten um mich geschlungen. Solange ich dir nicht in die Augen geschaut hätte, wäre alles gut gewesen. In deinen Armen musste man sich geborgen fühlen. Sie waren so kräftig wie deine Schultern, die einen wunderbar von allem abschirmen konnten. Nur in die Augen, in die durfte man dir am Ende nicht mehr zu lange sehen. Ein Jahr zu vor war ich es gewesen, die lachend den Blick abwandte, wenn du mich zu lange angesehen hast. Es machte mich verlegen und du zogst mich mit deinem Grinsen auf. Am Ende warst immer du es, der weg gesehen hat. Da ranntest du schon. Ich habe erst damit begonnen, nachdem du endgültig stehen geblieben bist.

Ich weiß, dass sie läuft, die Frau in der U-Bahn. Ich weiß es, weil ich es selbst den ganzen Monat schon mache. Ich laufe durch die Straßen der Altstadt und mir ist kalt. Ich laufe schnell, obwohl wir schlendern. Ich renne davon, während wir uns auf die Stufen in einem der Hinterhöfe setzen und uns ganz ruhig unterhalten. Ich laufe und renne, weil ich im Oktober nicht stehen bleiben kann. Ich laufe in Gedanken die Straße hinunter um nicht nachzudenken, während ich ruhig mit Freunden an einem Tisch sitze und genüsslich einen Teller Pasta esse. Selbst beim einschlafen renne ich und nur deshalb sehe ich, dass auch die Frau in der U-Bahn rennt. An der Tür bleibe ich mit meiner Tasche an ihrem Schirm hängen. Sie sieht mich an. Nur ganz kurz, dann geht sie schnell weiter. Wir erkennen uns und vermutlich ahnt sie, dass ich mich bei einem längeren Blick oder gar einem freundlichen Wort auf den Boden gesetzt und nicht mehr aufgestanden wäre.  

In drei Tagen ist dein Geburtstag. Wäre dein Geburtstag. Wenn der Tag vorüber ist, werde ich wieder aufhören zu rennen. Bis zum Mai, da geht es nicht anders. Anfang und Ende, das ist ein schlechter Witz. Für mich ist es nicht zu Ende, dein Ende. Ein hübsches Abschiedsgeschenk, diese endlose Rennerei.

19 Gedanken zu “Sie rennt

  1. Wer rennt, hat es eilig. Schneller ankommen – aber wo?

    Angeblich soll die Zeit alle Wunden heilen. Aber es hat niemand gesagt wieviel Zeit dafür nötig ist. Es kann 1 Sekunde sein oder tausend Jahre.

    Aber wenn ich das Gefühl habe, rennen zu müssen – dann gibt es keinen Grund, sich zum Schlendern zu zwingen – außer, wenn mir beim Rennen die Luft knapp wird.

    Und wenn man zu schnell rennt, übersieht man auch schöne Dinge am Wegesrand.

    Aber eigentlich ist es nicht entscheidend, wie schnell wir rennen. Hauptsache, wir stehen nicht still!
    Jeder Schritt ist wichtig – jeder einzelne!

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    1. Es ist ganz gut, dass einem niemand sagt, wann eine Wunde heilt. Es wäre doch grausam, zu wissen, dass noch ewig dauert und auch wenn ich das Sprichwort nicht mag, mit der Zeit wird vieles besser und das ist ja schon mal was.
      Das Übersehen von Dingen ist gefährlich und schade. Vielleicht sollte man manchmal rennen, bis einem die Luft wegbleibt und dann wieder damit aufhören. Ihren letzten Satz aber, den kann ich nur unterstreichen.

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  2. Mit der Zeit wird nicht alles besser, es wird anders. Trauer wird notdürftig überdeckt, um bei der kleinsten Kleinigkeit wieder aufzureissen. Nach und nach kittet man die offenen Stellen….Rennen ist so viel einfacher.

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  3. Das tönt so, als ob es nicht „nur“ Literatur wäre. Ich weiss gar nicht, ob man hier Ausdauer wünsche soll oder doch eher das Ausgehen des Atems, der einem endlich zum Innehalten zwingt. Vielleicht hilft auch einfach die melancholische Schönheit des Herbstes, um die Stürme etwas zur Ruhe zu bringen.

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  4. Liebe Mitzi, den Mai haben wir als gemeinsamen Monat, nur dass bei mir das symbolische Rennen aufgehört hat nach langer, langer Zeit – jetzt ist es nur noch friedliche Erinnerung. Der zweite Monat, der Geburtstag, kommt bei mir bzw. ihm bald hinterher, nämlich im Juli. Der ist gar nicht mehr traurig, sondern von vielen, vielen guten Gedanken überlagert. – Wenn du das auch möchtest, dann wünsche ich dir, dass du in den entsprechenden Monaten beschaulicher laufen oder rennen kannst.
    Herzlichst Clara

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    1. Irgendwann, Clara, renne ich auch nicht mehr. Ich werde schon langsamer. Und der Gedanke, dass die Erinnerungen schön werden, das mag ich glauben. Es ist ja jetzt schon so.
      Und ja….wünsch mir das, das ist gut 🙂

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