Herz und Hirn begrüßten den Tod des jungen Werthers – irgendwann ist es auch mal gut.

„Nichts ist interessanter zu beobachten, als ein Trupp Barrikadenkämpfer, der sich auf einen feindlichen Sturm vorbereitet.“ Das jedenfalls meint Victor Hugo irgendwo auf den Seiten zwischen 905 und 925 seines Romans „Die Elenden“. Davon ist auszugehen, denn ansonsten hätte er die Vorbereitungen nicht auf unzähligen Seiten geschildert und den Leser nach vollbrachten Ausführungen extra darauf hingewiesen. Einer meiner Freunde würde dieser Aussage sofort zustimmen. Da wo sich Victor Hugo schreibend über lange Kapitel in diesen Betrachtungen verliert, würde er sich lesend in eben diesen mit großem Vergnügen treiben lassen. Für ihn wären weite Teile des Romans nebensächlich, während er sich vom Pariser Juniaufstand des Jahre 1832 gerne berichten lies. Ich nicht. Ich quälte mich während der heutigen S-Bahn Fahrt so ungeduldig durch die Seiten wie schon während des Berichtes der Folgen der Schlacht bei Waterloo. Nur widerwillig folge ich dem Autor auf das Schlachtfeld bei Nacht. Wenn ich ehrlich bin, dann langweilt es mich und ich hätte mich gerne mit einer kurzen und knappen Zusammenfassung der Ereignisse zufrieden gegen. Die Kapitel lese ich nur, weil ich a) Angst habe etwas wichtiges zu versäumen und b) aus Respekt gegenüber dem Autor, seine leidenschaftlichen Zeilen einfach zu ignorieren.

Im Falle Hugos mache ich es dennoch und überfliege jene Kapitel nur oberflächlich auf der Suche nach den Namen der Figuren, die mir in den letzten 879 Seiten ans Herz gewachsen sind. Flott und ungeduldig blättere ich durch die Seiten und verweile auf der Hochfläche von Mont-Saint-Jean nur wenige Sekunden. Ebenso setze ich mich nur oberflächlich mit den prinzipiellen Fragen über die Berechtigung des Klosterwesens auseinander. Letzteres könnte mein Freund, der die Schlachten, das politische und all das strategische so schätzt, nachvollziehen. Auch ihn würden die strengen Regeln des Kloster Petit-Picpus als kurzer Abriss völlig reichen. Ich dachte, dass er wenn wir „Die Elenden“ wie früher gemeinsam lesen würden, dann sicher mir dieses Kapitel überlassen hätte. Denn einer muss es lesen, da waren wir uns immer einig gewesen. Damals, als wir manche Bücher gemeinsam lasen. Selbst bei Romanen, die ihn nicht interessierten, las er manchmal nachts die von mir überblätterten Seiten und gab mir am nächsten Morgen beim Frühstück eine Zusammenfassung. Um einen Roman aus einer anderen Zeit wirklich zu verstehen, so sagte er, müsse man gerade die diese Zeilen  mit großer Aufmerksamkeit lesen.

Wir haben viele Bücher gemeinsam gelesen. Einer kaufte es, der andere lieh es sich in der Bücherei aus. Praktisch war, dass wir in etwa gleich schnell lasen und zum Beispiel gleichzeitig das Ende von Goethes Werther erreichten. Synchron atmeten wir beim Tode des Protagonisten auf und seufzten, dass es nun auch wirklich an der Zeit gewesen ist, das seine Leiden enden. Madame Bovary wollte er unbedingt lesen, aus einem mir nicht ganz schlüssigen Grund, stand es auf seiner Liste. Er gab auf und ich begleitete die Unglückliche bis zu ihrem letzten Atemzug und berichtete ihm. Weit mehr als Werther verstand ich Emma und trug Sorge, dass mein Freund es auch tat. Er tat es nicht, aber er honorierte wenigstens mein leidenschaftliches Mitgefühl. Auch Anna Karenina las ich für ihn und während wir die Buddenbrocks mit großem Genuss beide vollständig lasen, quälte ich mich über lange Kapitel alleine den Zauberberg hinaus. Für diese Wanderung schuldet er mir noch etwas. Letztes Wochenende lud ich im die „Die Elenden“ auf seinen E-Book Reader und forderte ihn auf, meine Lücken zu füllen. Diesen Klassiker der Weltliteratur hatte er bisher sicher nur übersehen und jetzt sei es an der Zeit mir zu sagen, wann die unsägliche Barrikade endlich vorbei ist und es mit Cosette und Marius weiter gehen würde.

