Meiers Taschentücher

Braun sei ich geworden, sagt der alte Mann neben mir. Nicht zu mir, sondern zu einem ebenso alten Herren, der auf meiner anderen Seite langsam unter den Bäumen entlang schlurft und auf eine Bank zusteuert. Ja, ziemlich, nickt dieser und mustert mich mit aufmerksamen Blick. Kein Wunder sei es, meinen beide, weil ich ja unbedingt den Sommer noch ein wenig verlängern wollte. Das würde ich ständig machen, murmeln sie und konzentrieren sich auf den Kiesweg, auf dem bereits Herbstlaub liegt. Während ihre Schritte leise knirschen, sage ich nichts und bin dankbar, dass die beiden die Stille unter den Bäumen mit Worten füllen, damit etwas gesagt wird, wo es eigentlich nicht viel zu sagen gibt. Mir selbst würde nichts einfallen. Im Gegensatz zu ihnen bin ich heute nicht zum Spazierngehen am Friedhof, sondern zum Abschied nehmen. Sie begleiten mich ein Stück und ziehen sich dann zurück.

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Herbst…ganz normal, sagt Herr Mu

Bist traurig, fragt mich Herr Mu und ich schüttle den Kopf. Nein, murmle ich und lasse mich neben ihn plumpsen. Das Holz der Bank ist Sonnenwarm und ich mache es wie Herr Mu. Schlüpfe aus meinen Schuhen und wackle mit den nackten Zehen. Seit einigen Monaten sitzt er wieder an der Bushaltestelle und macht es sich dort fast jeden Tag gemütlich. Herr Mu wartet nicht auf den Bus. Herr Mu wartet auf Menschen aus der Nachbarschaft, mit denen er sich für ein paar Minuten unterhalten kann. Und wenn einer wie ich kommt; einer der eigentlich reden will, aber nichts zu sagen hat, dann ist Herr Mu einfach da und erwartet nichts. Drei Busse fahren vorbei und ich beobachte wie Leute aus- und einsteigen, während ich einfach in der Sonne sitzen bleibe und den abgeblätterten Nagellack an meinem großen Zeh ins Licht halte. Herbstwarm ist es, sage ich nach dem vierten Bus und der alte Mann nickt. Still liest er seine Zeitung und schaut nur kurz auf. Und trotzdem wird´s schon kälter, rede ich weiter, weil ich so gerne etwas sagen möchte aber selbst nicht weiß was. Der Nagellack an den anderen Zehen blättert auch ab merke ich und stelle fest, dass mir das aber heute völlig egal ist. Nicht wirklich kalt, fange ich wieder an. Heut ist es ja richtig warm, aber unter dem Warm, wird´s schon kalt. Es herbstelt und obwohl der Herbst nach dem Sommer so schön ist und ich mich wirklich darauf freue, kommt er doch ein bisschen arg schnell, finden Sie nicht? Herr Mu faltet seine Zeitung zusammen und legt sie neben sich. Ein paar Minuten lang sagt er nichts, grüßt mit einem Nicken einen Nachbarn und lehnt sich dann zurück. Ob ich das Wetter meine, will er wissen und es dauert ein bisschen, bis ich den Kopf schüttle.

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Passt schon

Passt schon, sagt man in München gerne, wenn gar nichts passt. Wenn so viel im argen liegt, dass man nicht recht weiß, wo man anfangen soll, dann sagt man „passt schon“. Das ist wie „wird schon“, wenn einem unklar ist, wie überhaupt irgendwas wieder werden kann. Der Sonne am heutigen Sonntag ist das egal. Sie scheint und wenigstens das ist schön. Mehr als schön – es hilft, weil Sonnenstrahlen im Frühjahr nicht nur das Gesicht, sondern auch das Herz erwärmen und es leichter machen die Gedanken zu ordnen. Sie zu beruhigen ist angesichts der Nachrichten nur schwer möglich, aber ein paar Atemzüge mit geschlossenen Augen in der Sonne sind angenehm. Den Menschen in meinem Viertel scheint es ähnlich zu gehen. Sie sitzen auf den Bänken, legen den Kopf in den Nacken, schließen die Augen und strecken die Nasenspitze in die Sonne. Das tut gut, man sieht es ihnen an. Mir wahrscheinlich auch. Das und die Ruhe, die nicht ungewöhnlich ist, da ich nicht in einem Café sondern auf einer Bank auf dem Friedhof sitze. Bei so viel Scheußlichkeit ist hier, trotz des oft traurigen Ortes, viel Schönes zu sehen.

