Schmuddelig U-Bahn Gedanken

Jeden Morgen an der Bushaltestelle warten mit mir gemeinsam, zwei etwa achtjährige Kinder auf den Bus. Das Mädchen ist schmuddelig, der Junge ist es nicht. Sie warten gemeinsam mit jeweils einem Elternteil, von dem mir der eine sympathisch, die andere reichlich unsympathisch ist. Da ich keine Menschenkenntnis besitze, solange ich Menschen nicht wirklich kenne, könnte es gut sein, dass sich meine Sympathie nach eine kurzen Gespräch schon ins Gegenteil umkehrt. Weil ich mit den beiden Wartenden aber keinen Grund für ein Gespräch habe, kann ich die Mama des schmuddeligen Mädchens nicht leiden. So etwas sollte ich nicht sagen, da ich sie ja nicht kenne und vielleicht mögen würde, wenn ich sie kennen würde. Aber ich sage es ja nicht, sondern schreibe es. Schreiben ist wie denken – frei und ehrlich. Und denkend – sein Sie ehrlich – sind uns manche Menschen einfach unsympathisch. Die Schmuddelmama zum Beispiel.

Dreckige Kinder mag ich. Ich war selbst eines und gehe deshalb grundsätzlich davon aus, dass ein dreckiges Kind gerade irgendetwas gemacht hat, bei dem eine gute Portion Dreck in Gesicht, auf Kleidung, in den Mundwinkeln oder unter den Fingernägeln unvermeidlich waren. Ein Versteck im Park zum Beispiel, baut man nicht, ohne dabei mit Erde, Laub oder Kletten in Berührung zu kommen. Auch kann – so meine Erfahrung – ein Kind in einem gewissen Alter einfach kein Eis, so ein richtig gutes Eis, essen ohne Spuren davon auf Fingern und Wangen zu haben. Es ist wichtig als Kind beim Essen eines Eises so glücklich zu sein, dass man auf nichts sonst achtet. Auch die Kombination von Pfütze, Regen und tratschigem Waldboden führt zu dreckigen, meist aber ausgetobten Kindern, die man nicht auf seinem Sofa sitzen haben möchte, sein zufriedenes Grinsen aber gerne ansieht. Wenn ich mir alte Kinderbilder von mir ansehe, dann war ich immer die dreckigste. An meiner Mutter lag es nicht. So schnell wie ich mich mit größtem Genuß auf ein Eis stürzte, satt und zufrieden die Sauce von einem Teller leckte oder mit Anlauf in Schlammpfützen sprang, machten eine kontinuierliche Säuberung schlicht unmöglich. Und unnötig. Irgendwann war ich wieder sauber und landete frisch abgeduscht im Bett. Es war nicht die Schuld meiner Mutter, wenn in der Zwischenzeit irgendwer ein Foto von mir schoß.

Schmuddelig ist anders. Schmuddelig ist nicht dreckig. Es ist ein Zustand. Etwas das zur Normalität geworden ist und nicht unbedingt mit einem vorherigen Vergnügen zusammen hängt. Eine Wohnung zum Beispiel ist schmuddelig, wenn rund um den Herd oder um die Waschbecken Schmutzränder sind, die nur entstehen, weil sie jemanden sehr lange schon egal sind. Wenn man aufgrund schönen Wetters keine Lust hat sich um die Wohnung zu kümmern oder Fenster erst putzt, nachdem Ende Mai die Pollen nicht mehr ganz so heftig fliegen, entsteht keine Schmuddeligkeit. Schmuddelig wird etwas erst, wenn es sehr lange vernachlässigt wird. Wenn zum Beispiel eine Arbeitsfläche mit einem Lappen über lange Zeit immer nur oberflächig abgewischt wird und der Schmutz in den Ecken langsam verkrustet. Oder wenn Bettwäsche lange, sehr lange, also wirklich lange, nicht gewechselt wird und irgendwann die Decke darunter auch nicht mehr ganz frisch ist, aber nie gewaschen, sondern nur sporadisch neu bezogen wird. Dann ist die Decke schmuddelig. Nicht dreckig, aber auch nicht sauber.

Sie wissen was ich meine, oder? Eine Haarbürste mit Haaren darin nach dem Kämmen ist nicht schmuddelig, auch wenn man die Haare nur einmal in der Woche rauszieht. Ein Kamm, der drei Jahre benutz, aber nicht einmal unter fließendes Wasser gehalten wird, schon. Den Deckel einer Thermoskanne, kann man lange Zeit einfach nur schnell abspülen, kommt er aber nie mit einem Spülschwamm in Berührung wird er schmuddelig. Bei mir gibt es reichlich Schmuddelflecken in der Wohnung, sogar Dreckecken. Ich bin 1,61 m groß – einiges entgeht meinen Blicken. Trotzdem bin ich der Meinung, dass ein Kind nicht schmuddelig sein sollte. Irgenwann sollte es doch möglich sein, eine der beiden Winterjacken in die Wäsche zu werfen oder den verkrusteten Schokoladenfleck auf dem Schulranzen abzuwischen. Muss ja nicht sofort sein, aber vielleicht wenigstens im laufenden Schuljahr.

