Schönes, schönes Leben

An manchen Tagen ist mir die Welt zu groß und zu unübersichtlich um sie zu verstehen. Es ist leichter, sich auf den Mikrokosmos zu konzentrieren, der das direkte Umfeld bildet. Er unterscheidet sich nicht viel vom großen. Auch in meinem Haus ist all das zu finden, komprimiert und übersichtlich, das die komplette Stadt repräsentiert und wahrscheinlich noch mehr. An manchen Tagen überfordert mich auch das.
Neben mir zerbricht eine Welt, während über mir ein neues Leben eingezogen ist. Unten stirbt einer und einer, der ihn vermisst, bleibt übrig, während im Hinterhaus so heftig gestritten wird, dass man den Laubengang meidet und sein Paket lieber auf der Post abholt. Rechts neben mir hoffen sie, während sie ganz oben längst damit aufgehört haben.

An manchen Tagen will ich vom Elend der Welt nichts sehen und seh es doch durch das Küchenfenster. Da ist das Kind, das seit April am Fenster seines Kinderzimmers weint. Und wenn es sich in den Schlaf geweint hat, weint auf dem Balkon die Mutter. Der Vater ist weg, da kann man nichts machen. Im Haus ist es wie in der restlichen Stadt auch. Die einen wählen schwarz, die andern grün und die ganz hinten schon lange gar nicht mehr. Der oben muss nicht aufs Geld schauen, während die direkt unter ihm jeden Cent zweimal umdreht. Den Neuen unten kenn ich gar nicht und die neben mir so gut, dass ihr Kind die Nacht bei mir verbringt, wenn alle Stricke reißen.

Im Kleinen ist es wie im Großen. Man kommt nicht aus. Nur mein Balkon, der ist manchmal eine Insel. Wenn die Schmetterlingsundbienensaatmischung einen Meter hoch gewachsen ist, dann sehe ich nur bunt und grün und höre nur das Summen und Brummen. Dieses Jahr wächst sie mir zu langsam. Es ist Mai und der Mai ist gemein. Wunderschön, aber gemein. Bis die Blumen hoch genug sind, verstecke ich mich im Rosengarten hinter dem Flieder. Aber auch dort wird gelacht und geweint, diskutiert und gestritten. Man kommt ja doch nicht aus. Das ist schön, oder, höre ich dich sagen und sehe, dass du den Kopf in den Nacken legst und das Gesicht in die Abendsonne hältst. Im Hinterhaus streiten sie wieder, sage ich und sehe dich lächeln. Ob du nicht hörst, wie garstig sie ist, will ich wissen und du nickst ohne die Augen zu öffnen. Er doch auch. Sie werden sich trennen, vermute ich und verstehe nicht, wie du glücklich Lächeln kannst, weil das doch traurig ist. So traurig wie das Gesicht von der, deren Hund gestern eingeschläfert wurde und der Wegzug von denen, die ich so mochte. Da ist heute nichts schönes, das musst du doch sehen.

Du siehst, sagst du, nur eine im Vorderhaus, 2. Stock, die heute schlechte Laune hat und nicht sehen will, was sie sieht. Eine, die nicht sieht, dass Streit manchmal Not tut, die nicht wissen will, dass ein Auszug der einen, den Einzug anderer bedeutet und die ahnen sollte, dass die Alte schon morgen einen neuen Hund aus dem Tierheim holen wird. Du siehst, sagst du, nur eine, die den Mai nicht mag und sich deshalb verstecken möchte. Etwas das dumm ist. Dein Arm liegt über meinen Schultern und obwohl er nicht da ist, ist er warm und schwer. Dumm, weil es doch das Leben ist, vor dem ich mich verstecken möchte. Dieses schöne, schöne Leben vor dem man nicht davon laufen kann. Ich höre dich lachen und muss dich nicht auf die Ironie in deinen Worten hinweisen. 