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Autunno und Herbst gut gemischt

„Was?“ fragt der Nachbarsjunge als er mich in der Türe unseres Laubenganges stehen sieht und reibt sich verschlafen die Augen. „Wie bitte, heißt das.“, korrigiere ich ihn automatisch und übergehe die Antwort. Nach fast zwei Wochen wäre es mir unangenehm, wenn das erste was er von mir hört, ein beherztes „Scheiße“ ist. „Merda“ das italienische Pendant versteht er nicht, kann es sich aber denken. Er grinst, zuckt mit den Schultern und verschwindet in seiner Wohnung. Dreieinhalb Meter trennen mich von seiner Wohnungstüre und drei Meter von meiner – drei Meter, die ich in den nächsten vier Stunden nicht betreten darf. So lange dauert es noch, bis erste Anstrich des gerade renovierten Laubengangs getrocknet ist. Bis dahin ist es dem Nachbarsjungen verboten aus seiner Wohnung zu treten und mir unmöglich in die meine zu gelangen. Verdammt, wiederhole ich etwas weniger derb und schiebe meinen Koffer zurück ins Treppenhaus um erst einmal blöd rumzustehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwann wusste, dass der Laubengang am 26.10.2021 für ein paar Stunden gesperrt ist. Stunden, welche die Bewohner einplanen und berücksichtigen müssen. Natürlich wusste ich es – bevor ich nach Italien fuhr und meinen Aufenthalt dort kurz vor der Abfahrt noch einmal um wenige Tage verschoben hatte. Der dämliche Flyer, der mir von der Hausverwaltung sogar persönlich in die Hand gedrückt wurde, liegt auf dem Tisch im Wohnzimmer. Da liegt er richtig, murmelt wenig später Herr Meier, der nicht am Laubengang wohnt und den ich um eine Tasse Kaffee angebettelt habe, um die Zeit des Wartens nicht im Treppenhaus hockend verbringen zu müssen. Ich nicke und wundere mich, dass Herrn Meiers Kaffee nach über eine Woche Italien trotzdem unglaublich gut schmeckt. Er grinst als ich es ihm sage und verrät mir sein Geheimnis – ein Löffel Kakao (der für Kinder) muss mit in den Filter. Meine italienischen Freunde würden die Augen verdrehen. Ich nicht. Ich bin heilfroh nicht auf den Stufen sitzen zu müssen. Weiterlesen