Ich kenn die Schmuddelmama nicht. Es kann gut sein, dass es gute Gründe gibt, warum es ihr völlig egal ist, wie eben schmuddelig sie selbst und ihr Kind aussehen. Vielleicht ist es ihr auch nicht egal und sie schafft es einfach nicht, weil es ihr nicht gut geht und sie Hilfe bräuchte. Fast jeden morgen tut mir entweder das Mädchen leid, weil ihm immer noch niemand vor dem Verlassen des Hauses kurz die Mundwinkel abgewischt hat oder die Mama, die aus irgendeinem Grund aufgegeben hat und ihre Tochter Kettenrauchend in zwei Jahren noch nicht einmal an der Bushaltestelle angelächelt hat. Dann schäm ich mich kurz, weil mir jemand so unsypmathisch ist obwohl ich gar nichts über ihn weiß. Vielleicht lächelt sie zu Hause ja ganz viel und ist nur ein schrecklicher Morgenmuffel. Herr Mu meint, dass es genau so ist. Aber der, der Herr Mu, ist wahrscheinlich eh der einzige Mensch in Giesing, der nicht einmal insgeheim, irgendjemanden unsypmathisch findet und von jedem nur das Beste denkt.

22 Gedanken zu “Schmuddelig U-Bahn Gedanken

    1. Ja, vielleicht. Es ist ja schwierig, bis unmöglich von außen irgendetwas zu beurteilen. Eigentlich möchte ich das auch gar nicht. Aber ich glaube dieses Beurteilen macht man ganz automatisch.

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    1. Ja das stimmt.
      Ich hab versucht, meine Definition von schmuddelig, so zu beschreiben, dass deutlich wird, dass es nichts mit Armut zu tun hat. Wer keine zweite Jacke hat, muss die eine so lange tragen, wie es kalt ist. Gar keine Frage. In meiner Erzählung ist aber ein Mädchen, das ständig viele verschiedene Sachen trägt, die einfach sehr lieblos behandelt werden. Und das tut mir ein bisschen leid.

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  1. Aber sie bringt ihr Kind an die Bushaltestelle. Immerhin. GANZ gleichgültig wäre was anderes.
    Versuch doch mal, der Kleinen heimlich zuzulächeln. Vielleicht ist es das, was ihr beide morgens gut gebrauchen könnt.

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    1. Ja du hast recht.
      Die Kleine lächelt übrigens jeden super freundlich und fröhlich an und ich lächel natürlich zurück.
      Wahrscheinlich müsste ich einfach die Mutter auch mal Anlächeln und ein bisschen weniger interpretieren.

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  2. Liebe Mitzi! Aus deiner differenzierten Betrachtung habe ich jetzt gelernt, was schmuddelig ist. Da ich als Kind mal bei einer schmuddeligen Tante die Ferien verbringen musste, bin ich da wohl traumatisiert. Um mich herum muss es immer sauber sein. Das schmuddelige KInd deiner Beschreibung erinnert mich an die Peanuts-Figur Pig-Pen, die immer von einer Dreckwolke umgeben ist.

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    1. Die Peanuts Figuren sind großartig, lieber Jules. Ich hab sie viel zu lange nicht mehr gesehen.
      Bei mir ist es…naja, sauber schon. Ordentlich…kommt auf das Wetter an 😉

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  3. Liebe Mitzi, unter verschiedenen Assoziationen zu Deiner aufmerksamen und anamnetischen Schilderung klingt mir das Lied von Franz-Joseph Degenhardt im Ohr: „Spiel‘ nicht mit den Schmuddelkindern“. Schöne Grüße, Bernd

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  4. Bei der kindlichen Dreckaffinität stimme ich zu. Sogar aus vollem Herzen. Kinder, die nicht dreckaffin sind, mit denen stimmt was nicht. Meist werden sie spätestens als Jugendliche auffällig oder, was noch schlimmer ist, dann gleich als Erwachsene.
    Ich hab das schon mal wo geschildert. Zwei Knaben gingen zur Bushaltestelle. Sie waren in eine Unterhaltung vertieft, keine Ahnung, ob sie sich über Mathe oder den Film von gestern abend unterhielten. Geradeaus ging es, und es war nicht mehr weit, zur Haltestelle. Gleich neben der Straße war eine Absperrung und eine Minibaustelle, ein großer Haufen bestehend wie üblich aus Erde, Steinen und was halt so zum Vorschein kommt, wenn der Bagger eingreift war aufgeschüttet. Ohne ihre Unterhaltung über ein offenbar durchaus interessantes Thema zu unterbrechen bogen die beiden wie ein Mann, wie ein Gedanke ab und überstiegen den Dreckhaufen, sich weiter angeregt unterhaltend, kamen zurück auf den Gehweg und setzten ihren ganz normalen Schulweg fort.
    Es war vollkommen logisch. So muß das sein. „Wieso sind eure Schuhe schon wieder so schmutzig?“ „Keine Ahnung!“ – Eine ehrliche Antwort. Woher sollten sie das wissen? Sie hatten die Schuhe ja nicht mit Absicht verschmutzt. Sie waren nicht einmal mit Absicht auf den Dreckberg gestiegen, sondern weil er da war, wie jeder Bergsteiger verstehen wird! Es war vollkommen außerhalb ihres bewußten Denkens geschehen, es war einfach eine Notwendigkeit.

