Ein bisschen begraben

Zwölf Monate mit dir. Ich mache das letzte Foto und setze mich trotz des Nieselregens unter den Nussbaum. Es regnet, höre ich dich leise sagen und schüttele den Kopf, obwohl ich bereits nass und durchgefroren bin. In letzter Zeit höre ich dich seltener und dieses letzte Foto im Rosengarten fühlt sich wie ein Abschied an, für den ich noch nicht bereit bin. Ich sehe dich durch die Beete streifen. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und die Schultern im Wind und Regen leicht nach oben gezogen. So stehst du immer, wenn dir kalt ist oder du dich nicht wohl fühlst. Standest, korrigierst du mich. So stand ich, wenn mir kalt war. Benutze endlich die richtige Zeitform, bittest du mich und weiter, mich doch bitte korrekt zu erinnern, dass du meist so im Regen oder Schnee standest, weil ich deinen Pullover oder deine Jacke in Besitz genommen hatte. Mir ist zu kalt um zu streiten und ich wiederhole brav, dass er so stand und streite doch, indem ich dich nicht mehr anspreche, sondern in der dritten Person von dir erzähle. Es gefällt dir nicht und doch nickst du, um dir nicht selbst zu widersprechen.

Du verblasst, wir merken es beide und kämpfen dagegen an. Ich laut und störrisch, weil ich dich nicht loslassen möchte und du leise und verhalten, weil es deinem rationalen Denken logisch erscheint, dass das was nicht mehr ist, verblassen muss. Und doch gehst du nicht. Es wäre ein leichtes, zwischen den Büschen und Bäumen zu verschwinden und ich frage dich, warum du trotzdem noch hier stehst. Dein Lächeln ist warm als du zu der Stelle gehst, an der ich vor langem unsere Olivenkerne vergraben habe. Hier ist ein guter Platz um zu bleiben, höre ich dich sagen und auch, dass es nicht deine Entscheidung ist. Die deine hättest du vor langem getroffen und ich nun die meine. Hier, bei den Olivenkernen, hätte ich dich begraben und hier würdest du nun eben bleiben. Nicht der schlechteste Ort denke ich und setze mich heulend neben dich, als ich mir eingestehen muss, dass ich heute am letzten Tag der zwölf Monate nun wohl doch dein Grab gefunden habe.

Es ist nicht vorbei, das wissen wir beide. Nur weil einer von der Brücke springt, ist nichts vorbei. Nicht, solange noch einer oben steht und dem, der gesprungen ist nachblickt. Solange ich und Teile deiner Familie noch hier sind, ist es auch ein Teil von dir. Du siehst mich nicht an, weil du dir des Egoismus und der Konsequenzen deines Handelns immer sehr bewusst warst und sie selbst nicht verteidigen konntest und wolltest. Ich werde ich nicht los werden und ich will es auch nicht, aber du musst verblassen. Du musst, weil wir uns beide noch an den Anfang nach dem Ende erinnern und uns diese Zeit noch heute Angst macht. Selten, aber manchmal ganz am Anfang, wenn eine Brücke auf der ich stand, besonders hoch oder ein Balkon im obersten Stock war, dann vermisste ich dich so sehr, dass ich Balkon und Brücke sofort verlassen musste. Monatelang bin ich nicht mit der U-Bahn gefahren, weil ich Angst hatte, gerade dann an dich zu denken, wenn sie einfährt. Ich bin nicht du, nie wäre ich gesprungen, aber alleine daran zu denken, machte mir Angst. Es gab Momente in denen der Grad schmal war. Erschreckend schmal. So schmal, dass es mich anstrengte, das Schöne überhaupt noch wahr zu nehmen. Deine Stimme, die ich heute noch höre, war in diesen Tagen laut. Als du noch da warst, real und bei mir standest, war sie ruhig. Oft sogar leise. Besonders wenn du wirklich wütend warst, wurdest du still. Du gehörst zu den Menschen deren  Wut man daran erkannte, dass sie verstummten. Aber damals hast du geschrien. Damals brüllte deine Stimme in meinem Kopf. Auch du hattest Angst.

Egal was ich mache, selbst wenn du verblasst, ich werde dich nie ganz los werden. Selbst wenn ich nicht an dich denke, spüre ich, dass du noch da bist. Und wenn ich an dich denke, dann weiß ich, dass du längst nicht mehr da bist. Du verblasst, aber du lässt mich nicht los. Was immer ich tue, ein Stück von dir beobachtet mich dabei. Ich frage mich oft, wie ein Mensch, der nicht mehr ist, mich dennoch mit immer neuen Erinnerungen versorgen kann. Wie viele es sind, weiß ich erst seit du nicht mehr bei mir bist und mich dennoch nie losgelassen hast. Ich will nicht an dich denken und möchte dich nicht vergessen. Ich möchte dich nicht auf der Bettkante sitzen haben und will dich nicht wegschicken. Ich möchte den Menschen der nach dir riecht und meine Lift benutzt, sein Aftershave vor die Füße werfen. Ich möchte den Männern, die dir entfernt ähnlich sehen, sagen dass sie verschwinden sollen weil sie ein billiger Abklatsch von dir sind und ich heule im Lift weil ich an dich denke und dich vergessen möchte. Ich sehe dich nachts an der Brücke stehen und ich höre dich bevor ich einschlafe.
Das geht nicht mehr. Heute sage ich es dir, das erste Mal. Es geht nicht mehr, weil du mir jedes Mal ein kleines Stück von dir in die Tasche steckst und ich sie seit Jahren mit mir herum schleppe. Beständig wird die Tasche schwerer weil du nicht weniger, sondern mehr wirst. Das geht nicht mehr.