Giesinger Sturschädel mit Weitblick

Ein echter Münchner, so sagt man, erkennt schnell aus welchem Stadtteil sein Gegenüber kommt. Ich bezweifle, dass ich eine Haidhausenerin von einer Lehelbewohnerin auseinander halten könnte, einen echten Giesinger aber, den erkenne ich. Spätestens dann, wenn ich weiß, dass er eigentlich etwas will und trotzdem stur und ausdauernd behauptet, genau das nicht zu wollen. Einen solchen, oft an Dummheit grenzenden Starrsinn haben nur die Giesinger. Und zwar alle. Dann kommen zwei die eigentlich das gleiche wollen, nicht zusammen, nur weil der eine dem anderen beweisen will, dass seine Argumente besser sind. Im Fall von Herrn Mu und mir geht es um eine kleine Steigung vor der Stadt, von der Herr Mu behauptet, es sei ein „Bergerl“, fast schon ein Berg und ich darauf bestehe, dass es wenn überhaupt, nur ein kleiner Hügel sei. Seit über einer halben Stunde sitzen wir an der Bushaltestelle und versuchen einander die jeweils eigene Meinung aufzuzwängen. Anfangs schmunzelnd, dann lachend, nach einer Viertelstunde ungeduldig und jetzt kurz vor einem handfesten Streit stehend. Das riskieren wir sorglos, denn Giesinger streiten gerne, schnell und ohne sich Sorgen um das künftige Verhältnis zum Mitmenschen zu machen. Das können sie, weil der Giesinger zu seinem großen Glück nicht nachtragend ist. Gesten gestritten, heut schon wieder vergessen. Selten bleibt etwas hängen. Nur Herr Mu und ich bewegen uns auf dünnem Eis. Wenn der alte Mann die Ludwigshöhe weiter als Berg bezeichnet, dann kann ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Es ist nämlich kein Berg. Wie der Name schon sagt, ist es eine Höhe. Eine Anhöhe, von der ich überzeugt bin, dass er da rauf muss. Und zwar schnell, weil jetzt der Raps blüht, das Gras gemäht wird und er genau die Luft von da oben in der Nase braucht, so blas wie er ist. Des is koa Berg. Ned amoi a Bergerl. Des ist nix und des da´schnauft der leicht! Selten war ich froher meine Nachbarin Frau Obst plötzlich neben uns zu sehen. Jetzt versucht auch sie, Herrn Meier davon zu überzeugen, dass die Ludwigshöhe kein Berg ist und der Atem von Herrn Mu leicht für den kurzen Aufstieg reichen wird. Weil zwei gegen einen unfair sind, gehe ich einkaufen und überlasse Herrn Mu seinem Schicksal. Morgen wird er im Bus Nr. 271 sitzen und Richtung Ludwigshöhe fahren. Und wenn er es nur tut, um mir und Frau Obst zu beweisen, dass er mit seinem Berg recht hat. Weiterlesen

Zwischen den Jahren

„Wenn die stille Zeit vorbei ist, wird es auch wieder ruhiger“, sagte Karl Valentin und ich wünschte er hätte recht. Nach einer so stillen Adventszeit wie der meinen, brauche ich Zeit um mich im neuen Jahr zu akklimatisieren. Mit etwas Glück werde ich 2021 wieder mehr soziale Kontakte haben. Das ist gut, aber daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Was ich am dritten Tag des noch jungen Jahres gar nicht gebrauchen kann, ist das wilde durcheinander Geplapper von Menschen. Menschen, die mir im Waschkeller gegenüber stehen und Menschen, die anscheinend wirklich viel zu sagen haben. Noch schlimmer, Menschen die auch noch eine Antwort wollen. Mein Nachbar Paul und seine aktuelle Freundin jedenfalls, scheinen genau darauf zu warten. Ich nickte schief lächelnd und hoffe das es reicht. Tut es nicht, denn beide blicken mich weiter abwartend an. Dann eben ehrlich. Ich sage ihnen, dass mich so ein Wortschwall im noch frischen Jahr wirklich überfordert und mir das heute gerade alles ein wenig zu früh ist. Paul verzieht die Stirn und teilt mir mit, dass es bereits nach elf Uhr sei. Kein Rhythmus mehr, murmle ich und stupse ihn mit der Hüfte zur Seite um an den Trockner zu gelangen und schiebe ein „geh weg“ hinterher. Er lacht, seine Freundin nicht. Die geht und bevor Paul ihr nachläuft, erkundigt er sich, seit wann ein gutes neues Jahr zu wünschen, zum Wortschwall wurde. Seit 2020 sage ich und er grinst sein Rhett Butler Grinsen, dass mich aus Gründen, die ich nicht auf den Dezember schieben kann überfordert. Weiterlesen