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    1. Eine interessante Beobachtung. Und eine schöne. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass es genau so sein muss. Was erlebt man denn, wenn man immer nur auf den geteerten und gekehrten Wegen bleibt? Nichts. Und gerade als Kind gibt es so viel zu entdecken. Wenn auch unterbewusst, wie in deinem Fall. Wenn es sonst nix bringt, dann schult es wahrscheinlich den Gelichgewichtssinn.

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      1. Ach, Beobachtungen könnte ich noch viele beisteuern. Auch Geschlechtsunterschiede, die erstaunlich sind. Und vermutlich eben doch angeboren. Wenn zwei Kinder Gleiches tun, wer ist dreckiger? Ja doch, der Junge. Ob es ums Tieftauchen im Sandkasten ging oder um das Herabrollen von Hängen…

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  5. Uh, ja, schmuddelig ist auch nicht gerade mein Lieblingszustand, schon gar nicht bei anderen. Mir wurde mal (privat) ein Teller vorgesetzt, da klebten noch eingetrocknete Fonduereste dran, und zwar gut sichtbar. Wäre es bei einem meiner Teller passiert, würde ich ich mich wundern und halt nochmals abwaschen, aber als Gast…

    An meine WG-Zeiten denke ich auch extrem ungern zurück. Die Sauberkeitsbegriffe differieren doch stark von Mensch zu Mensch. Vielleicht ekeln sich andere vor meinen staubigen Regalbrettern und ungeputzten Fenstern, aber von denen essen wir gewöhnlich nicht und anfassen muss sie auch niemand. Schmuddlige Körper, Kleider, Bestecke und Gläser sind aber wirklich eine Zumutung für andere. Bei sehr alten oder kranken Menschen kann ich noch verstehen, dass es dazu kommen kann, aber das trifft ja nicht auf alle Schmuddeligen zu.

    Und bei kettenrauchenden Menschen fällt mir Sympathie grundsätzlich schwer; entweder qualmen sie einen früher oder später an, was ich total rücksichtslos finde und mir nicht gefallen lasse, oder sie verschwinden dauernd für ein Lungenbrötchen, was bei mir reaktive Hektik und ein Gefühl unnötiger Ungemütlichkeit auslöst. Hier gibt’s ein wenig schmuddlige und kettenrauchende Nachbarn, da stinkt in 0,2 Sekunden das halbe Haus, wenn die ihre Tür öffnen.

    Ich denke nicht, dass man sich schämen muss, wenn einem jemand aus Gründen unsympathisch ist; man kann Leute nicht mögen und (für sich ganz persönlich) verurteilen, ohne sie gleich anzufeinden. Und Urteile lassen sich durchaus revidieren. 🤷🏻‍♀️

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    1. Den meisten Kommentaren nach zu schließen, ist es mir ganz gut gelungen meine Definition von schmuddelig zu beschreiben. Das mit den Tellern ist auch sowas. Geschirr ist schmuddelig, wenn es immer ein bisschen ölig ist oder Essensreste irgendwann normal sind.
      Das mit dem kalten Rauch oder auch mit dem warmen Rauch kann ich gut verstehen. Da sollte man andere Leute wirklich nicht ein qualmen. Vor allem an Orten, wo ein ausweichen nicht möglich ist wie zum Beispiel an der Bushaltestelle. Wobei, da sollte natürlich auch nicht, der Nichtraucher ausweichen müssen. 😉

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      1. Die Beschreibung der durchaus ein bisschen verschieblichen Grenze zwischen schmuddelig und versifft hast du wirklich elegant hinbekommen. Beim Lesen habe ich innerlich genickt – und dann meine Haarbürste mal genauer angeschaut. Sie dient nur als Kammhalter und war darum etwas staubig. Hab sie gewaschen, bevor sie schmuddelig werden konnte… 🤭

        Danke für eine weitere schöne Mitzi-Geschichte!

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  6. Meine wehren sich gegen Putzversuche mit abblätterndem Lack und Holz, was auch mal zu blutenden Fingern führt. Hätte ich all die Jahre regelmässig geputzt, gäb’s längst keine Rahmen mehr, nur noch freischwebendes Glas…

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    1. Ein gutes Argument für dreckige Fenster. Bei mir sind die Fenster wirklich eine Schwachstelle. Die könnte ich eindeutig ein bisschen öfter putzen. Aber ich bin ehrlich, so wichtig ist es mir nicht. Sobald es mich selber nervt, mache ich es ja eh.

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