Isar?

Isar? schreibt einer, den ich fast schon mein ganzes Leben lang kenne. Unbedingt, antworte ich und schalte die Kaffeemaschiene aus. Wenn man aus einem einzelnen Wort mit Satzzeichen genauso viel Information wie aus einer drei Minuten Sprachnachricht ziehen kann, dann kennt man sich nicht nur lange, sondern auch gut. „Isar?“ ist gleichbedeutend mit: „Meine Neujahrsvorsätze haben auch dieses Jahr nichts gebracht. Ich habe in diesem noch jungen Jahr jeglichen Schrei meines Körpers nach Bewegung so konsequent ignoriert, dass mir mein Rücken jetzt so weh tut, dass ich mich gezwungen sehe, ihm kurzfristig entgegen zu kommen. Alleine habe ich keine Lust und kenne dich gut genug, um zu wissen, dass es dich bei Sonnenschein eh raustreibt. Ich schreibe dir in letzter Zeit so selten, dass ein einziges Wort reichen wird und ich mir sämtliche Floskeln sparen kann, weil du mich sicher gerne sehen willst.“ Aus meinem „Unbedingt“ kann er im Gegenzug herauslesen, dass ich es so schäbig finde mir nur ein Wort und ein Satzzeichen aufs Display zu werfen, dass ich mir das eigentlich angebrachte Satzzeichen in Form eines Ausrufezeichens spare. Wir kennen uns vielleicht ein bisschen zu gut und eine halbe Stunde später, als er vor meiner Türe steht, sage ich ihm, dass wir uns bei noch weniger Worten aufs Gedankenlesen verlegen müssen.

Er sagt ok, und wir gehen an die Isar. Ok ist ein Wort mit nur zwei Buchstaben. Fügt man einem so kurzem Wort für die nächste Viertelstunde kein weiteres hinzu, sollte man sich besser in Gesellschaft einer wirklich guten Freundin befinden, um nicht als mundfaul und verstockt zu gelten. Einer Freundin, die nicht unbedingt Worte braucht, weil der Weg zur Isar auch so genug zu erzählen hat. Wir kommen an der Wohnung vorbei, in der ich aufgewachsen bin und schauen beide automatisch zum Küchenfenster, als würden wir erwarten, dort meine Mutter zu sehen. Erinnern uns wortlos an die Kneipe gegenüber in der wir vor einem halben Leben, im Sommer Eis gekauft haben und wundern uns über einen Zebrastreifen, den es noch nicht gab, als wir todesmutig die große Straße überquerten, die heute eigentlich recht klein und ruhig ist. Erreichen den Park und gehen den kleinen Trampelpfad um den Spielplatz herum um uns zu versichern, dass der kleine Weiher dahinter noch immer da ist. Für so etwas braucht es keine Worte. Wir machen das immer, wenn wir hier sind. Ohne dass es uns sonderlich interessiert, sonder vermutlich nur, weil wir es schon immer so gemacht haben. Alles gut, frage ich ihn und er antwortet mit auf meine Zwei-Wort-Frage mit einem Wort. Selbstverständlich. Also nicht. Wir gehen weiter. An den Tischtennisplatten vorbei. In einem Leben, das schon lange vorbei ist, stellten wir dort fest, dass Tischtennisbälle grüne Flammen schlagen, wenn man sie anzündet. Die Platten sind noch dieselben wie damals.

Auch die Buchen. Warum auch nicht. Buchen bleiben für gewöhnlich dort wo man sie das letzte Mal gesehen hat. Nicht ganz so gewöhnlich ist es, dass man unter ihnen auch dreißig Jahre später noch weiß, welche Sommernachmittage man unter ihnen verbracht hat. Wir setzen uns auf eine Bank in der Sonne. Die Bänke hier haben vielleicht andere Bretter bekommen – aber sie sind noch hier. Genauso wie die Grillplätze. Die Isarbrücken eh und die Kiesel darunter sind genauso warm, wie sie es in der Sonne immer waren. Der Kiosk steht dort wo er schon immer stand und wir setzen uns ans Wasser. Er hat hellbraune Augen und im rechten einen dunkelbraunen Fleck. Schon immer. Ich bitte ihn, nachzusehen ob in meinen Grünen noch der goldene Punkt ist. Er schüttelt den Kopf. Schlammbraun und nicht einer sondern zwei Punkte. Schon immer, sagt er und dass sich für seinen Geschmack gerade zu viele Dinge zu schnell ändern und verschwinden. Diesmal antworte ich mit nur einem Wort: Nein.

Nichts ändert sich. Weder unsere Ein-Wort-Gespräche, wenn es ihm nicht gut geht, noch unser liebster Ort, wenn einem von uns die Worte fehlen. „Isar?“ bedeutet seit über dreißig Jahren nämlich auch, dass gerade alles aus dem Ruder läuft und einer von uns dringend etwas vertrautes braucht.