Wiesn Katarrh

In unserem Treppenhaus stinkt es. Obwohl…eigentlich ist das nicht richtig. Eigentlich riecht es vor den Wohnungstüren verführerisch und feine Düfte ziehen durch das Treppenhaus. Das Erdgeschoss begrüßt den Bewohner mit kräftiger Kohlsuppe. Nach all der Völlerei während des Oktoberfestes ist ein kräftiges und zugleich entschlackendes Süppchen genau das richtige. Man kann die Kneipe, die sie auf die Karte gesetzt hat, durchaus verstehen. Mindestens genauso verständlich ist, dass der Wirt auch nach neun Monaten noch keinen neuen Filter in den Dunstabzug seiner Küche eingebaut hat. Warum auch? Das kostet sicher und viel einfach ist es, einfach die Küchenfenster zu öffnen und dem Innenhof plus unterer Stockwerke via Küchendämpfen mitzuteilen, was es heute zu essen gibt. Seit etwa einer Woche Kohlsuppe. Wahrscheinlich auch anderes, aber der penetrante Geruch von stundenlang gekochtem Kohl überlagert alles. Fast alles. Im ersten Stock riecht es weniger nach Kohl, dafür aber extrem intensiv nach Zwiebeln. Leider nicht nach dem feinen Duft, kleingeschnittener Charlotten, die in einer Pfanne mit Butter langsam angeschwitzt werden und einem das Wasser im Mund zusammen laufen lassen. Nein, der Zwiebelduft, der aus Herrn Meiers Wohnung dringt ist hart an der Grenze des erträglichem. Ein jeder weiß, dass gegen hartnäckigen Husten am besten ein Zwiebelsud mit reichlich Honig hilft. Ein jeder riecht aber auch, dass Herr Meier da irgendwas falsch verstanden haben muss. Dem Geruch nach hat er drei bis vier Kilo scharfer, weißer Zwiebeln grob zerhackt und in großzügig in der Wohnung verteilt. Nach einem Aufguss mit Honig oder Kandiszucker, der den pentranten Zwiebelgeruch etwas abmildern könnte, riecht hier jedenfalls nichts. Und zu helfen scheint es auch nicht, weil Herr Meier hustet. Und das laut und ausdauernd. Kein Wunder, er hat wie fast jeder den München den Wiesn Katarrh – die typische Erkältung in der Woche nach dem Oktoberfest, die ganze Viertel ereilt und in ihrer Heftigkeit den gefürchteten Männerschnupfen noch bei weitem übersteigt und beide Geschlechter heimsuchen kann. Damit er den nicht alleine hat, hustet Herr Meier gerne im Treppenhaus und da vorzugsweise im Aufzug, damit er auch möglichst vielen Nachbarn zeigen kann, wie schlecht es ihm geht. Ich nehme seit ein paar Tagen die Treppe und versuche möglichst nichts anzufassen, an dem bereits die Hustenhand von Herrn Meier gewesen ist. Weiterlesen

Rettung naht

Obwohl heute Samstag ist, fühlt es sich nach Sonntag an. Hier bei uns haben die Sommerferien ihren Höhepunkt erreicht und gefühlt mindestens ein Drittel der Nachbarschaft ist ausgeflogen. Hätte ich ein Auto, dann würde mit das Parken in diesen Tagen gefallen. Schwungvoll, ohne groß abzubremsen, könnte ich einschlagen und hätte ohne rangieren die perfekte Parkposition. Perfekt für mich. Das heißt, ich würde 2,5 Parkplätze in Beschlag nehmen, was aber angesichts der wenigen Autos die derzeit hier parken völlig ok ist. Selbst mein Nachbar Paul, der gerade an mir vorbei geht, parkt schlampig und zuckt nur grinsend mit den Schultern. Egal, in den Sommerferien haben wir Platz. Ich überlege, mir das Auto meiner Eltern auszuleihen. Nicht weil ich es brauche, sondern nur weil ich auch einmal das Gefühl eines tiefenentspannten Parkvorgangs genießen möchte. Vielleicht morgen, heute ist ein so fauler Tag, dass ich lieber auf dem Boden sitzen bleibe und weiter die Speichen meines Fahrrades mit einem Taschentuch abwische. Nicht weil sie wirklich dreckig sind, sondern weil ich einen Vorwand brauche, um zu sehen, was genau Herr Krüger vor dem Haus treibt. Seit geraumer Zeit steht er gebückt in der Buchsbaumhecke und bewegt sich nicht. Es ist mir peinlich so neugierig zu sein, aber Herrn Krüger bekommt man so selten zu Gesicht, dass ein genauerer Blick zu verlockend ist.  Weiterlesen

