Am 31. Dezember wird Franziska 90 Jahre alt. An diesem Tag werde ich ihr, sofern es sein soll, einen Kuchen vorbeibringen und mit ihr gemeinsam ein Gläschen Sekt trinken. 90 Jahre sind ein stolzes Alter und ein Grund zu feiern. Vielleicht werde ich Franziska dieses Jahr Silvester aber auch an einem anderen Ort besuchen müssen. Auch das wäre in Ordnung. Nur nicht mit ihr anzustoßen zu können, das wäre traurig.
Franziska hatte ein aufregendes Leben. Eines, an dessen Geschichte ich mich erinnere, weil sie in Teilen gar nicht so weit von meiner eigenen entfernt ist. Sie ist in Hamburg geboren, hat vier Geschwister, die Kriegsjahre als Kind miterlebt und eine klare Erinnerung daran. Kurz nach dem Krieg zog Franziskas Mutter mit ihr und den Geschwistern nach Bayern. Der Vater kam erst einige Jahre später, als er aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Am Ammersee lernte Franziska dann ihren Mann kennen und zog mit ihm nach Griechenland, als er beruflich umziehen musste. Es hat ihr gefallen, sagt Franziska. Auch wenn ihr die Sprache sehr schwer gefallen ist und sie nie wirklich gelernt hat sie zu sprechen. Aber an einiges kann sie sich noch heute erinnern, behauptet sie. Das Land war schöner, als die Ehe mit ihrem Mann und deshalb kam sie nach einigen Jahren zurück nach Bayern. Franziska erzählte mir ihre Lebensgeschichte mit sehr viel schöneren und spannenderen Worten. Wir trafen uns oft im Waschkeller und weil die Maschinen in unserem Haus oft besetzt sind, hatten wir mehr als einmal Gelegenheit, uns länger zu unterhalten. Sie hätte das, was ich gerade am Meer sitzend, auf dem Handy tippe, viel schöner und interessanter berichtet. So ein Leben erzählt sich schließlich nicht in wenigen Worten und es ist am interessantesten, wenn es der erzählt, der es erlebt hat. Oder die, die dabei waren. In Franziskas Fall dürfte es niemanden mehr geben, der sich an ihr Leben erinnert. Was sie dann gemacht hat, das weiß ich nicht. Wir hätten noch einige Waschgänge mehr gebraucht – schließlich, ist Franziskas Leben schon ein langes. Von anderen Nachbarn weiß ich aber, dass sie die erste Mieterin war, die in dieses Haus einzog, als es Ende der Sechzigerjahre gebaut wurde. Franziska wohnt noch heute in der kleinen Einzimmerwohnung. Es ist ein bisschen frech, dass ich eine so gestandene und respektable Frau bei dem Vornamen nenne, aber Franziska und ich haben uns in den letzten Monaten näher kennen gelernt. Ich sie. Sie brauchte immer einen Moment, um sich an mich zu erinnern, wenn wir uns im Treppenhaus treffen. Selbst wenn das erst einige Stunden her ist.
