BG, Santa Maria

Mein Kollege bittet mich, leise zu sein. Er wählt dabei die Worte „Halt den Mund!“. Für ein Büro in dem die elementarsten Regeln des Anstands gelten sollten, ist das etwas ruppig, um nicht zu sagen, unangebracht. So unangebracht, wie ihn darauf hin zu bitten, doch ins Homeoffice zu gehen und seine schlechte Laune dort mit den eigenen vier Wänden zu teilen. Er und ich, wir mögen uns, und entscheiden uns deshalb, erst einmal getrennte Wege zu gehen. Er zur Kaffeemaschine und ich zum Drucker. Unser Büro atmet erleichtert auf und die Birkenfeige in der Ecke bemüht sich, die dicke Luft zu reinigen. Erst im winzigen Technik-Kabuff stehend, wird mir klar, dass ich summe.
Unangenehm….den erstens summe ich vermutlich bereits seit einiger Zeit und zweitens kann ich nicht ausschließen, einzelne Teile meines Ohrwurms laut ausgesprochen zu haben. In diesem Fall wäre die Aufforderung den Mund zu halten durchaus berechtigt gewesen. Während ich Papier nachlege kontrolliere ich mich summend selbst. Mhm…ja…ich habe ganz sicher einzelne Worte laut gesagt bzw. gesungen. Mache ich gerade ja auch. Leise summend eine Melodie und dann (überraschend laut)….SANTA MARIA!!!!….melodisch summend….AUS TRÄUMEN GEBOREN!!!….summ, summ….DAS WIE FEUER BRENNT!!!!!
Ok, ich hätte mir vermutlich den Locher gegen den Kopf geworfen, wäre ich mir selbst gegenüber gesessen. Das „Halt den Mund“ war ok.

Nicht ok, ist der Rest. Der Rest, der uns noch von 2025 bleibt. 47 von ursprünglich 365 Tage. Dieser Rest ist ein Witz. Kein Guter, wenn man bedenkt, was in diesen 12,88 % (von….wie Sie sich denken können, urprünglich 100 %) noch zu erledigen ist. Dieses Jahr will ich mein Wohnzimmer neu tapezieren. Wann soll ich das denn jetzt bitte noch machen? Ab jetzt ist jedes Wochenende randvoll mit Jahresendterminen (hässliches Wort für schöne Dinge wie Wichteln, Weihnachtsfeieren und Glühweinverabredungen) gefüllt. Ich muss dieses Jahr unbedingt die Fugen zwischen meinen Badezimmern erneuern. Hab ich vorletztes Jahr gemacht, aber dummerweise danach nicht versiegelt. Es sieht jetzt schlimmer als vor drei Jahren aus. Muss gemacht werden. Aber wann? Meinen Vorsatz drei meiner Lieblingsberge in diesem Herbst zu besteigen, kann ich knicken. Bei meinem aktuellen Fitnesslevel brauche ich dafür so lange, dass ich den Gipfel kaum bei Tageslicht erreiche (angemerkt sei, dass ich nicht völlig außer Form bin, die Tage aber bereits überraschend kurz sind). Und meine To-do-Liste mit wichtigen Anrufen habe ich Ende August geschrieben und seitdem nicht mehr angerührt. Haben Sie schon mal Staub von Notziblöcken gewischt? Bei mir war´s nötig. Ne, komm….47 Tage! Und dann soll das Jahr schon rum sein? Kein Wunder, das mich das unter Druck setzt. SANTA MARIA. Halt den Mund und ruf beim Maler an. Und bei Katrin.

Obiges habe ich mir nicht nur gedacht. Also schon, aber eben nicht nur. Ich teilte es bei der Rückkehr ins Büro auch meinem Kollegen mit. Der widerrum teilte mir, sein Unverständnis, mit einem Kopfnicken in Richtung des übergroßen Kalenders an der Wand, mit. Klugscheißer. Sei´s drum. Bei nur noch 47 Tagen wirds auch im Job eng. INSEL DIE AUS… Ruhe! Und Konzentration. Unbedingt, meint mein, mittlerweile leicht verstörter Kollege und erkundigt sich wie ich eine eben eingetroffe E-Mail beantworten würde. Ich unterdrücke den Impuls „gar nicht“ zu entgegenen und rolle mit dem Stuhl neben ihn, um die Mail zu lesen. Zwei Minuten später, sage ich es doch: „Gar nicht. Sorry, aber wer zum Henker, denkt der, dass er ist? Erstens haben wir für so einen Mist keine Zeit und zweitens kenne ich den Typen nicht. Wer bitte ist BG?“ Der Kollege atment tief durch und deutet auf die Absenderadresse, der man bei geschäftlichen Mails ausnahmslos entnehmen kann, wer hier eine Frage stellt. So weit habe ich…SANTA MARIA….nicht gedacht. Unser Chef also, der mit BG = Beste Grüße, seine Anfrage abschließt. Leise summend, empfehle ich, vielleicht doch zu antworten.

Mein Kollege gibt auf. Gibt mich auf und schickt mich nach Hause. Möge ich meine Fugen versiegeln, meine To-Liste kürzen oder seinetwegen auch den Schuttberg im Olympiagelände erklimmen (dafür sollte das Licht noch reichen) – ihm völlig egal, solange ich das Büro verlasse. Jetzt. Er übernimmt für heute.