Was machen wir jetzt, frage ich dich und sehe dein Lächeln so deutlich. Nichts, sagst du. Einatmen, ausatmen und einatmen und ausatmen. Es hilft ja nichts. Vor dem Leben kann man nicht davon laufen, wiederholst du und lachst. Das hättest du dir früher überlegen sollen, sage ich, um das letzte Wort zu haben. Dann sitzen wir still vor dem Küchenfenster in der Sonne. Über uns wird gestritten und unter uns gelacht. Die hinten versöhnen sich und die vorne unter dem Dach rücken die Möbel auseinander.

Und die im Vorderhaus, 2. Stock, sitzt in der Sonne und führt Selbstgespräche. Erst missmutig, dann lächelnd. Es hilft ja nichts.

21 Gedanken zu “Schönes, schönes Leben

  1. Das ist sehr schön geschrieben. Danke dafür.
    Hier im Haus gibt es ja auch viele Geschichten, aber man darf nicht alle erzählen. Viele kennt man auch nur in Bruchstücken.

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    1. Das stimmt. Man darf nicht alle erzählen. Manche gehören einem nicht und sie auszuborgen würde sich falsch anfühlen. Ich muss auch aufpassen. Paul hat mir schon einen Maulkorb verpasst ;). Präventiv sozusagen.

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  2. Wunderschön beschrieben. Du bist wirklich eine Künstlerin der Worte und malst, mit jedem deiner Sätze, Bilder in meinen Kopf.
    Ich wünschte oft, dass ich die Gabe hätte die Dinge ähnlich zu interpretieren. Ich Ärger mich nur über den Krach, den du e Leute über und unter mir machen… wie schön, dass ich durch deine Geschichten einen liebevolleren Blick auf das, was um mich herum passiert, bekomme.
    Danke, für all dein teilen deiner Gedanken.

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    1. Vielen, vielen Dank, Lotti. Es ist schön zu lesen, dass beim Lesen die Bilder entstehen, die ich zu beschreiben versuche.
      Auch ich ärgere mich oft genug einfach nur und sehe nur Dinge die mich nerven. Wenn ich sie dann aufschreibe, ändert sich bei mir selbst der Blick.
      Danke fürs begleiten.

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  3. Hallo Mitzi, du hast es so vortrefflich beschrieben, dass ich es mir gut vorstellen kann – besonders den, der nicht mehr da ist, mit dem du aber immer noch kommunizierst.
    Entweder wurde in den 70er Jahren kompakter gebaut oder Harthörigkeit hat auch seine Vorteile – ich bekomme nichts von meinen Mitmietern mit, es sei denn, sie lassen sich ein neues Bad einbauen. Aber das geht vorüber.
    Ich habe es aber auch gut – über mir niemand und neben mir nur eine Wand zu der jungen Familie, die gerade ein Mädchen bekommen haben. Manchmal höre ich die unter mir gegen die Heizung donnern, weil ihnen der eine kleine Besuchsjunge schon wieder zu viel ist, der nichts weiter macht. Ansonsten aus dem Nachbarhaus ist nichts zu hören, denn da gibt es ja auch doppelte Trennwände.
    Lebe dein Leben freudevoll weiter!

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    1. Es ist sommerlich warm, Clara. Da sind die Fenster und Türen offen und man vergisst, dass die Geräusche raus getragen werden. Im Winter höre ich auch viel weniger. Zum Glück – das Theater würde mich schon sehr nerven ;). Vielleicht ist deine Wohnung aber auch wirklich besser isoliert und darüber kann man sich auch glücklich schätzen oder ich bin einfach viel neugieriger und lausche mehr ;).
      Vielen lieben Dank und das Leben soll für uns beide noch viel freudvolles bereit halten. Das wird es auch. Das weiß ich.