Nein, die Toilette kann nicht überlaufen, versichere ich Franziska und setze mich neben sie auf den Rand der Badewanne. Das Wasser der Toilettenspülung rinnt und ich weiß nicht, was ich noch versuchen könnte. Wir brauchen einen Handwerker, erkläre ich ihr und versichere zum bestimmt fünften Mal, dass die Toilette aber nicht überlaufen kann. Eigentlich wollte ich ihr nur die Einkäufe vorbeibringen, von denen sie, wie so oft nicht wusste, dass sie sie überhaupt braucht. Franziska Kühlschrank ist leer, wenn er nicht von mir oder einem anderen Nachbarn gefüllt wird. Ihre EC Karte ist verschwunden und sie weiß nicht bei welcher Bank sie ist. Franziska braucht Hilfe, aber die Mühlen der Behörden mahlen langsam, wenn es niemanden gibt, der Vollmachten hat oder verwandt ist. Nein, da kann nichts überlaufen, sage ich und lächle das alte schöne Gesicht an, während ich überlege, wie wir das machen werden. Franziska und ich. Das mit dem Handwerker bekommen wir hin. Aber der Rest, der macht mir Sorgen. Ein bisschen viele Sorgen, erkläre ich ihr, als sie mich fragend anschaut, und nicke, als sie auf die Toilette deutet. Ja, die auch. Und wieder, bevor sie fragen kann, nein, sie kann nicht überlaufen das passt schon. Das Bad ist winzig und wir sitzen ganz nah beieinander. Und dann, weil es gerade nichts anderes zu sagen gibt, erzähl ich ihr von anderen Dingen, die mir gerade Sorgen machen. Ich soll mich nicht wahnsinnig machen, sagt Franziska. Wie so oft, hat sie kurze, aber erstaunlich klare Momente, wenn man ihr etwas erzählt und sie nur zuhört. Ihre eigene Welt wird ihr immer fremder, aber ab und zu begreift sie die ihres gegenüber noch sehr gut. Sie streicht mir über den Unterarm und muntert mich auf. Gerade will ich ihr noch etwas erzählen, da wandert ihr Blick zu der Toilette und sie sieht mich ängstlich an. Das kann nicht überlaufen, oder? Ich schüttelte den Kopf. Nein, ganz sicher nicht. Meine Sorgen hat Franziska schon wieder vergessen. Das ist in Ordnung, denke ich, als ich aufstehe, und hoffe, dass sie die Toilettenspülung auch vergisst und ins Bett geht.
Am 31. Dezember wird Franziska 90 alt. Ich hoffe, dass wir ihre Nachbarn, es deutlich vorher schaffen, dass sie die Hilfe bekommt, die sie braucht. Ein Betreuer, der jeden Tag nach ihr sieht und eine funktionierende EC Karte, damit sie, die Würde zurück erhält, sich spontan selbst das zu kaufen, worauf sie Lust hat. Wenn nötig, auch ein Platz in einem Alters- oder Pflegeheim.
Bis Anfang nächster Woche schiebe ich meine Sorgen zur Seite. Die Nachbarn haben sie übernommen. Ganz aus dem Kopf geht mir Franziska aber nicht. Heute auf dem Markt habe ich schon mal italienische Salami gekauft. Für Franziska, die stolz darauf ist, mit fast 90 noch viele eigene Zähne zu haben. Und für Franziska, die nicht einmal Toilettenpapier zu Hause hätte, wenn sie nicht in einem Haus leben würde, wo Nachbarn sich kümmern. Franziska, die komplett durch das Raster gefallen ist, von dem man meinen sollte, dass es in einer Stadt wie München funktioniert.
Am 31. Dezember werden wir anstoßen und bis dahin bekommen wir schon alles hin. Auch die Toilettenspülung.
Ich wünsche Dir, Euch und Franziska noch vie
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Danke Josch. LIebe Grüße
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Schlimm! Hoffentlich gibt es bald eine Lösung. Ein dementer Mensch allein in einer Wohnung ist für alle Beteiligten gefährlich
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Jetzt ist alles recht schnell gegangen, als ich in Italien war. Ich weiß noch nicht genau was, aber es tut sich etwas und sie bekommt die Hilfe die sie braucht.
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Das freut mich. Nachbarschaftshilfe ist gut und wichtig, aber auf die Dauer können berufstätige Menschen keine 24 Stunden Betreuung machen
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Das und ehrlich gesagt auch Schiss etwas falsch zu machen.
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Ja klar, das verstehe ich gut
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Schön wie ihr euch allesamt kümmert, liebe Mitzi und traurig wie Franziska durchs Raster fällt und sich bürokratisch alles zieht wie Kaugummi. Zum Glück hat sie Menschen, die hinschauen. In einer so großen Stadt wie München ist Franziskas Segen eine so wertvolle Hausgemeinschaft wie ihr es seid.
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Wie Kaugummi ziehen, das trifft es sehr gut. Es gibt natürlich entsprechende Stellen, aber bis die in die Gänge kommen, solange noch nichts passiert ist, scheint manchmal zu dauern.
