Langsamkeit ist etwas schönes. Ich mag sie sehr. Schon immer und schon lange bevor sie als Entschleunigung zu einer Entschuldigung für Prokrastination wurde. Dinge langsam zu erledigen oder meinetwegen eben auch den Alltag zu entschleunigen, tut gut. Letzte Woche erst habe ich einen Sack Walnüsse mit einer alten Zahnbürste geputzt. Freilich keine im Supermarkt gekaufte, sondern die von zu Hause, die unter dem Baum gesammelt und erst noch ein paar Wochen getrocknet werden müssen. Fast eine Stunde stand ich in der Küche und während der Radio lief, nahm ich eine nach der anderen in die Hand, wischte regennasses Gras ab und legte sie auf Zeitungspapier. Meine Familie hätte mich wahrscheinlich für verrückt erklärt. Aber die haben auch mehr als einen Baum und mehr als eine Obst- und Gemüsesorte um die sie sich kümmern müssen. Da muss es schneller gehen. Bei mir aber war die Nuss-Stunde zugleich der Abschluss eines unangenehm stressigen Arbeitstages gewesen. Es hat gedauert, aber die Stunde war keinesfalls verloren. Sie war ruhig, entspannend und am Ende waren ganze Regalbretter mit Nüssen bestückt, die mich durch den Winter begleiten werden. Auch meine Wäsche sortiere ich gerne langsam. Nicht um Zeit zu schinden, sondern weil das Zusammenlegen ein so automatischer Handgriff ist, dass es sich dabei wunderbar nachdenken lässt. Das kann ich übrigens auch besonders gut, wenn ich anderen bei der Arbeit zusehe. Schon als Kind habe ich es geliebt, wenn einer meiner Verwandten Holz hackte. Eingehüllt in einer harzige Duftwolke, das gleichmäßige Geräusch der Axt im Ohr, saß ich stundenlang ein paar Meter daneben und träumte mich durch den Tag.
Am Freitag als ich mich in einer ähnlich meditativen Stimmung befand, roch es nach Kaffee und das einzige Geräusch, das ich hörte, war das gleichmäßige Klacken einer Tastatur. So gleichmäßig, dass ich fast eingeschlafen wäre, hätte mich nicht einer mit dem Ellbogen angestoßen. Verarscht der uns, fragte mich mein Kollege, zu dem der Ellbogen gehörte und mit dem ich mir an diesem Tag mein Homeoffice-Wohnzimmer teilte. Seit geraumer Zeit standen wir beide vor meinem Rechner auf dem der Bildschirm unseres Werkstudenten geteilt wurde. Leise klackte eine Tastatur am anderen Ende der Stadt und Zahlen und Zeichen füllen langsam – wirklich sehr langsam – eine Zelle in einer Exceltabelle. Fast ebenso langsam neigen sich unsere Köpfe zur Seite, was vermutlich an der einschläfernden Wirkung der Geräuschkulisse und dem zeitlupenartigem Erscheinen neuer Zahlen lag. Ich glaube, er will eine Summe ziehen, murmelte ich und sah aus dem Augenwinkel ein Nicken. Ganz klar…eine Summe sollte es werden, denn auf dem Bildschirm stand: „M171+M172+M173+“ (hier nur ein Auszug für Sie). Das kann man so natürlich machen. Synchron verschränken mein Kollege und ich die Arme vor der Brust. Bei „M189“ sahen wir uns an. Und wenn er es ernst meint? Müssten wir ihm dann sagen, dass es bis zu – ein grob geschätzter Wert – „M4251“ noch ein weiter weg war? Bei „M201“ überlegten wir noch immer und vertagten die Entscheidung um etwa eine halbe Stunde in der wir einen Espresso tranken. Unser Werkstudent ist im fünften Semester und studiert VWL, dass wissen wir, seit wir uns, die Kaffeetassen in der Hand, bei einer anderen Kollegin erkundigt hatten. Mein Studium liegt lange zurück, aber ich glaube mich zu erinnern, dass schon damals rudimentäre Excelkenntnisse vorausgesetzt wurden. Der Kollege in der Küche hat nicht studiert, behauptet aber das ein durchschnittlich intelligenter junger Mensch unmöglich eine Zahlenspalte in einer Tabelle mittels einzelnem eintippen in einer Formel addieren kann. Wieder vor dem Rechner stehend – dort wird gerade „M421“ getippt – kontrolliere ich, ob das Mikrofon gemutet ist, bevor ich mich und meinen Kollegen leise frage, ob unser Student vielleicht überdurchschnittlich dämlich ist. Der Kollege schüttelt den Kopf. Nein, der verarscht uns.