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      1. Das wird es, da wir beide mit offenen Augen durch die Welt gehen und du auch mit offenen Ohren. Bei geöffneten Fenstern kommt so ein Höllenverkehrslärm hoch – da könnte ich der Nachbarwohnung jemand vom Leben zum Tod befördert werden, das würde keiner hören. Jeden Pistolenschuss hielte man für eine Fehlzündung 🙂

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      2. Ah ja. Verkehrslärm übertönt alles. Ich wohnte mal einer Straßenbahnstation und habe die blöde Tram schnell verflucht. Da hab ich auch nichts mitbekommen.
        Ich hoffe die Waffen in deinem Haus halten sich in Grenzen 😉

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  4. Liebe Mitzi,
    was Bettina und Lotti geschrieben haben, kann ich gar nicht besser ausdrücken.
    Ich habe mal in einem Forum für Fotografen einen Kommentar gelesen, an den ich mich nun erinnere.
    Da postet ein genialer Fotograf andauernd Fotos, die einfach unübertroffen sind. Man findet nach einer Weile gar keine lobenden Worte mehr, die nicht schon unzählige Male verwendet wurden.
    Da schrieb jemand:“ Du musst auch mal ein durchschnittliches oder gar fehlerhaftes Foto posten, damit man mal meckern kann – sonst wird deine Perfektion einfach zur Gewohnheit.“

    Schreiben Sie bitte irgendwann mal eine richtig schlechte Geschichte – ach nee – muss nich sein – wir kommen auch so klar. 😉

    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich,
      manches ist so schön zu lesen, dass ich es gar nicht weiter kommentieren möchte. Es ist aber auch so schön, dass ich es nicht einfach stehen lassen kann. Deshalb schreibe ich Ihnen jetzt, dass ich hier sitze und nach dem Lesen von Ihren und den anderen Worten ein ganz warmes Gefühl im Bauch habe und mich sehr, sehr, sehr freue.
      Herzliche Grüße
      Mitzi
      P.S. Und doch….Durchschnitt gibt es hier reichlich. Sie und ich lesen unsere Beiträge gegenseitig nur schon so lange und so gerne, dass Sie das einfach überlesen 😉

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      1. Liebe Mitzi,
        seit ich Sie kenne, sehe ich aber, dass Ihr Blick auf die Menschen sehr viel liebevoller ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie keine Zeit verschwenden, über die ganz fiesen Menschen zu berichten, die Ihnen sicher schon begegnet sind. Das beginne ich erst in meinem hohen Alter zu lernen, damit keine Zeit zu verschwenden. Schließlich habe ich nicht mehr so viel Zeit. Ich werde ja nur 108 – das ist schon in 40 Jahren. 😉
        Gruß Heinrich

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  5. Servus Mitzi,
    du kennst ja vermutlich auch die BR-Serie „Die Hausmeisterin“ (’87-’92).
    Daran dachte ich gerade, als ich deinen Text konsumierte..;-)
    Ich hab alle Folgen auf einer Festplatte archiviert, da ich immer
    wieder gerne eine ohne mehrere Folgen gucke.
    Liebenswert aus dem Stadtviertelleben gegriffen. Warmherzige Figuren,
    tolle Schauspieler. „D’Martha und da Josef Haselbeck… Köstlich.
    Das „Who-is-Who“ der bayrischen Mundartschauspieler.

    „A bissl was geht immer“..:-)

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  6. Bei euch ist ja etwas los… Das Einzige was bei uns mal tobt sind entweder wir, weil unser junger Obendrüber mal wieder die Musikboxen zum überdrehen bringt oder die Vögel da die Nachbarskatze auftaucht ist. Ich weiß noch nicht ganz, was mir lieber ist… In Sachen Poesie hast du jedenfalls die Nase ganz weit vorn.

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  7. Bei uns gibt es keine Gespräche. Kein weinen. Nur Rasen Äther von früh bis spät. Mopeds und freudig aber lautlos schaffenden Nachbarn. Hab ein Versteck im Garten in dem sich faules Lesen zelebrieren lässt. Gegen den Lärm helfen lärmabsorbierende Kopfhörer.

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