Aber wir überbrücken die Zeit und ich hab unsere alte Dame lieb gewonnen, dass sie mir auch einiges „zurück gibt“.
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Das kann ich gut nachvollziehen! Wie schön, dass ihr als Hausgemeinschaft da seid. Und wie schön, dass es ein Geben und Nehmen ist. 😃
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Ganz viel Anerkennung für eure tolle Hausgemeinschaft! Hoffentlich finden sich Lösungen, mit denen die alte Dame ihren Geburtstag einigermassen frei von realen Sorgen und Nöten erleben kann. Demenz ist schon zum Fürchten genug.
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Über unsere Hausgemeinschaft bin ich auch sehr froh. Alleine schon das Wissen, dass man wenn etwas sein sollte, an mehr als einer Türe läuten könnte.
Auf den Geburtstag hoffe ich auch. Und vorher, dass sie es bisdahin einermaßen gut übersteht.
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Alt werden ist nix für Feiglinge, hab ich mal irgendwo gelesen. Es ist auf jeden Fall eine mehr oder minder grosse Herausforderung, gerade wenn der Kopf nicht mehr so kann, wie er sollte. Oder auch der Körper.
Finde es total toll von euch, dass ihr euch kümmert! Ein brauchbares Sozialsystem sollte wirklich keine Löcher zum Durchrutschen aufweisen, doch leider ist es immer nur so gut, wie die Verantwortlichen und Machthabenden es zulassen.
Alles Gute euch und dir einen grossen virtuellen Blumenstrauss dafür, dass du ganz real für sie da bist.
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Ja, das ist wirklich nix für Feiglinge. Aber etwas, das uns alle erwartet – ganz tröstlich, denn mit etwas Glück bekommen wir diese Lebensphase auch gut hin. Ich bin hoffnungsloser Optimist 😉
Mittlerweile greift das System, es hat sich jetzt doch etwas getan und ich hoffe weiter, dass wir an Sylvester – wo auch immer – anstoßen werden.
Danke für die Blumen, aber eigentlich haben wir nicht wirklich viel geleistet. Vielleicht die Augen etwas mehr offen gehalten – das ist in unserem Haus tatsächlich ein großer Vorteil. Und Nachteil…. 😉 ab und an.
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Schön,
wenn man Nachbarn hat,
die auch hören können und zudem Augen im Kopf haben.
Wenn sonst schon keine Verwandten da sind.
Die Nachbarn meiner Eltern kümmern sich auch ganz toll um meine Eltern.
Vieles geht nicht mehr so wie es sollte.
Das wissen die 2 auch,
aber alte Bäume verpflanzt man nicht und uns mir gibt man das Gefühl wie sind da nicht sehr erwünscht und da wo ich nicht erwünscht bin gehe oder fahre ich auch nicht hin.
Dann helfen da halt die Nachbarn.
Ihr werdet schon eine Lösung für die alte Dame finden.
💭
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Schön, dass deine Eltern Nachbarn haben, die helfen. Oft reicht es ja schon, wenn jemand da ist, der es merken würde, wenn Hilfe nötig ist. Jemand wo man im Notfall läuten kann oder um Hilfe bitten kann. Es tut mir leid, dass du das Gefühl hast nicht erwünscht zu sein. Das ist immer sehr unschön. Liebe Grüße
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Ganz ehrlich,
ich sagte vor Jahren mal zu meiner verstorbenen Schwester,
je weiter die Eltern weg sind,
desto besser gehts mir.
Da war und da ist viel wahres dran.
Ich rufe regelmäßig an und meine andere Schwester auch.
Ich kann damit super leben,
hat viel zu lange gedauert zu verstehen dass mein Gefühl immer richtiger war als das was man mir erzählte und zeigte.
Ja, der Nachbar mäht den Rasen.
Die Tochter des Nachbarn putzt bei meinen Eltern das Haus.
Ich könnte und wollte so im Alter nicht leben,
aber jeder wie Er will und kann.