Schandwuchs

Eine Schande für die Nachbarschaft, sei ich, ließ mich meine Nachbarin Frau Obst, bei meinem Einzugs wissen. Gefährlich weit beugte sie sich in jenem Jahr über die Brüstung ihres Balkons und warf entrüstete Blicke auf den meinen. Monierte sie sich sonst über meist über ein Zuviel – zu viele Fahrräder vor dem Haus, zu viel falsch sortierter Müll oder zu viel Lärm in der Mittagszeit – war es bei mir ein Zuwenig, das ihr ins Auge stach. Sie konnte nicht wissen, dass ich schnell die Seiten wechseln würde. Das meine Schande des nichts, ganz bald zur Schande des Zuviel werden würde. Auch ich hatte angepflanzt und sie musste sich keine Sorgen machen. Mein Balkon würde nicht leer bleiben. Er würde wie all die anderen prächtig und üppig bepflanzt das Haus verschönern. Nur im April, da schlief er noch. Da überließ er die Bühne den blühenden Bäumen, weil es sinnlos ist mit einem explodierendem Kirsch- oder Apfelbaum zu konkurrieren. So sinnlos wie meiner Nachbarin zu erklären, dass ich ihrem Wunsch nach Verschönerung ganz sicher entsprechen würde. Oder auch nicht, den Schönheit liegt im Auge des Betrachters und das Auge, das meinen Balkon im Blick behielt, gehört zu den besonders kritischen. Weiterlesen

Obacht, Rauhnacht!

„Mei, geh hoid waida, dumm’s Tritschal.“, fordert mich Herr Meier auf. Er hat Recht. Ich stehe gerade wirklich saudumm vor der Türe zum Keller und versperre ihm den Weg. An mir vorbei kommt er nicht, weil auf meiner Hüfte ein Wäschekorb sitzt und ich damit doppelt so breit wie gewöhnlich bin. Die Wäsche müsste in die Maschine. Sie und zwei weitere, die noch oben im Flur stehen. Eigentlich müsste ich dringend waschen und gerade jetzt zwischen den Jahren, wo ich Zeit habe, viele Hausbewohner im Urlaub und die Maschinen frei verfügbar sind, ist der Zeitpunkt ideal. Herr Meier schaut mich an. Erst mich, dann den Wäschekorb, dann noch einmal mich. Wieder hat er Recht. Die Wäsche wird warten müssen. Vielleicht nicht die ganze Wäsche, aber ganz sicher die Leintücher. Ich trete zurück und Meier nickt zufrieden. „Ganz sauber bist ned, ha?“ Fragt er noch mit einem Blick auf meine Bettwäsche und schiebt sich dann an mir vorbei. Er weiß es auch, wer in den Rauhnächten ein Leintuch wäscht, der läuft Gefahr, dass es im nächsten Jahr zum Leichentuch wird. So blöd, das zu riskieren bin ich dann doch nicht. Danke, sag ich noch, weil mein Nachbar mir vielleicht das Leben gerettet hat. 