Er war streng. Nannte mir zwar grob die Stelle an der ich wieder einsteigen könne, betonte aber, dass ich das Schönste, die Tiefe der Charaktere, besonders die von Marius doch gar nicht begriffen hätte, wenn ich seine Zwänge, Ängste und Sorgen einfach überblättern würde. Böse lächelnd behauptete er sogar, dass wäre als würde ich mich mit einem AfD Wähler verabreden und verkünden, dass mich seine hübschen Augen weit mehr als sein Verstand und sein Seelenleben interessieren würden. Seite 976 schrieb er mir heute morgen. Aber nur, wenn wir uns die Tage treffen würden. Dann könnten wir ein Glas Wein trinken und er, der Politologe, würde mir etwas über die Geschichte Frankreichs erzählen. Er hätte an meinem Blick doch genau erkannt, dass ich außer der rudimentären Erinnerung an ein Ereignis 1789 überhaupt keine Ahnung hätte. Eine Schande sei das. Und überhaupt…jetzt wo die Tage wieder länger und wärmer würden, sollte man sich auf dem Balkon treffen und ein wenig über Russland sprechen. Mit Grausen erinnere er sich an meine Ignoranz während wir „Krieg und Frieden“ lasen.

Geht es um Weltliteratur dieser Art sind wir ein gutes Team. Er ist der Kopf und ich das Herz eines solchen Lesevergnügens. Und das Herz hat blättert jetzt zu Seite 976, denn das was Sie dort aufzeichneten, lieber Herr Hugo, ist mir ein bedeutend größeres Vergnügen als das Beobachten eines Trupps Barrikadenkämpfer.

 

25 Gedanken zu “Herz und Hirn begrüßten den Tod des jungen Werthers – irgendwann ist es auch mal gut.

  1. Ach, so einen Mitleser hätte ich auch gern. (Allerdings habe ich gerade heute einem kranken Freund einen dicken spanischen Roman – El Asedio von Pérez-Reverte – ins Krankenhaus mitgebracht, den ich selbst nicht bis zum Ende geschafft habe. Vielleicht kriegt er es hin und erzählt mir den Schluss.)

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    1. Gerne. Auf Seite 976 ein kurzes Aufatmen, weil Marius lebt. Nur eine kurze Erholung, denn noch immer ist er fest überzeugt an diesem Tag zu sterben – als ob das die Geliebte befriedigen würde. Ein paar Seiten musste ich überblättern – immer noch Barrikade. Jetzt aber bin in den Pariser Kloaken. Erstaunlicher Weise ein interessanter Ort.

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  2. Ich bin platt oder entzückt über derlei paarweises Lesen. Ehrlich gesagt hatte ich nie zuvor davon gehört, dass es zwei so machen wie du und dein Freund. Es ist ein glücklicher Umstand und absolut ungewöhnlich, ja, wirklich beneidenswert, dass ihr beide euch in der Literatur zusammengefunden habt.

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    1. Insbesondere ein großes Glück, lieber Jules, dass die Vorlieben sich so unterscheiden und der Geschmack am Ende doch ein sehr ähnlicher ist. Ich vermisse die Zeit, in der es aufgrund der räumlichen Nähe noch leichter war.

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  3. Geht mir auch so, ich will, daß die Handlung weitergeht, da ist es natürlich sehr praktisch, wenn man jemanden hat, der einem die langweiligen Stellen abnimmt. Bei Dostojewski und Balsac gibt es die auch, schier endlose, völlig redundante Passagen. Bei den beiden wurden die Romane – zumindest von einigen weiß ich es – als Fortsetzungsromane in Zeitungsform veröffentlicht, da waren diese langwierigen Beschreibungen und Erörterungen vielleicht Zeilenschinderei, um den Umfang und damit den Gewinn zu erhöhen? Das wäre immerhin eine Erklärung. Ob die Romane von Hugo auch in Fortsetzungen erschienen, weiß ich allerdings nicht, bei Wikipedia steht nichts.
    Übrigens: Die schleppende Handlung und das endlose Beschreiben von Umständen hat bisher verhindert, daß ich auch nur ein Buch Marcel Proust zu Ende gelesen habe. Ich wünschte, das würde jemand für mich machen und mir alles Interessante erzählen. Du hast nicht zufällig was von ihm gelesen?

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    1. Mit Proust kann ich leider nicht dienen. Ich kenne nicht ein einziges Buch von ihm und bisher ist er mir vollständig fremd. Die Tatsache, dass die Romane als Fortsetzungen veröffentlicht wurden hat sicher ihre Art zu erzählen beeinflusst. Ich könnte mir auch vorstellen, dass sie ganz anders gelesen wurden, in einer Zeit in der einige Gesellschaftsschichten weit mehr Muse für ein Buch und deutlich weniger Ablenkungen durch den Alltag erfahren haben. Da kann man sich ganz anders fallen lassen und die langen politische oder historischen Einschübe als Lehre und weniger als Teil einer Erzählung betrachten. Proust….jetzt bin ich neugierig.

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      1. Ja, das ist ein guter Gedanke, der Roman als historisches Dokument, ich erinnere mich an eine seitenlange und differenzierte Beschreibung eines Gefängnisses bei Balzac, für den Romanleser öde, für den Historiker aber vermutlich eine hervorragende Quelle.
        Ich bin gespannt, was Du zu Proust sagst, wenn Du mal reingelesen hast.