Nach einer weiteren halben Stunde glaube ich auch ich das. Nachdem ich ihn anrief und vorsichtig – falls er sich wirklich nur blöd anstellte – vorschlug, die Spalte doch im gesamten zu markieren und das Ergebnis binnen Sekunden zu haben, erklärte er mir warum das nicht geht. Er sei ja auch im Homeoffice und würde gerne mit der Maus die Spalte markieren, aber die Mausbatterie hätte den Geist aufgegeben. Ok. Wenn sich einer im fünften Semester, oder wahlweise im fünfundzwanzigsten Lebensjahr nicht bei einer leeren Batterie zu helfen weiß, dann ist alles zu spät. Für so einen kann man nur hoffen, dass er uns verarscht. Sonst steht er vor einem harten Berufs- oder Leben im Allgemeinen. Ich tippe eine letzte Mail für diesen Tag, fahre den Rechner runter und bereite mich gedanklich auf das Wochenende vor. Eine halbe Stunde später verkündet mein Kollege, dass unser Student ihm die fertig bearbeitete Liste gemailt hat. Ich lehne mich zufrieden zurück. Er ist wirklich doof, der Student. Sonst hätte er seinen Arbeitsvertrag gelesen und nicht mir und meiner Mail geglaubt. Sie lautete: „Lass Dir ruhig Zeit. Gut Ding will Weile haben. Du wirst ja nicht nach Arbeitsstunden, sondern nach Tagesergebnissen bezahlt. Lass Dich nicht hetzen.“
Tagesergebnisse….alleine das Wort hätte ihn stutzig machen müssen. Ich mache jetzt ein Hörbuch an und staube dann meine Bücher ab. Eines nach dem anderen und in aller Ruhe. Entschleunigung – ohne Bezahlung ist das völlig ok.
Danke Mitzi,
für Deinen Beitrag zur digitalen Arbeitswelt.
Im Büro hätte sich vielleicht eine zügigere Lösung finden können – sei es anleitend oder gerätemäßig. Das Home Office kann isolieren, wenn nicht, wie Du es beispielhaft vorlebst, geteilt werden.
Erstmal sei die Prokrastination gewürdigt, und zum Zweiten Deine geduldige E-Mail-Reaktion.
Seit Wochen prokrastiniere ich einen Text über die digitalen Zumutungen.
Bis dahin vermisse ich Deine ÖPNV-Nachrichten, die Du durch Home Office News zu ersetzen weißt.
Und Nüsse sammeln, pflegen, trocknen und knacken.
Gute Herbstwünsche teilt
Bernd
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Lieber Bernd, auch ich vermisse meine Erzählungen über den öffentlichen Nahverkehr. Leider wiederholen sich im Moment die Erlebnisse komplett und ich habe das Gefühl, fast alles schon darüber geschrieben zu haben. Bei der letzten Lesung allerdings hat ein lieber Autoren Kollege etwas beigesteuert. Das werde ich teilen. Die Nachteile des daheim arbeiten sind vielfältig. Im vorliegenden Fall stellt sich einer vielleicht mit Absicht etwas doof, aber bei echten kleinen Problemen fehlt es auch mir, einfach schnell in das neben Büro gehen zu können. Herzliche Grüße
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Hoffentlich erkältet sich der junge Mann nicht. Mangels Tempotuch lässt er seine Nase vermutlich tagelang in die Tastatur tropfen.
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😂 Ja, das wäre möglich.
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Lieber Walnüsse, Ernte einfahren, als Exceltabellen…
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Auf jeden Fall!
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