Träume U-Bahn Gedanken

„Das ist mir das Leben schuldig, verstehst du?“, erklärt die Frau schräg neben mir, ihrer Arbeitskollegin. Seit es  kühler geworden ist und öfter regnet, begleitet mich ihre Stimme auf dem Weg zur Arbeit. Sie und ich steigen morgens an der gleichen Haltestelle ein und sitzen uns häufig gegenüber. Ich mag ihre klare und dunkle Stimme, verstehe aber auch nach zwei Wochen noch immer nicht, warum ihr das Leben etwas schulden sollte. Der Pakt, den sie bei ihrer Geburt mit dem ganzen großen Universum geschlossen zu haben glaubt, steht für mein Empfinden auf einem doch recht wackligem Fundament.  Sie ist jetzt fünfundvierzig, höre ich sie sagen, da stehe es ihr doch zu, sich einen anständigen Urlaub leisten zu können und nicht mehr an einem mittelklassigen spanischem Strand zwischen lauter Großfamilien liegen zu müssen. Sie sagt es nicht zu mir. Wir kennen uns nicht. Wir sitzen nur zufällig nebeneinander. Und weil wir uns fremd sind, kann ich sie nicht fragen, wie sie denn auf die irrwitzige Idee kommt, dass ihr das Leben etwas schulden sollte. Schließlich hat sie selbst weder zu ihrer eigenen Geburt noch zum Erreichen des fünfundvierzigsten Lebensjahres etwas nennenswertes beigetragen. Sie, die mir in der U-Bahn gegenüber sitzt, hat viele Träume. Einen Teil davon habe ich in den letzten Tagen mitbekommen. Eine Wohnung mit einem anständigen Balkon, das würde ihr nach all den Jahren mit einem Wohnzimmer Richtung Norden zustehen. Auch ein besser bezahlter Job. Der aber nur für die nächsten Jahre, denn mit Fünfzig hätte sie keine Lust mehr täglich in die Arbeit zu fahren. Dann würde sie sich gerne im Süden niederlassen und dort ab und an ein paar Yogastunden geben und ansonsten als Lebensberaterin tätig sein. Natürlich auch ein Mann, der ihren Ansprüchen gerecht wird und eigentlich wäre sie schon lange an der Reihe um endlich einmal den Lotto Jackpot zu gewinnen.

Ein jedes U-Bahnabteil ist ein großer Sack voll Träume. Der kleine Junge ganz hinten träumt davon Pilot zu werden. Im April hörte ich ihn das sagen. Jetzt im Dezember will er vielleicht etwas ganz anderes werden. In dem Alter ändern sich Träume noch wöchentlich. Der alte Mann dagegen, der an seinem kleinen Finger einen goldenen Ring mit rotem Stein trägt, träumt womöglich nur noch einen Traum – mehr eine Erinnerung – an das Leben, dass er früher mit der Frau, die den Ring einmal trug, gelebt hat. Wovon ich selbst träume, frage ich mich und zucke mit den Schultern. Vor einigen Jahren, zuckte ich schon einmal so mit den Schultern, als mir kein rechter Traum einfallen wollte. Damals hielt der, der die Frage stellte, ein winziges Paar rote Sandalen in der Hand. Mein erstes Paar Schuhe, das wir im Keller gefunden hatten, brachte mich zum Lächeln. Zwischen Kartons sitzend erinnerte ich mich an den Traum des Kindergartenmädchens, das ich einmal gewesen war.  Ich wollte, wenn ich groß war, im Supermarkt an der Ecke arbeiten. Die Kassiererin, die jeden Abend auf dem Nachhauseweg an unserem Küchenfenster vorbei kam, erschien mir recht zufrieden zu sein und sie hatte eine rote Handtasche mit braunem Henkel. Die Vorstellung abends mit einer so hübschen Tasche nach Hause zu gehen und zuvor fröhlich den ganzen Tag zu kassieren und zu plaudern gefiel mir. So anspruchslos, wurde ich damals gefragt und nickte, als ich ein zweites Paar Schuhe aus einem Karton zog. Obwohl dort einige verstaubte Paare Spitzenschuhe lagen, kann ich mich nicht daran erinnern, jemals davon geträumt zu haben Ballerina zu werden. Es gab andere, die besser waren. Auch sonst stand nichts auf meiner Liste. Als Kind war ich erschreckend talentfrei und mir dessen sehr bewusst. Über die Vorstellung, dass mir das Leben etwas schulden würde, hätte ich wohl schon als Fünfzehnjährige herzhaft gelacht.