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So sollten Miets-, so sollten Mehrgenerationenhäuser funktionieren. Dann könnten mehr alte oder behinderte Menschen in ihren Wohnungen bleiben. Aber freilich, da kommt immer noch mehr dazu und es wird anstrengend.
Wie wird es uns ergehen? Zum Glück konnte die letzte Generation, ich spreche natürlich nur von der Familie, zu Hause mit Unterstützung von Pflegediensten wohnen bleiben. Trotz der Einschränkungen.
Und ja, sie waren die letzten, die von damals erzählen konnten. Sie haben es zu wenig getan, aber die jetzt Jungen hätten es ohnehin nicht mehr gehört. Sie hören nicht, sie lernen nicht, sie glauben, es besser zu wissen und dass draufschlagen wieder in Mode kommen darf, wieder etwas ist, das man tun will und darf.
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In den letzten Tagen hat sich einiges getan. Und so schön (und für uns auch völlig selbstverständlich) es ist, sich im Haus zu helfen, war das auch nötig. Arztbesuche, Banken usw für all das braucht es einen Betreuer und das läuft jetzt.
Grundsätzlich gefällt mir der Gedanke aber auch sehr, dass es alten Menschen ermöglicht wird, so lange wie möglich (mit Hilfe) zu Hause zu bleiben, wenn sie das möchten.
Und das Erzählen…ja, ich habe auch das Gefühl, dass es ein großes Problem ist, wenn das „Damals“ in weitere Ferne rückt, weil man es nicht mehr von jemanden erzählt bekommt, der es erlebt hat.
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So schön das auch ist, wenn alle helfen – genau für solche Fälle gibt es den sozialen Dienst. Und die sind eigentlich recht schnell, einfach, weil ihr Job das erfordert.
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Da hast du natürlich recht. Und uns allen wäre es viel lieber gewesen, wenn hier schnell jemand geholfen hätte, der auch Ahnung hat.
Manchmal aber schneint der Wurm drin zu sein und es hat sich (bis vor zwei Tagen) so gut wie nichts getan. Vielleicht auch, weil sie in guten Momenten glaubhaft versichert hat, dass sie keine Hilfe braucht. Aber jetzt geht es vorwärts, was mich sehr erleichtert.
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So schön, wenn sich andere kümmern, wenn du dich kümmerst – aber es ist für manche Leute wirklich sehr schwer, unbeschadet alt zu werden.
Mit der Toilette hätte man vielleicht mit einem erreichbaren Haupthahn regeln können – aber das hätte sie bestimmt vergessen, wenn sie vor anders Wasser braucht. – Ich hoffe, dass sie gut untergebracht wird.
Liebe Grüße zu dir
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Ja, wie Eva schrieb….alt werden ist nix für Feiglinge.
Haupthahn ist eine gute Idee, aber der war so fest, dass ich ihn nicht bewegen konnte und wahrscheinlich hätte sie ihn dann vergessen, wie du auch schreibst.
Das wird schon alles werden hier.
Ganz liebe Grüße zu dir :-*
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Wenn ich mir vorstelle, dass jetzt wirklich der weg ist, der mir sonst in JEDER und ALLEN Situationen geholfen hat – der kann es nicht, der braucht so viel Hilfe selbst und hat – außer Regina – von der Verwandtschaft fast nur alte Leute um sich, aber einen superguten Freundeskreis, die können auch viel bewirken.
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Das ist wirklich schlimm, Clara. Niemand kann Ersatz sein, aber deine Freunde stützen wenigstens etwas. 😘
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du meinst sicher „seine“ Freunde – einige kenne ich wirklich noch aus DDR-Zeiten, als er noch bei mir wohnte
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Danke Mitzi,
für Deine Post und Sorge für die Nachbarin.
Für ein Anstoßen und Stück Kuchen bräuchte es vielleicht nicht unbedingt das Warten auf den Geburtstags- und Silvesterabend. Passt es eventuell bereits an einem dieser Sommertage?
Alle guten Wünsche der Nachbarin, Dir und allen Beteiligten
mit herzlichen Grüßen, Bernd
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