Ich soll dich loslassen hast du anfangs gesagt. Heute sehe ich dich nur noch mit den Schultern zucken. Wir haben beide aufgegeben und lassen uns nicht los. Ungesund nennst du es. Ungefragt nenne ich es. Irgendwann ist alles geschrieben und alles zu Ende gedacht sagst du und ich rechne dir vor dass ich bei diesem Tempo wohl auch mit Achtzig noch genug Erinnerungen hätte, weil wir angesichts des nahen Endes viel intensiver gelebt haben. Also verblasse ich nicht, höre ich dich fragen und schüttele den Kopf. Doch. Oder nein, aber die Tasche wird leichter. Irgendwann in den letzten zwölf Monaten habe ich sie wohl hier bei den Olivenkernen abgestellt und seit ich sie nicht täglich über den Schultern hängen habe, atme ich freier und gehe gerader. Einfach abgestellt, höre ich dich lachen und gebe dem Bild von dir einen leichten Schubs. Als ob es einfach gewesen wäre dich hier her zu schleppen. Nie war etwas schwerer. 

Du wirst nass, sagst du und ich nicke obwohl es nicht mehr regnet. Wir müssen uns loslassen. Nicht ganz, aber ein bisschen.

Ich bin nicht du. Wenn ich muss, kann ich auch ohne dich leben. Das erste Mal, ist es nicht dein Bild das verblasst. Das erste Mal bin ich es, die sich abwendet um zu gehen. Ich drehe mich nicht um, aber ich werfe ein Handvoll Olivenkerne über die Beete und winke dir im gehen. Dein Lachen begleitet mich, aber du bleibst an der Stelle, an der ich dich endlich begraben habe.

Danke liebes Zeilenende Ohne es zu wissen oder zu wollen, hast du mir mit deinem zwölf Monatsprojekt etwas ganz besonderes geschenkt. Sollte es je dazu kommen, die erste und letzte Runde gehen auf mich. Und die dazwischen auch ;).

18 Gedanken zu “Ein bisschen begraben

  1. das herz sollte erst einmal alleine stehen. aber ganz ohne worte wollte ich dennoch nicht gehen.
    es gibt menschen in unserem leben, die pflanzen etwas von sich in uns ein und erst wenn sie gehen, merken wir, wie sehr sie ein teil von uns geworden sind. ein bisschen wie mentale gentechnik, die die zusammensetzung unserer DNA verändert. los werden wir das nie wieder und ob das gut oder schlecht ist lasse ich einfach im raum stehen – das kommt mit sicherheit auf die situation an – und was man daraus macht.

    jeder darf und kann und soll in seinem tempo einen weg finden, mit verlust umzugehen. vielleicht ist es irgendwann zeit, wirklich abschied zu nehmen. vielleicht verschmilzt das bild von ihm irgendwann so sehr mit dir selbst, dass du ihn nicht mehr als externe energie wahrnimmst. vielleicht verschmilzt das, was er hinterlassen hat, irgendwann ganz zu einer person mit dir. vielleicht nicht. vielleicht bleibt er dein geist der vergangenheit, deine anlaufstelle für trost und traurigkeit.

    das einzige, worauf du acht geben solltest, ist, dass du kein schlechtes gewissen hast, wenn du ein stückchen weiter loslassen möchtest.
    fühl dich aus der ferne gedrückt.

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  2. Ich weiß nie so recht, was ich zu deiner Zwiesprache mit deinem verstorbenen Liebsten schreiben soll. Es ist so intim, was du da offenbarst. Als Literatur ist es beeindruckend. Von Mensch zu Mensch möchte ich dir sagen, liebe Mitzi, es ist gut, wenn man loslassen kann.“Loszulassen heißt noch lange nicht aufzugeben.“ (Peter Rudl)

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    1. Lieber Jules, mir würde es genau so gehen. Manches kann und will man nicht kommentieren. Ich überlege bei diesen Texten auch immer lange, ob und wenn ja wie und wann ich sie veröffentliche. Grundsätzlich immer dann, wenn für mich genug Abstand vorhanden ist und ich sie als, wenn auch persönliche, Erzählung sehe. Diesmal war es etwas anders. Um die zwölf Monate abzuschließen gehörte der Text trotzdem dazu.
      Liebe Grüße und danke.

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  3. Liebe Mitzi,
    weil auch ich nicht wusste, wie ich kommentieren könnte, hatte ich gestern nur ein paar Blümchen gepostet. (WordPress hat die abgelehnt) 😦
    Nun lese ich hier den Kommentar von Jules van der Ley. Genau so fühle ich es, hätte es aber nicht so gut zum Ausdruck bringen können!
    Gruß Heinrich

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