Natürlich habe ich geträumt. Als Kind, als junger Mensch und noch immer. Mit offenen und geschlossenen Augen stolpere ich träumend durch die Jahre. Aber wirklich erwartet habe ich, soweit ich mich erinnern kann, vom Leben nie etwas. Nichts, das mir von alleine zufallen würde. Noch heute erscheint es mir lächerlich, zu glauben, dass uns Zellhaufen das große Glück zusteht. Viel zu oft glaubt man es in der Hand zu haben und wenn man nur ein bisschen an der Oberfläche kratzt, merkt man, dass es billiger Tand war unter dessen glitzerndem Schmuck nur billiges und alltägliches steckt. Wieder spricht sie, die mir gegenüber sitzt, von dem was ihr zustehen würde. Das was ganz eindeutig ihr gehört und das sie aber noch nicht bekommen hat. Wie anstrengend das sein muss. Dieses Gerenne hinter dem, was einem doch zusteht.

Ich renne nicht. Mir steht nichts zu. Und trotzdem habe ich von fast allem sehr viel. Vom richtigen so einiges, vom falschen so gut wie nichts. Die Kunst liegt doch eigentlich darin, sich dem zu entledigen, was das Leben erschwert und weniger in der Suche nach dem was es erleichtert. Jetzt setze ich mich woanders hin. Denn das steht mir dann doch zu – ein Platz, an dem ich nicht mit mir fremden Träumen fremder Menschen behelligt werde.

31 Gedanken zu “Träume U-Bahn Gedanken

  1. Lieber Ulli,
    Mitzi erscheint nicht nur so, sie ist einfach so!
    Wobei die Ehrlichkeit selbstverständlich Grenzen hat. Gerade bei Träumen Niemand von uns würde alle Träume und Wünsche im Detail beschreiben.
    In bestimmten Situationen ist es sogar „verboten“, Wünsche laut auszusprechen. Zum Beispiel, wenn man eine Sternschnuppe sieht. 😉

    Liebe Mitzi,
    gut, dass Sie von den Träumen fremder Menschen zeitweise „behelligt“ wurden! Sonst hätten wir diese Geschichte nicht erfahren!
    Gruß Heinrich
    P.S. behelligt habe ich erwähnt, weil es auf meine Merkliste kommt! 😉

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    1. Lieber Heinrich,
      danke!
      Sternschnuppenwünsche müssen still gewünscht werden, das ist wirklich ganz besonders wichtig. Auch manch andere Wünsche, wünscht man besser im Stillen.

      Behelligt ist ein Wort, das seltsam klingt, wenn man es länger im Ohr behält. Ich bin gespannt, was Ihnen dazu einfällt :).

      Einen schönen zweiten Advent.

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  2. Liebe Mitzi,
    danke für Deine Träume und die Deines Gegenübers. In der U-Bahn ist es auch bei mir wechselhaft. Bei Bedarf scheue ich mich nicht, mal etwas zu sagen. Hin und wieder gibt es ein Gespräch. Könntest Du Dir vorstellen, dies Gegenüber einmal anzusprechen?
    Mit Adventsträumen, viele Grüße, Bernd

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    1. Interessante Frage, lieber Bernd.
      Ich glaube nicht. Manchmal ist es nötig etwas zu sagen. Wenn es einen selbst betrifft oder einer, der sich nicht traut, verbal von einer dritten Person angegangen wird.
      In diese Fall geht es mich ja nichts an. Wer bin ich, dieser Frau zu sagen, dass ich ihre Träume für überzogen halte und der Meinung bin, dass die Nichterfüllung eher der Normal- als Sollzustand sind. Nein, ich glaube, wenn ich in diesem Fall genervt bin, dann muss ich mich umsetzen. Würdest du sie ansprechen?
      Liebe Grüße

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  3. Ein wunderschöner Beitrag. Überhaupt lese ich in deinen Texten sehr gern. Notgedrungen fahre ich in den letzten Monaten vermehrt Zug und U-Bahn. Mittlerweile schreibe ich Gespräche mit, weil ich sie bewahren will, flüchtige Gesprächssplitter die Einblicke geben in fremde Leben und Träume. LG Xeniana

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    1. Vielen Dank, Xeniana.
      Es ist ein nicht schlechter Zeitvertreib, Gesprächsfetzen zu sammeln. Sie bringen einen häufig selbst zum Nachdenken und sind ganz oft einfach nur schön und interessant zu belauschen.
      Liebe Grüße

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  4. Sehr schöne Einstellung, die Deinen Gedanken zugrunde liegt. Richtige Demut kam bei mir vielleicht erst mit zunehmendem Alter. Davon, dass mir das Leben, die Menschheit oder das Universum etwas schuldet, bin ich allerdings noch nie ausgegangen.