Auf mein Glück kann ich mich nicht verlassen. Das habe ich schon überstrapaziert, als ich mich in den Rauhnächten in den Stall geschlichen habe, weil man sich erzählt, dass Tiere – besonders Pferde und Ochsen – in jenen Nächten der menschlichen Sprache mächtig sind. Dummerweise stirbt man meist, wenn man sie sprechen hörte und es war ein großes Glück, dass bei uns im Stall nur Kühe standen, die den nächtlichen Besuch gleichgültig und stumm betrachteten. Überhaupt sind diese Nächte gefährlich. Zwar bieten sie unverheirateten Frauen die Möglichkeit um Mitternacht an einem Kreuzweg ihren künftigen Bräutigam zu sehen, bringen sie aber auch in größte Gefahr. Wenn der Zukünftige erscheint, muss man ihn schweigend vorübergehen lassen und darf ihm keinesfalls nachsehen, weil das den Tod bedeutet. Ob den seinen oder den ihren weiß ich nicht. Ich habe um Mitternacht zwischen den Jahren nur einmal einen am Kreuzweg gesehen. Meinen damaligen Freund, der ziemlich angetrunken nach Hause gegangen ist. Angesprochen habe ich ihn nicht, geheiratet aber auch nicht. Meine Nachbarin Frau Obst reißt mich aus den Gedanken. Weit unfreundlicher als Herr Meier, fragt sie mich was ich so blöd im Weg rumstehe und verstummt, als sie meinen Wäschekorb sieht. Für so dumm hätte sie mich nicht gehalten, sagt sie noch und schüttelt dann langsam und bedeutungsvoll den Kopf. Ich beruhige sie und verspreche, weder zu waschen noch in den Stall zu gehen. Das reicht ihr nicht. Putzen, das sollte ich machen. Vorhin als sie zufällig an meinem Küchenfenster vorbei ging (wie ihr das zufällig gelungen ist, bleibt ihr Geheimnis), sah sie wie es bei mir aussieht. Kriminell und verlottert. In jenen Tagen hätte man sich darum zu kümmern, dass alles ordentlich und sauber ist, aber so was weiß ein junges Dinge wie ich ja nicht. Nur weil sie mich ein junges Ding genannt hat, sehe ich ihr den ruppigen Tonfall nach. Und nur weil ich mich um meine Nachbarn sorge, hänge ich einen Zettel mit den wichtigsten Hinweisen am weißen Brett unten vor dem Lift aus:

Rauhnächte!

Nicht waschen.
Keine Türen zuschlagen.
Verliehene Dinge zurück holen.
Nüsse nicht vom Boden aufheben.
Keinesfalls die Haare oder Nägel schneiden.
Bettwäsche nicht unter freiem Himmel auslüften.

Sonst: Plötzlicher Tod, schwere Krankheit oder Beschwörung von Unheil.
P.S. Und nicht um Mitternacht mit Tieren sprechen, sofern diese mit Ihnen sprechen. Ich weiß nicht ob das auch außerhalb eines Stalles gilt, aber sicher ist sicher.

Vielleicht halten Sie mich jetzt für ebenso verrückt wie meine Nachbarn, die meinen Zettel mit netten Anmerkungen versehen haben. Pauls Handschrift kenne ich. Er schrieb: „Nicht besoffen Zettel ans Brett heften ;)“ Im Waschkeller stehen dennoch die Maschinen still. Keine würde zugeben, dass er an die Rauhnächte glaubt, riskieren würden sie es aber auch nicht. Zugern würde ich wissen, wer draußen unter dem Hollerbusch eine Schale Milchreis hingestellt hat und wer der Meinung ist, dass man auch Füße nicht waschen sollte. Der Hinweis von Frau Obst, dass auf Ordnung zu achten sei, wurde von Frau Angermeier kommentiert. Sie weißt ausdrücklich darauf hin, dass vor den Rauhnächten geputzt werden muss, während ihnen aber auf keinen Fall. Ob man streiten darf, weiß ich nicht. Die beiden Alten tun es aber schon den ganzen Tag. Man hört sie im Treppenhaus. Schaden tut es sicher nicht. Dank meines Aushangs ist endlich auch Frau Lummer aus dem Hinterhaus integriert. Ihre Aushänge im Sommer, auf denen sie Kurs für feministisches Yoga (fragen Sie mich nicht, ich war nicht dabei) und schamanisches Trommeln für nur 125 Euro die Stunde anbot, kamen nicht so gut an. Dass sie jetzt aber mit glimmenden Büscheln aus Salbei und Johaniskraut durch das Treppenhaus rennt, finden wir gut. Das soll die bösen Geister vertreiben und wir hoffen, dass es auch gegen Frau Obst und Frau Angermeier hilft. Außerdem riecht es gut und jeder weiß, dass Johaniskraut beruhigend wirkt. Nur nicht auf unseren Hausmeister. Der tobt, weil nach der dritten Runde von Frau Lummer, die Rauchmelder angeschlagen haben. 

Passen Sie gut auf sich auf!