Until I wake up tomorrow…

Eisberge müssen nie weinen, flüstere ich leise in der Dunkelheit meines Schlafzimmers und warte auf dein Lachen. Nach all den Jahren kommt es noch immer. Wenn ich diesen Satz sage, dann höre ich dich lachen. Vor vielen Jahren summte ich das Lied auf einer nächtlichen Fahrt quer durch die Stadt. An der Ampel hörte ich dich lachen. Eisberge müssen nie weinen, fragtest du. Ja, Eisberge müssen nie weinen, meinte ich und fügte an, dass es ein seltsames Lied sei, mir aber gefallen würde. Du hast mich nie korrigiert und erst sehr viel später hörte ich heraus, dass es die Eisbären waren, die im kalten Polar nicht weinten. Für mich blieb es der Eisberg. Dass Eisbären keine Grund zum weinen haben, bezweifle ich. Anders ein Eisberg. Manchmal möchte man vielleicht wirklich ein Eisberg sein. Im kalten Polar. Dann müsste man nicht mehr schrei´n und alles wär´so klar. Manchmal blitzt die Erinnerung an das Lied auf und ich höre dich über den Eisberg lachen. Damals als alles noch klar war.

Wir kannten uns noch nicht als Eisbär von Grauzone 1993 rauf und runter gespielt wurde, aber du konntest nicht weit weg gewesen sein. Die Wohnungen unserer Eltern lagen nur ein paar Busstationen voneinander entfernt und wir waren sicher auf den gleichen Partys. Ich musste damals noch um fünf vor zehn gehen und den dunkelsten Weg nach Hause rennen um pünktlich um 22:01 Uhr zu Hause zu sein. Eine Minute Toleranz war in Ordnung. Manchmal riskierte ich auch fünf, wenn mich der dunkle Weg zwischen den Büschen zu sehr ängstigte und ich außen herum lief. Aber mehr nicht – sonst hätte ich das nächste Mal nicht ausgehen dürfen. Du kanntest den Weg, den man mir natürlich verboten hat und den ich trotzdem nahm weil ich jede Minute auskosten wollte. Gelaufen bist du ihn nie – du hattest damals schon eine Vespa. Aber da kannte ich dich noch nicht. Damals, als Eisbären nicht weinten und alles noch so klar war.

Wir kannten uns auch noch nicht, als wir Tricky rauf und runter hörten. Ponderosa summte ich als wir uns kennen lernten und auch da hörte ich dein Lachen. Dass du es kanntest war gut. Es bedeutete, dass vor Jahren eine Lavalampe in deinem Zimmer stand. Jeder der Tricky hörte, besaß eine Lavalampa. Und jeder der eine Lavalampe hatte, saß nachts um drei mit Freunden vor dem Fernseher uns sah sich Spacenight an, während im Ofen die Fischstäbchen verbrannten. Wir kannten uns damals noch nicht, aber wir haben die gleichen Erinnerungen. Dass ich auch Jahre später noch textsicher war und das Lied mir viel bedeutete, verriet dir mehr über mich, als ich anfangs erzählte.

See in black and white
summte ich als ich mit meinem Freund im Auto nach Hause fuhr und wir uns an jeder roten Ampel küssten, während du am anderen Ende der Stadt mit deiner Freundin in einem schmalen Bett lagst und sie das gleiche  Lied summte.
Feel in slow motion
lief als du und dein Bruder eure erste WG eingeweiht habt und ich summte es, als ich in meiner ersten eigenen Wohnung die Kartons auspackte.
Drown myself in sorrow
passte zu deinem verhauenen Vordiplom ebenso gut wie zu meinem Liebeskummer und
Until I wake up tomorrow
zu dem Wunder, dass dein Studium an Fahrt gewann und ich nicht am Liebeskummer gestorben bin.
The illusion of confusion
lief im CD Player deiner Wohnung und
Is not from where I am sat
in meinem.
I drink till I’m drunk,
And I smoke ‚til I’m senseless
sang ich auf dem Weg zu Uni, weil es wilder klang als ich war und du, weil es auf englisch harmloser klang und doch mit Anfang zwanzig ganz gut zu dir passt.