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  5. Wer ist denn „das Leben“, das angeblich Schulden haben soll? Der Satz heißt doch, wenn er nicht als „das schulde ich mir“ gemeint ist, eigentlich „das schuldet ihr mir“. Oder doch vielleicht eine höhere Macht? Aber die höheren Mächte lassen in der Regel gern mal auf das Jenseits verweisen. Wäre das eine Lösung? Eine Art Bestellschein, den man in der Kirche ausfüllen lässt, pfarramtlich beglaubigt, und auf dem all das vermerkt wird, was das Leben schuldig geblieben ist. Zur jenseitigen Abarbeitung.

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  6. Mitzi, wollen wir mal zusammen paar Adressen von einigen Millionären raussuchen? Die Brüder ALDI sind ja wohl ein bisschen alt und einer auch schon tot. Vielleicht gibt es auch welche, die zu einer 45jährigen passen, damit sie sich endlich das erfüllen kann, was sie glaubt, dass es das Leben ihr schuldig ist.
    Sollte das dreist klappen, könntest du dir in einiger Zeit in der U-Bahn (falls sie noch U-Bahn fährt) die Klagen über ihren Mann anhören, der so despotisch ist, der nicht mehr kann und auch nicht mehr will, der immer sagt, wohin der nächste Urlaub geht.
    Igittigitt! Da mache ich doch meine handwerklichen Sachen lieber alle alleine.
    Liebe Grüße

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      1. Du gibst uns die Antwort schon selbst, liebe Clara. Es würde gar nichts bringen, zur Zufriedenheit etwas beitragen zu wollen. Ich fürchte sie gehört zu den Menschen, die immer eine gewisse Unzufriedenheit in sich tragen. Mich nervt sie eigentlich auch gar nicht. Ich bin nach dem Zuhören von solchen Gesprächen sogar zufriedener als zuvor. Weil mir weniger fehlt.
        Sie spricht mit einer (vermute ich) Arbeitskollegin, die mir ihr einsteigt. Die sagt aber meistens wenig und wenn, dann ähnliches wie die Unzufriedene.

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  7. Ein bestimmter Frauentyp mit einer ähnlichen Einstellung ist mir mal aufgefallen. Ich nannte sie bei mir: „Dashabenwirunsverdient-Tussen“, meistens sind sie höchstens Ehefrauen von irgendeinem Zahnarzt oder sonstwie Besserverdiener und haben auf unwägbaren Beschluss Anrechte erworben auf ein besseres Leben als die meisten. Träume sind meistens unschuldiger als das. Was du oben schreibst, liebe Mitzi, ist mal wieder so erfreulich klar gedacht und formuliert, und auch deine Bilanz gefällt mir gut.

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    1. Deine Bezeichnung gefällt mir, weil sie in meinen Gedanken ähnlich lautet. Mir begegnen auch selten Menschen, die wirklich wenig haben und so denken. Schön auch, dass Träume meist unschuldiger sind.
      Setzten wir uns einfach ein paar Stühle weiter, wenn die Tussen auftauchen, lieber Jules.

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  8. Deine Bezeichnung gefällt mir, weil sie in meinen Gedanken ähnlich lautet. Mir begegnen auch selten Menschen, die wirklich wenig haben und so denken. Schön auch, dass Träume meist unschuldiger sind.
    Setzten wir uns einfach ein paar Stühle weiter, wenn die Tussen auftauchen, lieber Jules.

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  9. Danke für diese wundervollen Worte und Beobachtung. Ich mag es nicht, wenn sich Leute über etwas beschweren es aber nie ändern. Man könnte doch einfach für den selben Preis ein anderes Reiseziel buchen etc. Ich denke es ist in Ordnung sowohl unrealistische Träume als auch realistische zu besitzen. Nur sollte man sich darüber im klaren sein was, was ist. Ein tatsächliches „Scotty beam me up“ ist recht unrealistisch, war aber der Traum meiner Schulzeit.

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    1. Unrealistische Träume haben ihre Berechtigung. Deshalb sind es Träume. Nur dieses Anspruchsdenken, dass geht mir auf den Geist. Wie du schreibst….dann sollen sie doch bitte etwas ändern. Bei vielen sollte das machbar sein.
      Danke dir…fürs mitbeobachten.

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