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    1. Wenn ich mich nicht gerade auf einem Schlachtfeld zurecht finden muss, dann ist es genau das was mir häufig gefällt. Lange einzutauchen in Beschreibungen. Ein Roman mit nur 300 Seiten, heißt sich so schnell zu verabschieden. Gerade erst eingetaucht, ist es schon vorbei.

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  4. Man bedarf, allein schon aufgrund des Überangebots, in der Kunst, in der Literatur, aber auch im Leben der Triage. Auf solchen Schlachtfeldern kann man nicht alle sterben lassen, da sei Henry Dunant vor oder wahlweise auch ein Großmeister des Johanniterordens, aber sicher nicht alle mitnehmen, nicht alle retten.
    Und nur manche Bücher lesen. Manches muß man dann halt auch querlesen (ich lernte das in den alten Tagen, als ich die Karl May meines Bruders, er hatte eine fast vollständige Sammlung, verschlang und die philosophisch – religiösen Einschübe des Autors geflissentlich überlas, um bald wieder ins ach so realistische Abenteuer zurückzukehren! In dem Übrigens nach klassischer James Band – Manier jede Frau, die etwa Bedeutung gewinnen wollte, gleich zu sterben hatte) oder weglegen. An eine Schulektüre erinnere ich mich noch, als ich der Deutschlehrerin eröffnete, dass ich mich weigere, den Schund zu lesen (ein Autor namens K. – Um der Dohle willen, nein, Kafka war’s nicht! Wir nahmen Trivialliteratur durch.). Wurde übrigens akzeptiert. Dass ich zur gleichen Zeit irgendwelche Abenteuerheftchen noch weit minderer Qualität las, Hauptsache, es kamen irgendwelche Tiere drin vor, mußte ich ihr ja nicht gestehen!
    – Ach ja, meine Kinder lasen und lesen auch das Wenigste von dem, was ich ihnen nahelegte. Vielleicht wurden sie zu sehr verwöhnt von den Tagen des gemeinsamen und des Vorlesens? „Nein, lies du. Du machst das viel besser!“ „Schön, aber dann lesen wir euren Harry Potter oder den Herrn der Ringe heut mal auf englisch!“ „Nein!“ Es stimmt, meine englische Aussprache ist mies. Aber das war nicht der Grund.

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    1. Ich finde es bewundernswert, dass du dich in der Schule einem Buch verweigert hast. Ich hab die Klappe gehalten und mich durch Effi Briest gequält. Heute mag ich das Buch echt gerne, aber für Zwölfjährige war das eine einzige Katastrophe. Nicht wirklich angesprochen wurde worum es geht. Und wenn Kinder beim Vorlesen verwöhnt werden, dann hast du wahrscheinlich doch einfach alles richtig gemacht. Meine Mutter hat mir bestimmt auch vorgelesen, aber ich kann mich nicht mehr dran erinnern. Hast du mir das ein bisschen leid für sie, damit tatsächlich nur die Erzählungen von meinem Großmüttern in Erinnerung geblieben sind und ich aber fast sicher bin, dass auch sie mir viel erzählt und vorgelesen hat. Ich frag sie lieber nicht, sonst ist sie enttäuscht dass ich mich so gar nicht dran erinnere 😉

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      1. Die Effi war’s nicht. Und ich war, glaub ich, auch nicht mehr 12… Aber ja, ich fand mich damals auch bewundernswert und mutig! Und nebenbei war mir von dem Buch, soweit ich es las, in pubertrer Überempfindlichkeit tatsächlich fast schlecht, körperlich, den Canalis alimentarius betreffend.
        Mütter sind sehr oft weniger Geschichtenerzähler und Vorleser als Großmütter, Tanten, oft auch Väter… das ist im Alltag begründet, im ständigen Tun und natürlich auch Ge- und Verbieten. Viel erzählen die Mütter so nebenher, aber die Zeit, sich hinzusetzen und nur zu spielen, zu erzählen, die finden sie oft nicht. Eltern, ganz besonders die oft so gehetzten Mütter (man denke nur, jetzt in der Vorweihnachtszeit!), müssen sich solche Zeiten regelrecht aus dem Fleisch schneiden. Man könnte ja schon wieder dies oder das und überhaupt, habe ich den Ofen ausgeschaltet? Es hat was mit diesem modischen Achtsamkeitsgedöhns zu tun, für das die durchschnittliche Mama echt keine Zeit hat. Kurzum: Vielleicht mal die Mama daran erinnern, was sie so mit einem zusammen gemacht hat, als man klein war. Und beiläufig fragen, was sie einem dazu erzählt hat?

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      2. Danke dir. Du hast völlig recht und es leuchtet ein, dass eine Mama kaum Zeit hat so ausführlich wie die Generation darüber zu erzählen. Bei Gelegenheit frage ich mal nach. Denn geredet haben wir viel. Das weiß ich…nur worüber (als kleineres Kind) das ist vernebelt.

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