Ich erinnere mich an dein Lächeln, als du die CD in meinem Regal gesehen hast. Wir hörten sie das ganze Wochenende und erzählten uns von den siebzehn Jahren in denen wir uns nicht kannten aber ein ähnliches Leben gelebt haben. Mit meinem besten Freund hörte ich die CD, als du längst nicht mehr bei mir warst. Wir holten meine alte Lavalampe aus dem Keller und als sie zu blubbern begann, erzählte ich ihm von dir. Damals als du bei mir warst, konnte ich es nicht. Unterschiedliche und doch gleiche Leben – bei jedem von uns dreien. Oder vieren, dein Bruder hörte die CD auch oft.

Recircle, recycle, resemble me
Different levels of the devil’s Company,
nuschelte Tricky als ich auf dem Sofa meines besten Freundes einschlief und das Lava in der Lampe noch genauso bizarre Formen wie früher bildete. Der Beste murmelte es, bevor er ins Bett ging und klang dabei wie dein Bruder damals auf dem Weg ins Krankenhaus. Oder wie du auf dem Heimweg vor fünf Jahren. Vielleicht auch wie ich vor zwei Wochen als ich an euch dachte.

Until I wake up tomorrow ist mein Satz. Auch der meiner Mutter. Die sang abends an meinem Bett „Morgen früh wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“. Sie weiß nicht, dass  ich oft an das Gute Nacht Lied dachte, wenn die Lavalampe blubberte. Vielleicht wegen dem Morgen…das ist ein schöner Gedanke. Damals als wir uns alle noch nicht kannten, als wir uns kannten und auch heute. Wo man manchmal gerne ein Eisberg im kalten Polar wäre.

28 Gedanken zu “Until I wake up tomorrow…

  1. Liebe Mitzi!
    Bei diesen Zeilen muss ich sogleich an den Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ denken. Dort werden ebenfalls so wunderbar die Leben verschiedener Menschen an unterschiedlichen Orten zur gleichen Zeit erzählt. Sehr schön. 🙂
    Das Eisbär-Lied kenne ich zwar nicht, aber da denke ich sogleich an „I am a rock“ von Simon and Garfunkel…. and a rock feels no pain and an island never cries…
    Ich freue mich, Sie hier ein wenig kennenlernen zu dürfen und von der Zeit zu erfahren, da wir noch nichts voneinander wussten… 🙂
    Herzliche Grüße von der Alm… muuuuh
    Mallybeau M.

    Gefällt 4 Personen

    1. Liebe Mallybeau,
      es ist schön, dass Sie mich hier ein wenig begleiten. Ihre Kommentare freuen mich immer sehr und ich lasse mich nur zu gerne auf die Alm entführen.
      I am a rock – klingt völlig anders aber die Zeile passt zu meinem Eisberg. Wenn ich das Eisbären LIed heute höre, dann ist es mir fast zu anstrengend. Tiefste neue deutsche Welle…..
      Herzliche Grüße
      Ihre Mitzi

      Gefällt 2 Personen

      1. Ist wohl ein Frage des kindlichen Selbstbewußtseins. Und WIE gesungen wird. Meine Oma hatte immer so einen Hauch von Drama in der Stimme.

        Gefällt 2 Personen

  2. ❤ sehr berührend und gehört definitiv zu den schöneren sachen, die ich in letzter zeit gelesen habe. obwohl ich nicht sagen kann, was es ist, enthält der text ein gefühl, das auch bei mir grade sehr präsent ist.

    Gefällt 3 Personen

  3. Beim Lesen wurde mir klar, dass ich einiges älter bin 🙂 Wir hörten andere Songs. Aber das ändert nichts an dem Gefühl das aufkommt, wenn man Freunde aus den alten Zeiten trifft und in Erinnerungen schwelgt. Ich habe auch für viele alte Erlebnisse mein eigenes Lied. Dieses Gefühl hast du wunderbar beschrieben.

    Gefällt 1 Person

  4. hallo Mitzi Irsaj!
    zu gern wüsste ich, wer er war und was im passiert es …deine art zu schreiben, ist sehr berührend und ich musste lächeln,weil ich schon längst wusste, dass es Eisbären heißt 😉

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    1. Hallo Du (schöner Name…Kain Schreiber).
      Ich habe oft über ihn geschrieben. Früher mehr, heute nur noch ab und zu. Vor ein paar Jahren ist er leider gestorben. Er hat sich das Leben genommen und ist doch ein bisschen bei mir geblieben.
      Ich glaube alle bis auf mich wussten, dass es Eisbären heißt ;). Heute höre ich da auch keine Eisberge mehr raus. Aber wenn man einmal einen falschen Ohrwurm hat….

      Liebe Grüße

      Gefällt 1 Person

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