23 Gedanken zu “Isar?

  1. Liebe Mitzi, dein Text ist mal wieder so eine gelungene Mischung aus Melancholie und Geborgenheit, und natürlich mit exakt der richtigen Anzahl von Wörtern!

    Wie tröstlich, wenn man auf langjährige Freundschaft auch wirklich vertrauen kann.
    Bei dem Satz mit den Buchen musste ich lachen, das mit den Tischtennisbällen war mir neu (und nun hoffe ich beinahe darauf, dass ich dieses Wissen irgendwann einmal sinnvoll anwenden kann) und die Diskussion über die Augenfarbe – na, wenn du sagst, sie sind grün, dann sind sie grün! Ich zum Beispiel habe Hazel Eyes und muss das den Leuten auch immer erst klarmachen, die kommen einfach nicht von alleine drauf! Aber man sieht es halt nur richtig gut in der prallen Sonne, und in die stelle ich mich nicht so oft…

    Ich hoffe, der eher averbale Ausflug hat euch beiden gutgetan und dein Nein hat deinem Freund wieder Zuversicht gegeben. Mögen euch noch mindestens dreissig weitere Jahre Ein-Wort-Gespräche und Isarzuflucht gegeben sein, wann immer eine:r von euch es braucht.

    Sonnige Grüsse aus der Schweiz
    Eva

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    1. Liebe Eva, ich glaube eine Situation in der es sinnvoll ist, Tischtennisbälle anzuzünden, gibt es nicht. Du kannst es aber einfach so probieren und mir dann sagen, ob sie noch immer grünlich brennen. Vorsichtshalber die Dämpfe nicht einatmen!
      Der Ausflug hat uns gut getan. Es hat schon etwas nach Frühling gerochen. Ein wunderschöner Duft, der eigentlich alles gleich ein bisschen besser macht.
      Danke dir für deine lieben Worte
      Viele Grüße aus München
      Mitzi

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      1. Ach, ich mag eigentlich keine armen unschuldigen kleinen Tischtennisbälle anzünden, aber vielleicht lässt sich mit dieser speziellen Information mal ein stockender Smalltalk beleben? Falls ich je in die Situation komme, werde ich dir davon berichten.
        Frühlingsluft riecht ja auch meist viel besser! 🐽🌷

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  2. Es ist schön, wenn man seine Orte wiederfindet, sich verorten kann. Ich, für meinen Teil, ich kenne München ein wenig und Esslingen, Ravensburg und Coburg und andere Städte in Süddeutschland, etwa Kempten, und anderswo, etwa ganz oben an der Küste. Zu oft umgezogen, zu oft gegangen, (worden) befvor sich so recht ein vertrautes, ein Heimatgefühl einstellen wollte. Und nicht nur die Orte wurden verlassen.
    Und so fehlt mir das. Ich nehme den Ort, komme ich wieder hin, nicht als vertraut wahr, zu Vieles hat sich verändert. Schöner, besser ist es sicherlich, wenn man der Veränderung zusehen kann. Sieht, wie sich die Augen verändern und die Falten darum und Straßen udn Plätze, wenn auch womöglich mit Wehmut. Wenn es aber einen Ort gibt, der vertraut erscheint und einen Begleiter, so sind diese wertzuschätzen und man kann sie gar nciht oft genug für den Zweck, das Vertraute zu beleben, nutzen.

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    1. Bei so vielen Orten ist es sicher schwieriger dieses Isargefühl zu haben. Die Isar und wir haben gemeinsam über dreißig Jahre auf dem Buckel und jeder von uns noch ein Jahrzehnt dazu. Ich bin gespannt ob ich mit siebzig oder achtzig noch immer dort entlang laufe. Wahrscheinlich ja.
      Wo ich dieses Heimatgefühl wohl gefunden hätte, wenn es mich in viele verschiedene Orte getragen hätte. Schwer zu sagen. Tief im Herzen bin ich ein rechter Angsthase und bewundere Menschen, die viel öfter die Orte wechselten als ich. Im besten Fall natürlich freiwillig und von Neugier getrieben.

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      1. Mei, so ganz freiwillig war’s net. Zumindest als Kind und auch später waren gewisse Zwänge vorhanden. Aber deshalb waren die Münchner Jahre und die Isar doch prägend, allerdings kenn ich sie und die künstlich angelegten Nebennahnen des Wassers etwas anders. Bist du da schon mit dem Kajak durch? Ich schon. Ist ein paar Jahre her…

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      2. Stimmt, die Isar hat sich ziemlich verändert. Zu ihrem Vorteil. An vielen Stellen fließt sie jetzt natürlicher und ist am Flaucher aber noch genauso wie immer. Das ist mein liebster, schnell zu erreichender Platz.
        Kajaks sehe ich oft, bin aber noch nie in einem gewesen. Ich hätte auch ziemlichen Respekt.

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