Zurück geblättert

Ich gehe ihm auf die Nerven. Obwohl er nichts sagt, merke ich es. Er atmet zu regelmäßig um entspannt zu sein – penetrant gleichmäßig und kontrolliert. Acht Mal atmet er langsam und tief ein und wieder aus. Dann eine kleine Pause. Danach der neunte Atemzug mit einem tieferen Einatmen und einem viel längeren Ausatmen. Dieser neunte Atemzug macht mich wahnsinnig. Mitzuzählen macht es nicht besser. Den ersten, der neunten Atemzüge empfand ich als übertrieben, den fünften als überflüssig und störend. Der achtzehnte, der neunten Atemzüge aber, der ist eine Frechheit. Ich sage nichts, atme nur selbst ein und aus. Einmal nur, aber das etwas zu tief und eine Spur zu laut. Zu laut für einen Nachmittag an dem  sich die Luft zum Schneiden dick anfühlt und wir beide ahnen, dass ein falsches Wort reicht, um uns verbal in die Luft zu jagen. In seinem Fall reicht ein Atemzug – meiner.

Man kann ein Notebook zuklappen, um es zu schießen und man kann ein Notebook so zuklappen, dass nach seinem Schließen unzählige Fragezeichen aufsteigen und in der Luft hängen bleiben. Dünnes Eis, sagt er und verwandelt eines der Fragezeichen in ein Ausrufezeichen. Dünnes Eis, Mimi, wiederholt er und mir fällt auf, dass er mich nur dann „Mimi“ nennt, wenn er vergisst, dass ihm große Emotionalität eigentlich nicht liegt oder er so angefressen ist, dass das Kosewort die deutlich unfreundlichere Bezeichnung, die ihm auf der Zunge liegt, überdecken muss. Weiterlesen

So etwa vierzig Jahre

In meine Küche scheint die Sonne. Sie hat nur ein kleines Fenster und wenn sich an einem Herbsttag eine Wolke vor die Sonne schiebt, wird es sofort dunkel in meiner Küche. Eine Wolke die das wenige blasse Licht eines Herbsttages vertreibt, erinnert mich noch immer an dich. Wenn du wirklich wütend warst, wurde es immer ein wenig dunkler und ein paar Grad kälter. Ich kenne und kannte niemanden, der so kalt und abweisend wie du sein konnte. Wenn du wütend warst, dann wurde es auch im August kalt. Dann braucht es keine Wolken um neben dir zu frieren. Weiterlesen

Träume U-Bahn Gedanken

„Das ist mir das Leben schuldig, verstehst du?“, erklärt die Frau schräg neben mir, ihrer Arbeitskollegin. Seit es  kühler geworden ist und öfter regnet, begleitet mich ihre Stimme auf dem Weg zur Arbeit. Sie und ich steigen morgens an der gleichen Haltestelle ein und sitzen uns häufig gegenüber. Ich mag ihre klare und dunkle Stimme, verstehe aber auch nach zwei Wochen noch immer nicht, warum ihr das Leben etwas schulden sollte. Der Pakt, den sie bei ihrer Geburt mit dem ganzen großen Universum geschlossen zu haben glaubt, steht für mein Empfinden auf einem doch recht wackligem Fundament.  Sie ist jetzt fünfundvierzig, höre ich sie sagen, da stehe es ihr doch zu, sich einen anständigen Urlaub leisten zu können und nicht mehr an einem mittelklassigen spanischem Strand zwischen lauter Großfamilien liegen zu müssen. Sie sagt es nicht zu mir. Wir kennen uns nicht. Wir sitzen nur zufällig nebeneinander. Und weil wir uns fremd sind, kann ich sie nicht fragen, wie sie denn auf die irrwitzige Idee kommt, dass ihr das Leben etwas schulden sollte. Schließlich hat sie selbst weder zu ihrer eigenen Geburt noch zum Erreichen des fünfundvierzigsten Lebensjahres etwas nennenswertes beigetragen. Sie, die mir in der U-Bahn gegenüber sitzt, hat viele Träume. Einen Teil davon habe ich in den letzten Tagen mitbekommen. Eine Wohnung mit einem anständigen Balkon, das würde ihr nach all den Jahren mit einem Wohnzimmer Richtung Norden zustehen. Auch ein besser bezahlter Job. Der aber nur für die nächsten Jahre, denn mit Fünfzig hätte sie keine Lust mehr täglich in die Arbeit zu fahren. Dann würde sie sich gerne im Süden niederlassen und dort ab und an ein paar Yogastunden geben und ansonsten als Lebensberaterin tätig sein. Natürlich auch ein Mann, der ihren Ansprüchen gerecht wird und eigentlich wäre sie schon lange an der Reihe um endlich einmal den Lotto Jackpot zu gewinnen. Weiterlesen

015 irgendwas 23

1412355 war die Telefonnummer meiner Großeltern. Seit 26 Jahren gehört der Anschluss jemand anderem und doch erinnere ich mich noch gut an die Tastenkombination aus meiner Kindheit. Die 661341 war die Nummer der Wohnung in der ich aufgewachsen bin und 66xxxx gehört den Eltern meiner ältesten Freundin. Während ich die ihre nicht auswendig kann,  ist die der Eltern für immer in meinem Kopf gespeichert. Ich kann mich nur an jene erinnern, die ich nie irgendwo gespeichert habe, weil man sie früher am besten im Kopf behielt. In meinem Kopf war auch die, die mit 23 endete. Weiterlesen