Am Glühweinstand zwei Stunden später spielen sie „Santa Maria“ von Roland Kaiser. Fragwürdiger Text, aber ich falle erstmals an diesem Tag nicht negativ auf. Außer bei dem, der neben mir steht und den ich versuche morgen auf den Herzogstand zu locken. Liegt ja noch kein Schnee und wenn wir uns beeilen…SANTA MARIA…..ICH HAB MEINE SINNE VERLOREN. Hast du, bestätigt mir mein Gegenüber und verabschiedet sich.

26 Gedanken zu “BG, Santa Maria

  1. Herrlich. 😂 Hat Roland Kaiser nicht gerade einen Preis für sein Lebenswerk bekommen, ich meine, da etwas gelesen zu haben. Hast du diese Show geguckt … oder warum, Heiliger Bimbam bzw. Santa Maria, summst du diesen alten Schlager in der Vorweihnachtszeit – echt, schon Glühwein bei euch?
    Amüsierte, nachdenkliche Grüße aus Santa Italia!

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    1. Nein, die Sendung habe ich nicht gesehen, aber wahrscheinlich im Radio von der Preisverleihung gehört und deswegen diesen Ohrwurm ins Hirngehämmert bekommen. 😂

      Die Weihnachtsmärkte machen zum Teil tatsächlich schon auf. Eigentlich viel zu früh. Aber wenn sie schon da sind, eine schöne Gelegenheit, sich dort mit Freunden zu treffen. Viele Grüße nach Italien

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    1. Dieser Santamaria gefällt mir auch wesentlich besser. Vermutlich auch meinen Kollegen und meinen Freunden.
      Ich hatte jetzt das Wochenende um meinen Kopf wieder auf Null zu stellen. Ich glaub das war dringend nötig.

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  2. Das erinnert mich an eine Urlaubsfahrt in den Süden. Unser Sohn, damals vielleicht 4 oder 5 Jahre, sang aus voller Brust das Lied und immer wieder „ich hab meine Sinne verloren“, bis mein Mann fast ausflippte und nach hinten rief, „wenn du jetzt nicht aufhörst, verliere ich auch meine Sinne“!!!!!
    Meine Enkel haben sehr gelacht, als ich die Geschichte einmal erzählte!

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    1. In einem Auto ist so ein Ohrwurm mindestens genauso nervig wie in einem Büro. Bloß, dass man von einem Erwachsenen eher erwarten könnte, dass er irgendwann mit dem Gesänge aufhört.

      Deine Geschichte bringt nicht nur deine Enkel zum Lachen. Danke fürs teilen. 😊

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  3. Ein Käffchen für den Werten Bürokollegen, der in das Ganze vermutlich noch sehr beherrscht eingestiegen ist. Andere wäre da noch heftiger geworden.
    Und hätten vor Gericht mildernde Umstände geltend machen dürfen.
    Es wurden Menschen schon für weniger niedergeschlagen…

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    1. Ja, du hast absolut recht. In diesem Fall hätte ich selbst vermutlich auch keine Anklage erhoben, wenn etwas über den Tisch geflogen wäre.
      Ich habe schon Besserung gelobt und bin nach einem ruhigen Wochenende auch deutlich entspannter und vor allem ohne Ohrwurm.

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  4. Herrlicher Text, liebe Mitzi!

    Um deine(n) Kollegen nicht noch weiter mit der Muttergottes zu entnerven, empfehle ich einen Liedwechsel: 🎶Atemlos🎶. Passt auch besser zu den längeren Nächten. Und zu Bergbesteigungen.

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      1. Dann musst es eben performen: atem- und somit lautlos. Und immer schön Glühwein nachfüllen, dir und den Umsitzenden, dann steht BG bald für „begeisterte Gruppe“ und du darfst vielleicht wieder summen.

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  5. Netter Text. Der einem aufzeigt, auf was man alles leichthin verzichten kann, wenn man es schön ordentlich beizeiten erledigt hat, wie es sich gehört. Oder aber mit Corona im Bett liegt und alles verzichtbar findet, ob wichtige Anrufe oder eine Wanderung.
    Obwohl. Der Hund muß trotzdem raus. Und Anfang Woche muß ich telefonieren. Zumindest die fixen Termine absagen. Z.B. den für die Coronaimpfung.

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    1. Oh je. Das klingt nicht gut und ich wünsch dir gute und schnelle Besserung.
      Ich hoffe die kleinen Spaziergänge helfen bei der Genesung. Je nach Heftigkeit ist es ja manchmal so oder? Sie sind ganz schrecklich, weil man eigentlich nur im Bett liegen möchte. Ich drück die Daumen, dass du bald wieder fit bist. Liebe Grüße

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      1. Wie geht es dir denn mittlerweile? Ich hoffe du hast es gut überstanden. Ich hatte hier eine hübsche kleine Grippe. Nicht wild, aber unnötig. Liebe Grüße

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      2. Grippe oder grippaler Infekt? Das macht einen nicht unerheblichen Unterschied. Gegen die Einfluß nehmen wollende Influenza bin ich inzwischen erneut geimpft, aber die Coronaviren hatten mich ganz schön umzingelt und in ihrer Gewalt, aber soweit alles wieder gut.

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